03 - Easy Rider
Der Regen fiel in Strömen auf sie herab, nun konnten sie unmöglich weiter, und das mitten auf offener Strecke.
Die einzige Möglichkeit, sich unterzustellen, war das Bushäuschen aus Holz. Aber ob das wirklich so eine gute Idee war? Ein Bushäuschen war genauso wenig ein Faradayscher Käfig wie ein Unterstand für Golfer oder eine japanische Enduro. Im Gewitter wären sie den Blitzen schutzlos ausgeliefert...
„Vielleicht fährt dich ja unser Easy Rider!" hatte David am Nachmittag gegrölt, als sie festgestellt hatte, dass sie nochmals in die Stadt musste.
Easy Rider? Alex hatte diese Bemerkung, im Gegensatz zu Julian nicht besonders lustig gefunden. Schließlich fuhr er weder eine Harley noch eine Indian, sondern ein japanisches Modell. Sayonara, liebe Leute: ein Spitzenprodukt aus dem Land der aufgehenden Sonne... Sonne? Während ihres Herumalberns am See, kurz nach ihrer Rückkehr, hatte keiner der sechs – Laura hielt sich in der Hütte auf - mitbekommen, dass diese inzwischen verschwunden und schwefelgelben Wolkentürmen mit Rändern in Anthrazit gewichen war. Lucy schlüpfte derweil in Jeans und Ringelshirt, nachdem ihr beim Baden im See doch etwas frisch geworden war. Sie öffnete ihren Rucksack und bekam einen Schreck: kein Ersatzpaar!
Anscheinend hatte sie beim Packen nicht nur die Luftpumpe vergessen. Mit einem Mal erinnerte sie sich wieder, wo sie das zweite Paar Schuhe stehengelassen hatte. Dann lief sie eben für den Rest des Wochenendes barfuß oder in Flip Flops herum. Leider falsch gedacht – Tom hatte nämlich Pläne für den Abend: eine Nachtwanderung. Laura würde nicht begeistert sein. Im Dunkeln, nur mit Taschenlampen ausgerüstet, durch den Wald und zu den Felsen, die wie der Schicksalsberg am Rande einer mondbeschienenen Lichtung aufragten? Wirklich, ein romantischer Platz für ein Mitternachtspicknick. Für ein verliebtes Paar vielleicht, aber nicht, wenn man Typen wie David und Julian im Schlepptau hatte. Wirklich, eine tolle Gesellschaft! Aber er wollte ja unbedingt vor seiner Liebsten den Helden herauskehren, falls sie im Wald Angst bekam. Andy sollte die Rolle des Beschützers für die kleine Schwester spielen? Höchst unwahrscheinlich, wenn der lieber mit David und Julian abhing. Wie gesagt, eine tolle Gesellschaft.
Lucy hätte den Abend lieber in der Hütte verbracht und die anderen alleine losziehen lassen, aber Tom war anderer Ansicht: Lucy musste mit, ob sie wollte oder nicht. Aber ohne Schuhe? Der Laden in der Stadt hatte noch geöffnet. Jemand würde sie fahren müssen, denn Lucy hatte noch keinen Führerschein, und Laura ihren nur auf Probe. Begleitetes Fahren, von einem Elternteil auf dem Beifahrersitz: Ihr Freund zählte als Begleitperson nicht, auch wenn er schon volljährig war. Und der einzige, der bisher noch nichts getrunken hatte, war Alex. Leider galt seine Fahrerlaubnis nur für Motorräder.
„Vielleicht fährt dich ja unser Easy Rider!" Was für eine Flachpfeife! So langsam fragte sich Alex, was er hier eigentlich tat und warum Andy ihn überhaupt eingeladen hatte. Dass er den Babysitter für Toms kleine Schwester spielen sollte, war bestimmt nicht geplant gewesen. Oder hatte Andy gehofft, der Peinlichkeit, von dem Mädchen angehimmelt zu werden, mit dieser Aktion entkommen zu können? Alex hatte sich in einen Liegestuhl - von Tom hochtrabend Deckchair genannt - geworfen und sehr wohl die Blicke wahrgenommen, die Lucy Andy zugeworfen hatte. Der zog es vor, ihnen mehr oder weniger gekonnt auszuweichen und lieber mit David und Julian zu zocken. Nach einer Weile hatte Lucy genug und verschwand nach drinnen. Der Pegel in den Flaschen sank, während die Menge der leeren Red-Bull-Dosen zunahm.
Alex verstand nicht, warum Andy sie nicht längst beiseite genommen und mit ihr Klartext geredet hatte. Statt dessen verschanzte er sich hinter den anderen und vermied den Blickkontakt mit Lucy – eine Taktik, die auf lange Sicht keinen Erfolg versprach. Was für ein Held! Höchste Zeit, dass Alex dieses Trauerspiel beendete und Lucy in die Stadt fuhr. Schließlich brauchte sie dringend Schuhe, weil ihr Bruder darauf beharrte, dass sie bei dieser dämlichen Wanderung mitmachte. Je eher sie von hier fort kamen, desto besser.
Dann waren sie genau in das Gewitter hineingefahren. Beim ersten Donnerschlag hatte Lucys Herz einen Satz gemacht, und sie hatte sich förmlich an Alex festgekrallt. Als die ersten dicken Tropfen auf sie niedergingen, kam das Wartehäuschen in Sicht. Gerade noch rechtzeitig konnte er die Maschine am Straßenrand auslaufen lassen. Dann brachten sie sich vor der Sturzflut in Sicherheit.
Sicherheit ist relativ, dachte Lucy, schließlich war so ein Bushäuschen kein Faradayscher Käfig. Kälte durchdrang langsam ihre feucht gewordene Kleidung, und sie begann zu zittern; doch dass sie fror, war nicht der einzige Grund dafür. Erst als sie die Wand des Wartehäuschens im Rücken spürte, entspannten sich ihre Muskeln ein wenig. Lucy zog die angewinkelten Beine dicht zu sich heran und umschlang sie mit ihren Armen. Was hatten ihre Eltern ihr immer eingeschärft? Such dir bei Gewitter im freien Feld eine Mulde und mach dich so klein wie möglich; eine Regel, die sie hier jedoch vergessen konnte. Weit und breit gab es nichts, das sich dafür eignete. Aber wenigstens war das Dach ihres Unterstandes nicht der höchste Punkt in der Umgebung. Zusammengerollt und mit genügend Abstand von ihrem Fahrer, kauerte sie in ihrer Ecke und hoffte, dass es bald vorbei war.
Die Donnerschläge kamen jetzt in immer dichteren Abständen. Plötzlich stand Alex vor ihr, um ihr seine Jacke über die Schulter zu legen. Sie hatte bei dem Krachen über ihren Köpfen davon nichts mitbekommen und kam vor Schreck, wie von der Tarantel gestochen, auf die Füße. Ihr Schrei ging im Poltern am Himmel unter. Sie so zu erschrecken, hatte Alex nicht gewollt. Es geschähe ihm ganz recht, wenn er jetzt zu Boden ging. Doch dazu kam es nicht; um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, umfingen seine Arme Lucy, und er zog sie an sich. „Du musst wirklich keine Angst vor mir haben", wollte er sie beruhigen.
Es war nicht Alex, vor dem sie sich fürchtete, sondern das Gewitter.
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