Alles wird gut
Der Regen prasselte monoton auf die Fensterscheiben, auf das Pflaster, auf die Menschen.
Die Menschen in der Winkelgasse störte das wenig. Mit einem einfachen Zauber erschien ein fast durchsichtiger Regenschirm in deren Händen und sicherte sie vor dem Regen. Der Himmel war mit grauen und dunklen Wolken bedeckt, nicht einmal einzelne Sonnenstrahlen schafften es durch die dicken Wolken.
Im Hintergrund hörte man die Musik von einem Muggel Radiosender.
Yesterday i died, Tomorrows bleeding.
Doch ich nahm es kaum wahr. Ich beobachtete die Zauberer in der Winkelgasse und tat es doch nicht. Meine Gedanken schwirrten um mich herum und doch konnte ich keinen davon klar erfassen. Ich lebte mein Leben und tat es doch nicht. Ich war eine Hülle meiner Selbst. Eine Hülle meines Zwillingsbruders.
Alles okay, Freddy?
Ja.
Bei mir auch.
Die Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Sein Aussehen ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Seine Persönlichkeit. Einfach alles.
Der Tag nährte sich. Der erste Jahrestag. Sein erster Todestag. Mich packte eine unglaubliche Wut. Ohne weiter darauf zu achten, schmiss ich ein Glas mit Feuerwhiskey von dem Glastisch. Die Flüssigkeit verteilte sich auf den Boden.
Aus meinen Fingern floss Blut. Ein kleiner Schmerz durchzog meine Hand. Ein Beweis dafür, dass ich lebte. Ein Beweis, dass ich noch etwas fühlen konnte.
Das ich Gefühle besaß.
Früher, kurz nach dem Krieg, da konnte ich mich vor meinen ganzen Gefühlen kaum noch retten. Ich ertrank fast in ihnen. Ich fühlte mich schuldig, wütend, verzweifelt, einsam. Ich fühlte alles auf einmal.
Aber jetzt saß ich auf einer einsamen Insel. Ohne Gefühle. Ganz allein.
Desinteressiert schaute ich zu, wie das Blut auf den Boden tropfte. Er hatte nicht geblutet. Wie auch, wenn er sofort tot war? Ich griff nach meinem Zauberstab, dem seinem so ähnlich war. Fast die gleichen Verzierungen schmückten unsere Zauberstäbe. Mit einem leichten Schwenker, verschwand das Blut und die Wunde schloss sich. Eine kleine Narbe blieb zurück, die bald auch verschwunden sein würde.
Er hatte viele Narben gehabt. Auf seinen Armen, auf seinem Gesicht. Sie entstanden von den vielen Einzelkämpfen um Hogwarts.
Hogwarts. Die Zeit unseres Lebens. Wie viel wir erlebt hatten. Zusammen. Wie viel wir gelacht hatten. Er starb mit einem Grinsen in seinem Gesicht. Dieses letzte Grinsen hatte sich in mein Gedächtnis gebrandmarkt und verfolgte mich nicht nur in meinen Träumen. Jeden Tag, jede Minute erschien es vor meinem inneren Auge und gab mir zu verstehen, dass ich vor den Ereignissen nicht fliehen konnte.
Ich nahm war, dass jemand die Treppen zu unserer Wohnung hochging. Zu meiner Wohnung. Schmerzerfüllt schloss ich meine Augen für einen Moment. Er würde nicht kommen. Er würde nicht gleich die Tür aufreißen und sagen, dass er endlich wieder da war. Dass das alles nur ein großes Missverständnis war.
„George?", erschien die Stimme von meiner kleinen Schwester vor unserer Wohnungstür. Ich starrte weiterhin aus dem Fenster. Ich würde ihr nicht öffnen. „Ich weiß, dass du Zuhause bist. Mach bitte die Tür auf".
Nichts. Ich nahm es wahr, aber ich blieb auf dem Sessel sitzen. Auf seinem Sessel. Wenn er das mitbekommen würde, würde ich Ärger bekommen.
Es war sein Sessel. Nur er durfte darauf sitzen. Aber er würde es nicht mitbekommen. „Mum würde sich freuen, wenn du morgen zum Mittagessen kommen würdest. Wir haben dich schon lange nicht mehr gesehen".
Stille.
Ein halbes Jahr. Ich hatte meine Familie ein halbes Jahr nicht mehr gesehen. Ich konnte sie nicht ansehen. Ich konnte nicht in dieses Haus zurück. Ich konnte nirgends wo mehr hin. Denn er war auch überall gewesen.
Mit mir. Immer wir beide. Es gab doch nur uns beide. Warum hatte ich ihn alleine gelassen? Warum war ich nicht bei ihm gewesen? Ich wusste doch, dass etwas schrecklichen passierte, wenn wir nicht zusammen waren. Wie mit meinem Ohr.
Da war er nicht bei mir gewesen. Aber wie konnte ich ein verlorenes Ohr mit seinem Leben vergleichen? Ich würde mein zweites Ohr dafür geben, wenn ich ihn wieder hätte.
