Teil 6

Lennart

Der Transport kommt. Ich höre das Schleifen des Körpers – die neue Rekrutin scheint sich zu sträuben, sich absichtlich schwer zu machen – und zwei Männer leise miteinander sprechen. „Hast du seine Augen gesehen. Sie ist es." Einer der beiden ächzt. „Sei nicht albern. Die ist aus Porzellan. Zerbricht unter den Fingern. Er wird sie höchstens mit aufs Zimmer nehmen." Widerlich. Ich stoße die Luft aus, die ich während dem Lauschen angehalten habe.

Die Neue ist also hübsch. In mir steigt ein Bild auf, das ich nur zurück nach unten, unter die Oberfläche, drängen kann, aber nicht abschütteln. Lorena. Sie war wie das Gefühl ihrer Hand in meiner: unerwartet. Als sie in der Sternenarena gegen das Licht blinzelte und unsere Aufstellung musterte, blieb mir eine Sekunde, um sie zu betrachten, ohne etwas von ihrem Innenleben wahrzunehmen. Eine Sekunde lang war noch alles an ihr blank. Ihre alabasterblasse Haut, die aufgesprungenen Lippen, ein Vogelnest an Haaren auf ihrem Kopf und all das garniert mit ihrem störrischen Blick... Ich muss mich ablenken. Hektisch tigere ich in meiner Zelle auf und ab. Soll ich etwas sagen? Die Neue ansprechen? Nochmal so eine hirnrissige Aktion?! Bist du bescheuert? Ich lasse die Stäbe wieder los. Das mit der Ungerührtheit, ich muss das endlich mal hinkriegen.

Aber so sehr ich mich anstrenge, der Wunsch die Hand auszustrecken, ist übermächtig. Warum verdammt? Ich bin kurz davor jeden meiner Vorsätze in den Wind zu schlagen, aber dann bringe ich es doch nicht über mich. Ich kann nicht noch einem Mädchen die Hand geben, als verspräche ich ihr die Sicherheit. Lorenas Schreie sitzen mir in den Knochen. Alles, was ich denken konnte, war sie ist so unschuldig. Selbst die Todesangst in ihrem Blick war irgendwie noch arglos. Im Angesicht des höhnischen Lachens, das ihr entgegenschlug, hatte sich die Stärke in ihren Augen gesammelt. Sie war völlig wehrlos. Ihr schmaler Körper, die nutzlosen Arme, nichts konnte uns aufhalten. Und doch, ihr durchdringender Blick, er bremste mich aus. Eine Mischung aus Trotz und Willensstärke, die immer wieder aufflackerte, selbst als sie schon lange am Boden lag.

Ich muss schlucken. Als der Schmerz gegen das Adrenalin gewann, hatte sie nachgegeben. Bitte. Ihr Flüstern war tausendmal schlimmer als die Schreie. Sie hatte still gelegen, das Gesicht blutverschmiert, der Körper seltsam verdreht und doch schien sie ihre Hand auszustrecken. Nach mir. Mein Herz schlägt immer noch von diesem Moment. Ich hatte es gewusst.

Warum mache ich ständig Fehler? Grausame, zurückfeuernde Fehler. Jeder Handgriff, bis wir sie in der richtigen Position für die Injektion hatten, fühlte sich an wie der Rückstoß einer Waffe, von der ich wusste, dass ich sie selbst abgefeuert habe. Ich hatte Kontakt zu ihr aufgebaut, trotz des Wissens, was ich ihr antun würde. Nur ich war so dumm.

Ich gehe näher an die Stäbe. Die Neue ist wirklich ruhig. Zu ruhig. Die Stille zerfetzt mich, als hätte sie Klauen, die sie in mich schlagen und immer wieder aufs Neue herausziehen kann. Mir wird schwindelig von den ganzen Gedanken, die herausströmen. Urplötzlich steige ich auf etwas Weiches, Nachgebendes. Gleichzeitig stöhnt jemand. Erschrocken ziehe ich den Fuß zurück und knie mich hin um die Unebenheit mit den Händen zu ertasten. War das...? Scheiße, das sind Finger. Das Stöhnen wiederholt sich, lauter diesmal, als ich die Hand näher untersuche. Verdammt, ich habe ihr die Hand gebrochen, oder? Dieses Mädchen muss bewusstlos hereingebracht worden sein. Wieso aber ragt ihre Hand zu mir nach drüben? Was ist das bitte für ein unglücklicher Zufall? Ich fluche. Dann hole ich meine Wasserflasche und kippe etwas davon über ihre Haut. Vielleicht kühlt es zumindest ein bisschen. Du Narr. Sie hat morgen keine Chance. Nicht, wenn ihre Hand jetzt schon kaputt ist. Ich raufe mir die Haare. Der ernüchternd klare Moment erwischt mich eiskalt. Versager. Monster. MONSTER.

