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Reed träumte. In seinem Traum lag er auf einer Wiese und starrte in den Himmel. Er spürte, dass er nicht allein war und drehte den Kopf.

Neben sich sah er einen hellgrauen Wolf. In der Annahme, Caleb habe sich verwandelt, streckte er die Hand aus und versenkte sie in dem dichten, weichen Fell von Zero, der erstaunlich groß wirkte. 

„Hallo, Zero. Gibst du mir Caleb zurück?“ Mit dieser Frage richtete er sich auf und wartete darauf, dass der Wolf sich verwandelte, doch nichts geschah. „Möchte er nicht? Ist er immer noch böse auf mich?“ Er sah dabei zu, wie der Wolf ihm näher kam und tief in die Augen sah. Bestürzt stellte er fest, dass er nur Zero in dem Wolf spüren konnte. „Caleb?“, fragte er trotzdem.

„Caleb ist nicht hier. Lark genauso wenig. Hier sind nur du und ich“, grollte es in seinen Gedanken. 

Reed sprang überrascht auf. Er hatte nie davon gehört, dass ein anderer Wolf als der eigene mit einem sprechen konnte. Nur die herrschenden Alphas waren dazu fähig. Panisch sah er sich um. Wo war er hier überhaupt? Ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass er diese Gegend nicht kannte. 

„Warum bin ich hier und wie komme ich überhaupt hierher? Wir lagen doch gerade noch im Bett, um das Trennungs-Ritual durchzuführen“, sagte er ratlos. Er unterhielt sich mit dem Wolf, als wäre dieser ein Mensch.

„Möchtest du dich denn wirklich von Caleb trennen?“ Der Wolf hatte sich hingelegt und sah ihn weiterhin an. 

Reed schwieg. „Eigentlich nicht, aber welche Wahl habe ich denn?“, dachte er bei sich und bekam glatt eine Antwort.

„Das habe ich mir schon gedacht“ Erschrocken sprang Reed einen Schritt zurück.

„Du hörst, was ich denke?“, fragte er laut.

„Natürlich, was denkst du, wie ich mich mit dir unterhalte?“ Der Wolf gab einen undefinierbaren Laut von sich, der sich fast wie ein schnaubendes Lachen anhörte.

„Lachst du gerade über mich? Und wieso bist du in mir? Wo ist Lark?“ 

Der Wolf stand auf. Er war so groß, dass er Reed direkt ins Gesicht blicken konnte, wie dieser beunruhigt feststellte. 

„Erstens: Du bist in mir. Zweitens: Da du in mir bist und Caleb nicht, was denkst du, wo deine Wölfin wohl sein wird?“ Hörte Reed in seinen Gedanken und sah den Wolf entsetzt an. „Das kann nicht sein!“ Er trat vorsichtig ein paar Schritte zurück, doch Zero folgte ihm mit einem leisen Knurren.

„Weißt du Reed? Caleb war am Boden zerstört, weil du ihm nicht vertraust. Dabei hat er wirklich alles versucht, um dir zu beweisen, dass er nur dich liebt.“ Der Wolf kam ihm immer näher. „Aber du hast ihm ja nicht einmal eine Möglichkeit gegeben, etwas zu sagen oder zu erklären, obwohl du es versprochen hattest! So wie ich das sehe, gibt es keine Zukunft für euch beide, aber er liebt dich, auch ohne diese Mate-Verbindung. Das hat er schon immer.“

Reed riss überrascht die Augen auf. „Was meinst du damit, Caleb liebe mich schon immer?“, fragte er laut. Er konnte nicht glauben, was er da hörte.

„Das werde ich dir gleich zeigen. Steig auf.“ Zero drehte ihm die Seite zu. Reed starrte den Wolf unsicher an.

„Wieso bist du so groß? Das ist mir nie aufgefallen“, sagte er zögernd und versuchte damit, Zeit zu schinden.

Der Wolf drehte seinen großen Kopf. „Eigentlich sind alle Wandler-Wölfe so groß. Nur in der realen Welt passen wir uns an, damit wir nicht unnötig auffallen. Und jetzt steig endlich auf!“ Der letzte Satz kam mit einem verärgerten Knurren, was Reed dazu veranlasste, die Hand auszustrecken und sich auf den Rücken des Wolfes zu ziehen. „Festhalten!“, hörte er in seinen Gedanken und schon ging es los. 