Jetzt gab es aber nur noch mich. Alles an der Außenwelt erinnerte mich an ihn. Mein Zuhause erinnerte mich an ihn.
Wie wir alle zusammen am Küchentisch saßen. Wie wir in unserem kleinen Zimmer den nächsten Streich an Percy planten. Wie wir Mum zur Weißglut brachten. Meine Familie erinnerte mich an ihn. Alle die roten Haare. Alle die gleichen warmen braunen Augen. Die warmen braunen Augen, die bei ihm zuletzt nur noch kalt waren. Kein spitzbübisches Funkeln in seinen Augen.
„Bitte sag was", hörte ich die leiser gewordene Stimme von Ginny. Stille. Was sollte ich schon sagen? Sie würden es nicht verstehen. Sie verstanden es nie. Wie ich mich fühlte. Das ich überhaupt nichts mehr fühlte. Was sollte ich auch fühlen, wenn meine andere Hälfte nicht mehr bei mir war? Als er gestorben war, da war meine Seele mit ihm gestorben. Aber das verstanden sie nicht. Keiner verstand es.
Ihre Herzen waren nach seinem Tod gebrochen worden, aber sie konnten es Stück für Stück wieder zusammen nähen. Mein Herz hatte er ganz mitgenommen. Ich hatte es nicht mehr. Ich konnte nichts mehr zusammen nähen. Sie hatten einander. Sie hielten sich gegenseitig fest. Der einzige der mich halten konnte, war er gewesen. Es war nicht das gleiche, wenn mich jemand anderes festhielt. Es würde nie wieder das gleiche werden. „Das Essen beginnt um 12 Uhr. Wir würden uns freuen, wenn du dabei ist".
Die Schritte entfernten sich, die Treppenstufen knarrten. Wir würden uns freuen, wenn du dabei bist. Du. Nicht wenn ihr dabei seid. Es gab kein ihr mehr. Es gab nur noch ein du. Es gab kein wir mehr. Nur ein ich.
Ich wendete meinen Blick nicht ab von den vielen glücklichen Zauberern. Sie hatten vergessen, wie es war mitten in der Schlacht von Hogwarts zu stehen. Hatten seine Opfer vergessen. Hatten ihn vergessen.
Ein Geräusch erweckte meine Aufmerksamkeit. Ich schaute auf. Das Geräusch kam von seinem Zimmer aus. Das konnte aber nicht sein. Das Zimmer war seitdem verschlossen worden. Und doch, da war etwas.
Ich nahm meinen Zauberstab und ging vorsichtig zu seinem Zimmer hin. Wer könnte es wagen, dort zu sein? Wahrscheinlich war es nur eine arme Maus, die sich verlaufen hatte. Mit einem einfachen Alohomora klickte das Schloss und die Tür sprang auf. Mit einer Hand öffnete ich die Tür weiter und ging hinein.
Ich schaute mich um und mein Blick blieb am Bett hängen. Mit einem male beschleunigte sich mein Herzschlag so sehr, als ob es mit einem Thestral geflogen wäre. Plötzlich hatte ich wieder ein Herz. Einen Herzschlag. Konnte wieder klar denken. Hatte wieder Gefühle.
Denn dort auf dem Bett, da saß er. Mein Zwillingsbruder.
Er lag halb auf dem Bett. Er lag senkrecht und stützte sich mit seinem rechten Ellenbogen auf dem Bett ab. Seine feuerroten Haare hingen ihm ins Gesicht. Seine braunen Augen waren wieder warm und funkelten miteinander um die Wette. Um seine Lippen spielte ein spitzbübisches Grinsen.
Er war wieder da. Mein Zwillingsbruder.
Von meiner Schulter entwich eine mir unbekannte Schwere. „Na Bruderherz?". Seine Stimme. Sie war so warm und herzlich. Ich hatte fast vergessen, wie sie sich angehört hatte. Wie sehr ich sie doch vermisst hatte.
„B...bist du es wirklich?", fragte ich fassungslos nach. Er war doch tot. „Natürlich! Mich gibt's doch nur einmal...naja jedenfalls fast", sagte er grinsend und sprang von seinem Bett auf. Und wieder einmal übermahnten mich meine Gefühle. Aber ein Gefühl erkannte ich sofort. Undurchdringbares Glück.
Er öffnete seine Arme und sah mich an. „Krieg ich eine Umarmung?", fragte er nach. Diese Frage musste er mir nicht noch einmal stellen. Keine Sekunde später befand sich mein Zwillingsbruder in einer Umarmung, die die Umarmungen unserer Mutter Konkurrenz machte. Ich hatte ihn wieder.
Er war wieder da. Ich war nicht alleine. Es gab wieder ein wir. Kein ich. Ich spürte seine starken Arme um meinen Körper. Ich spürte seine Nähe. Seine bedingungslose Liebe. Die Liebe die ich so vermisst hatte. Die es seit seinem Tod nicht mehr gab. Die jetzt wieder existierte. „Ich bin nicht mehr alleine", flüsterte ich.