Plötzlich höre ich ein rasselndes Geräusch, als würde die Rekrutin die Besinnung zurückerlangen und mühsam Luft holen, um etwas zu sagen. Bitte nicht. Ich trete zurück. Ich weiß, dass ich sie fragen sollte, ob alles okay ist. Dass ich ihr versichern müsste, dass sie für die Nacht sicher ist. Aber mein Mund ist staubtrocken. Noch ein Kontakt ist einfach nicht drin.

Das herzzerreißende Geräusch erklingt erneut. Ich kann nicht. Ich presse meine Stirn an die kühle Steinwand, die die Rückwand meiner Zelle bildet. Ich kann nicht. Ich hab sie zu Tode verurteilt. Ich bin das fucking Himmelfahrtskommando. Ich versuche zu Atem zu kommen, aber irgendetwas in mir reagiert über. Heute sind es zu viele Bilder. Wie Lorenas Lippen von dem einen flehentlichen Wort bebten, das ihr auskam. Wie ihr karamellfarbenes Haar am Flur strandete, als sie sie fort trugen. Und jetzt mein Schuh auf der Hand der neuen Rekrutin und das dazugehörige knirschende Geräusch in meinem Ohr. Ich schnappe nach Luft. Mit jedem neuen Gedanken fühlt sich mein Hals enger an.

Ich will das nicht. Ich wollte das nie. Meine Hände zittern. Eigentlich zittert alles an mir. Ich gehe in die Hocke. Ich habe eine verdammte Panikattacke und irgendwie nehme ich jetzt doch die Hand, die immer noch am Boden liegt und in meine Zelle hinüber reicht. Sie hat sie nicht weggezogen. Sachte schiebe ich meine Finger darunter. Ich kann die Verletzung fühlen, der gesamte Bereich um die Fingerknöchel ist schon angeschwollen. Also lasse ich unsere Handflächen nur ganz behutsam, kaum spürbar aneinander liegen und krümme nicht einmal die Finger um die verletzte Haut. Vielleicht ist die Berührung tröstlich für sie. Mich wühlt sie einfach nur auf. Es fühlt sich so vertraut an, fast wie gestern. Als würde ich wieder Lorenas Hand halten.

„Es tut mir leid." Ich keuche. „Ich schwöre. Ich wollte mich zurückhalten. Ich wollte..." Was wollte ich, verdammt? Als ob das Wollen etwas nützt. Jeden Tag ramme ich einer neuen Rekrutin die Spritze ins Rückenmark, in der Hoffnung, dass sie die Injektion überlebt. Und jede verfluchte Nacht bringen sie eine neue Anwärterin. Was das über den Erfolg der Mission aussagt, dürfte klar sein. Ich quäle mich wie jeden Abend durch die Erinnerungen. Das Bild jeder einzelnen Rekrutin, der ich die klare Flüssigkeit verabreicht habe, blitzt in meinen Gedanken auf, nur um dann für den Rest der Nacht und den darauffolgenden Tag erneut an den äußersten Rand meines Bewusstseins geschoben zu werden. Das letzte und aktuellste Bild bleibt, so oft ich es auch zurück dränge. Und auch die Schuld bleibt.

„Es tut mir leid", wiederhole ich, obwohl ich weiß, dass es sinnlose Worte sind. Ich habe wieder einen Menschen auf dem Gewissen, dessen Namen ich diesmal sogar kannte, und dem nächsten schon mal die Hand zertrümmert. Ich lehne den Kopf gegen die Stäbe. Ganze Arbeit, Monster.

