Teil 2
Lennart
Ich kann es ihr nicht sagen. Sie ist so unschuldig. Es ist das erste Mal, dass mich die Unschuld eines Menschen berührt.
Ihre schlanken Finger in meinen haben mir einen verdammten Stich gegeben, deswegen habe ich sie schnell wieder losgelassen. Morgen werde ich sie sehen. Der Gedanke raubt mir den Atem, denn es wird beim taqus sein. Das erste Ritual ist grausam, ich weiß es aus eigener Erfahrung und habe es seitdem jeden Tag bei dem neusten „Rekrut", wie sie die Gefangenen hier ironischerweise nennen, hautnah mitbekommen.
Noch nie habe ich es zugelassen am Vortag an mein Aufeinandertreffen mit dem neuen Rekrut zu denken. Ich habe noch nicht mal Kontakt mit den ständig wechselnden Personen in der Zelle neben mir. Isaacs Stimme hämmert in meinem Kopf. Material. Sie sind Material. Ich will diese Verknüpfung aus meinem Gehirn löschen, aber er war sehr eindringlich. Er schafft es immer, dass seine Worten in meinem Kopf hängen bleiben, obwohl ich mich völlig abgeschottet hab. Der Schmerz ist nun mal auf seiner Seite.
Die Injektionen wirken nicht wie er will, aber sie haben eine Wirkung. Ich fühle es in mir, etwas breitet sich aus, das nie zu mir gehört hat, sich aber jetzt quälend langsam und gleichzeitig zu schnell, viel zu schnell, mit mir verbindet. Noch kann ich unterscheiden und die Oberhand behalten, aber es wird schwieriger und zeitweise ist dieses Neue, Ungewohnte in mir unkontrollierbar. Die Erinnerung an das Gefühl ihrer Hand in meiner stößt den Gedanken an Zurückhaltung in meinen Kopf. Du kannst es noch, wispert etwas, das mir alleine gehört. Halt dich zurück. Für diese Hand.
„Ich kann nicht atmen." Ihr verzweifeltes Flüstern reißt mich aus den Gedanken. Sie ist anders. Sie war von Anfang an leise. Bis auf ihr fast lautloses Weinen, hat sie keinen Ton von sich gegeben, seit sie in den unverkleideten Kellerraum neben mir gestoßen wurde. Nicht das panische Toben, das die ersten Stunden jedes anderen vor ihr gekennzeichnet haben. Nicht die verzweifelten Rufe nach Hilfe. Entweder ist sie völlig gebrochen und hat überhaupt keinen Kampfgeist, oder sie fängt es anders an, denkt nach.
Ob ein strategisches Vorgehen besser ist, kann ich nicht sagen. Ich hab mich dafür entschieden und was es mir eingebracht hat, wird sie schnell am eigenen Leib erfahren. Ich schließe die Augen. Das ist das letzte Mal, dass ich reagiere.
„Doch, kannst du. Gib mir deine Hand." Es ist fast wie ein Gefühl dafür, wo sie ist. Ich finde ihre Hand ohne Schwierigkeiten und drücke sie an meinen Brustkorb. „Schließ dich mir an. Einatmen. Ausatmen. Ein. Aus. Fühlst du das?" Ihr Atem stockt und wird dann langsam ruhiger, während sie mit mir atmet, also warte ich noch ein paar Herzschläge ab, bevor ich sie zum zweiten Mal heute loslasse.
Was soll das werden? Was willst du mit ihr? Die Stimme in meinen Kopf klingt wie Isaac und bringt meine Abgebrühtheit ins Taumeln. Ich mache mehrere Schritte rückwärts, bringe Abstand zwischen sie und mich und schüttle das eigenartige Gefühl der Nähe ab, das man hier unfassbar schnell zu einem anderen Menschen entwickelt, weil man ansonsten so allein mit seinen Gedanken und Ängsten und den Veränderungen ist. Das, was ich spüre ist nicht echt, sondern trügerisch.
Morgen wird es keine Nähe mehr geben. Morgen werden wir uns gegenüberstehen und sie wird sich an keine meiner Gesten von heute mehr erinnern. Wie könnte sie? Morgen bin ich anders. Aber ich werde mich erinnern und das ist schlecht. Weil ich damit nicht nur gegen sie kämpfen muss, sondern auch gegen den winzigen Teil von mir, der sich heimlich, leise, auf Zehenspitzen entfernt und auf ihre Seite gestellt hat.
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