Reed klammerte sich an Zero fest und kniff die Augen zusammen. Die Umgebung flog so schnell an ihm vorbei, dass ihm schwindelig wurde. Plötzlich blieb Zero stehen und Reed öffnete die Augen. Staunend blickte er sich um. „Wie kann das sein?“ Was er da sah, verschlug ihm die Sprache. Da waren er und Caleb als Kinder und spielten miteinander. 

„Das ist eine meiner und Calebs Erinnerungen“, erklärte der Wolf und legte sich hin. 

Reed stieg ab und betrachtete die Szene. Er selbst war als Kind zwar auch schon ein Alpha, aber durch seine Wölfin sehr unsicher gewesen, sodass er sich oft ärgern ließ. Nun sah er, wie ein anderer Alpha und zwei seiner Freunde ihn beleidigten und schlugen, als Caleb um die Ecke kam. Dieser mischte sich sofort ein und verjagte die Angreifer. 

Als Reed sich weinend und zitternd an ihn klammerte, sagte Caleb etwas, was ihn sofort beruhigte. „Nicht weinen, Reed. Ich werde dich immer beschützen. Niemand wird es noch einmal wagen, dir weh zu tun!“ 

„Versprichst du mir das?“ Der kleine Reed schniefte leise und sah Caleb mit verweinten Augen an.

„Natürlich verspreche ich dir das. Du weißt doch, dass ich dich liebe!“ Dann wischte er dem Kleineren vor sich die Tränen von den Wangen, was Reed endlich ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

Reed war geschockt. Hatte Caleb damals tatsächlich gesagt, er liebe ihn? Er versuchte sich zu erinnern, schaffte es aber nicht. Dennoch war er sich sicher, dass es genau so passiert war. 

„Auf zur nächsten Erinnerung.“ Zero drehte sich um und Reed folgte ihm nachdenklich. 

In der nächsten Szene waren sie zwölf und lagen bei Caleb zu Hause auf dem Bett. Sie erzählten einander, was ihnen auf dem Herzen lag.

„Weißt du, Reed. Ich bin verliebt, trau mich aber nicht etwas zu sagen“, begann Caleb und sah ihn verträumt an. 

Reed konnte sich an diese Szene noch ganz genau erinnern. Er hatte damals überlegt, Caleb von Lark zu erzählen, doch durch dessen Geständnis war er verletzt gewesen und ließ es sein. Er hatte gedacht, Caleb würde immer zu ihm gehören und an seiner Seite bleiben, doch dann erzählte ihm sein bester Freund, er wäre verliebt. Der Stich in seinem Herzen hatte ihn damals weinend nach Hause laufen lassen. 

Reed beobachtete, wie er sich schnell mit einer fadenscheinigen Entschuldigung von Caleb verabschiedete und sein Freund ihm mit Tränen in den Augen hinterher sah. Caleb hatte sich nach seiner Flucht weinend in die Kissen gekuschelt und unter Schluchzen etwas gesagt, was Reed geradewegs die Luft nahm. „Caleb, du Dummkopf. Reed wird dich niemals lieben können. Ihr seid beide Jungs!“ 

Reed bekam von Zero noch ein paar solcher Szenen gezeigt, wo Caleb immer wieder auf die eine oder andere Art seine Liebe zu ihm zeigte. Auch als Caleb aus Selbstschutz ihre Freundschaft kündigte, liebte dieser ihn weiter, was Reed hiermit nur allzu deutlich bewusst gemacht wurde. 

„Du siehst, Caleb liebt dich schon immer und er würde dich, jetzt, wo ihr Mates seid, niemals hintergehen. Du weißt gar nicht, wie glücklich er war, als ihr euch endlich miteinander verbunden hattet und es zusammen versuchen wolltet“, erklärte der Wolf. „Obwohl ihr euch anfangs gegenseitig immer wieder verletzt habt, gab er die Hoffnung nie auf. Bis zu dem Tag in der Schule, als Yuki und er dir bewiesen, dass du es spüren kannst, wenn er dich hintergeht und du ihm eiskalt eine Abfuhr erteilt hast.“

Reed war tatsächlich betroffen. Er hatte alles falsch gemacht. Eine erste Träne löste sich aus seinen Augen. „Er liebt mich und würde mich niemals hintergehen“, stellte er leise fest. Doch war es jetzt nicht schon zu spät?

„Du sagst es und jetzt mach etwas daraus“, antwortete Zero, dann fiel Reed in eine tiefe Dunkelheit. 