„Life hits hard, right?" Faris lächelt halb, als er morgens meine Zellentür aufschließt. Ich bin völlig fertig. Ich kann das heute nicht schon wieder. „Diesmal hat der Schönheitsschlaf aber nicht gewirkt", stichelt er weiter. Ich verliere die Kontrolle und packe ihn am Kragen. Vermutlich habe ich tiefe Augenringe. Meine Vorstellung von dem Anblick, den ich abgeben muss, ist ziemlich eindeutig: erbärmlich. Scheiß drauf. Ich drücke ihn gegen die Wand, den Stoff seines Overalls immer noch fest im Griff.

„Noch ein Wort und man transportiert dich heute aus Almajara." Ich weiß, dass sie die „gescheiterten Versuche" rausbringen. Und dass ich irgendwie ohne zu Scheitern auf eine dieser Bahren muss, weil nur sie das Ticket in die Freiheit sind. Die Überraschung von Faris legt sich und er macht sich verärgert los. Als er mir seinen Kragen entreißt, funkeln seine Augen gefährlich. „Ganz dünnes Eis." Vielleicht sollte ich einen Streit vom Zaun brechen? Mich von ihm erledigen lassen? Aber er hat sich schon umgedreht und erwartet natürlich, dass ich ihm unaufgefordert folge. Nicht heute. Ich bleibe stehen. Ich brauche Schmerz, um einen weiteren Tag durchzustehen. Physischen Schmerz. Soll er mich vermöbeln. Soll er auch das Gefühl haben brutal und kaltblütig zu sein.

Es dauert erstaunlich lange, bis er bemerkt, dass ich nicht hinter ihm bin. Mit einem genervten Zug um den Mund dreht er sich schließlich um. „Streikst du jetzt, tanfidhi? Echt jetzt?" Seine Augenbrauen wandern langsam nach oben. Er hat sich erstaunlich gut im Griff. Irgendwie habe ich erwartet, dass er gleich sauer wird, wenn ich seinen unausgesprochenen Befehlen nicht Folge leiste. Aber dann muss ich ihn eben provozieren. „Deine Visage lässt mich erstarren", sage ich mit einem Schulterzucken. Die elende Gelassenheit in seinem Gesicht verschwindet. „Sag das nochmal, du verdammter Hurensohn!" Er stürmt wutentbrannt auf mich zu. Endlich.

Aber dann stoppt er völlig abrupt Millimeter vor meinem Gesicht, als hätte ihm jemand den Stecker gezogen und atmet beherrscht aus. Ich spüre einen eklig warmen Luftzug auf der Wange, was mich derart aus dem Konzept bringt, dass ich einen Schritt zurück taumele. Ich bin es gewöhnt, dass er viel früher als ich die Fassung verliert.

Er sieht mir die Verblüffung an. Es ist ein Moment der Überlegenheit für Faris und er kostet ihn aus. „Wenn ich jede. Klitzekleine. Ameise. auf meinem Weg zertrete, komme ich nie ans Ziel", raunt er immer noch viel zu nah. Die begleitende Geste macht klar, dass ich eine dieser klitzekleinen Ameisen bin. Ich versuche nicht zurückzuzucken, aber der kontrolliert-aggressive Tonfall ist beeindruckend effektiv. Noch nie habe ich Faris so drohend erlebt.

Genauso schnell, wie er meine Komfortzone überschritten hat, tritt er wieder zurück. „Und jetzt heul nicht, heute haben wir etwas Spannendes vor." Er geht wieder los, mit federnden Schritten diesmal, und öffnet nach einer kurzen Strecke mit seiner Karte die zweite Tür, die rechts vom Gang weg führt. Ich löse mich aus meiner Erstarrung, als er sie mir mit einer spöttisch-übertriebenen Geste einladend aufhält. „Nach dir, Loser." Mit jedem meiner Schritte steigt die Fassungslosigkeit. Hinter dieser Tür liegt nicht die Sternenarena.

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So...damit verabschieden wir uns jetzt für ein paar Kapitel von Len. Demnächst wird Lorena erst einmal ihre Eindrücke schildern. Ich freue mich, euch damit endlich mehr Details über Almajara und das Sternenprogramm verraten zu können ;)

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