„Das warst du nie Georgie", flüsterte er zurück. Dann schob er mich leicht von sich. „Ich war immer bei dir. Hast du meine Anwesenheit denn nie gespürt? Denkst du wirklich ich könnte dich jemals verlassen?".
In seiner Stimme schwank Traurigkeit und Verletzbarkeit mit. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Ich hatte mich so alleine und verlassen gefühlt. War er wirklich bei mir gewesen? „Du hast dich nur nie auf mich konzentriert. Lieber hast du mich von dir gestoßen", beantwortete er meine unausgesprochene Frage.
„Ich hätte dich nie von mir gestoßen!".
„Und warum hast du mich nie bemerkt? Nie meinen Herzschlag mit deinem verglichen? Nie gefühlt, was ich gefühlt habe?", fragte er nach.
„Weil du mich verlassen hast! Du warst nicht da! Du hast mich alleine gelassen! Hast mir mein Herz herausgerissen! Was verstehst du denn schon?", schrie ich ihn an. Die ersten Tränen fanden ihren Weg nach außen. Ich fühlte mich verwundbar. Meine lang errichtete Mauer fiel in sich zusammen.
Und wer hatte es geschafft? Mein Zwillingsbruder. Wer auch sonst? „Wer musste die ganzen mitleidigen Blicke ertragen? Wer musste allein in dieser Wohnung leben? Wer hatte von uns das längere Leid zu ertragen?", fragte ich ihn wieder.
Auch er hatte Tränen in den Augen. Aber anstatt mir zu antworten, ging er auf mich zu und umarmte mich. Und plötzlich schien wieder alles in Ordnung zu sein. Es gab keine Probleme mehr.
Denn er war wieder da. Ich war nicht mehr alleine.
„Es tut mir leid was alles passiert ist. Aber ich war nie wirklich weg. Ich war immer bei dir". Dabei berührte er die Stelle über meinem Herzen. „Verlass mich nicht. Ich brauche dich. Jetzt. Für immer. Ich brauche deine Liebe. Ohne dich überlebe ich das nicht", flüsterte ich erstickt. Mein Kopf lag auf seiner Schulter.
Diese Geborgenheit hatte ich vermisst. „Alles wird gut. Alles wird gut. Ich bin bei dir. Ich werde immer bei dir bleiben. Egal wo du bist. Ich bin bei dir", flüsterte er in mein Ohr. Ich hatte seine Stimme vermisst. Ich hatte seine Anwesenheit vermisst.
Und plötzlich war alles vorbei. Ich saß wieder alleine in seinem Sessel. Ich war eingeschlafen. Ich war wieder alleine. Die dunklen Wolken waren verschwunden und die Sonne schien. Aber mein Inneres war leer.
Ich hatte mich noch nie in meinem Leben so alleine gefühlt. So verzweifelt. Ich hatte ihn wieder-und habe ihn doch wieder verloren. Ich berührte die Stelle über meinem Herzen. Es hatte sich so echt angefühlt. Aber mein Gehirn hatte mir einen Streich gespielt. Mein ganzes Leben spielte mir einen Streich.
Mein Herz blutete wie noch nie. Vorsichtig stand ich auf. Mein ganzer Körper zitterte. Ich wollte mich bewegen. Die Gedanken, den Traum vergessen. Aber ich sah im Augenwinkel mein Spiegelbild. Für einen kurzen Moment dachte ich, er würde neben mir stehen. Er wäre nah bei mir. Aber ich erkannte den Spiegel und sah mein eigenes Spiegelbild vor mir. Ich sah mich und sah doch ihn.
Ich schaute meinem Spiegelbild in die Augen. Sie waren seinen so ähnlich. Seine jedoch funkelten immer. Meine waren nur ein glanzloses Selbst. Meine Beine gaben unter mir nach und ich fiel auf den Boden.
Ich ließ einen markerschütternden Schrei los. Warum hatte ich ihn verloren? Warum musste er mich wieder verlassen? Warum? Hatte ich denn noch nicht genug gelitten? Warum hatte ich ihn damals alleine gelassen? Warum war ich nicht bei ihm gewesen? Dann wäre das alles nie passiert. Dann würde er jetzt bei mir sitzen und sich über mich lustig machen. Ich würde nicht alleine sein. Ich würde so etwas wie Freude empfinden können.
Aber das war vorbei.
Ich spürte wie mein Herz wieder in seine Tiefen verschwand und ich wieder anfing nichts zu spüren.
Denn so war es einfacher. Nur die Gedanken würden mich weiter verfolgen, doch nicht meine Gefühle.
Und während ich auf das letzte gemeinsame Foto von Fred und mir starrte, spürte ich seine Anwesenheit und seine Stimme die mir zuflüsterte
Alles wird gut.
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