*****

Auch Caleb träumte. Er allerdings saß am See und neben ihm lag Lark, die sich eng an ihn kuschelte.

„Na, meine Süße. Was machst du denn hier? Ich dachte, du hättest dich von Reed zurückgezogen“, sagte er zu der Wölfin und streichelte ihr über den großen Kopf. Nebenbei wunderte er sich über deren Größe. Seine Trauer über seine verlorene Liebe ließ ihn nicht mehr klar denken. 

„Das habe ich auch. Ich bin nicht bei Reed, ich bin bei dir“, erwiderte die hellbraune Wölfin und sah ihn nun direkt an. 

Caleb stutzte. Hatte Lark da gerade mit ihm in seinen Gedanken gesprochen? 

Ja, das habe ich“, hörte er die Stimme mit einem Lachen in seinem Kopf. 

„Wo ist Zero?“ Er blickte sich fragend um.

„Der ist bei Reed. Ich hoffe, er zeigt diesem sturen Menschen, was er alles falsch gemacht hat.“ 

„Okay und du bist hier, um mir meine Fehler vor Augen zu führen?“ Caleb war zwar etwas verwirrt, akzeptierte aber diese Situation als gegeben. 

Wieder lachte Lark. „Nein. Ich glaube, die sind dir bereits bewusst. Ich möchte dir zeigen, warum Reed so misstrauisch dir gegenüber ist“, erklärte die Wölfin. „Folge mir.“ 

Caleb gehorchte, stand auf und folgte der Wölfin. Erstaunt stellte er fest, dass sich ihre Umgebung veränderte und sie plötzlich in der Grundschule waren. Er sah sich selbst, Reed und drei weitere Freunde, die in der Pause auf einer Bank saßen und sich unterhielten. 

„Habt ihr auch davon gehört? Von dem Mädchen, welches einen männlichen Wolf in sich trägt? Wie abartig ist das denn?“, fragte einer der Jungen und blickte die anderen mit einem angeekelten Blick an. 

„Wirklich? Wie kann es das denn geben?“, antwortete einer seiner Freunde. Keiner bemerkte, dass Reed mit einem betroffenen Gesichtsausdruck schwieg. 

„Das muss ein Fehler der Natur sein und sollte es nicht geben. Wer möchte denn mit so jemandem zusammen sein und Kinder haben?“, warf der junge Caleb ein.

Was niemandem auffiel, war, dass Reed nicht ein einziges Wort dazu geäußert hatte und sich kurz darauf von ihnen verabschiedete. 

Caleb stand betroffen da. Er hatte dieses Gespräch total vergessen, aber jetzt, wo es ihm wieder vor Augen geführt wurde, erinnerte er sich daran. 

„Aber ich wusste damals doch nicht ...“, begann er und brach ab. 

„Tja, Reed war damals tagelang verstört. Für ihn war es völlig normal, eine Wölfin in sich zu tragen. Ihr hattet noch tagelang darüber gelästert. Das war der Moment, wo Reed und ich uns schworen, niemals jemandem unser Geheimnis preiszugeben. Auch dir nicht. Doch es geht noch weiter. Komm mit.“ Lark drehte sich um und lief voraus. Caleb kam ihr nachdenklich nach. 

Irgendwann blieb sie erneut stehen. Caleb sah sich selbst, wie er Reed gerade sagte, dass er mit ihm nichts mehr zu tun haben wolle. Als Begründung gab er an, Reed käme ihm so ‚weibisch‘ vor. Er wolle mit so jemandem nichts mehr zu tun haben. Zwar geschah dieser Bruch ihrer Freundschaft aus reinem Selbstschutz, immerhin liebte er den anderen Alpha. Doch war er damals ziemlich gemein zu Reed gewesen.

Caleb stöhnte entsetzt. Er hatte alles, was er bei Reed falsch machen konnte, auch tatsächlich falsch gemacht. Jetzt wurde ihm so einiges klar. Warum Reed ihm nie seinen Wolf gezeigt hatte und warum er ihm so sehr misstraute. Er war selbst schuld daran. 

„Ich sehe, du verstehst.“ Lark sah ihn ernst an. „Jetzt liegt es an euch beiden, das zu regeln“, sagte sie noch, dann umfing ihn Schwärze.

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Die Spannung steigt...
Was passiert wohl, wenn die beiden Gefährten erwachen?
Wollen sie das Ritual der Trennung weiterhin durchführen oder ändern sie doch noch einmal ihre Meinung?

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