Überlebe!

"Ich komme wieder, das verspreche ich dir, Tara. Bitte glaube mir! Aber du siehst doch, wie sehr wir in Not sind! Wir müssen in den Krieg ziehen, damit unser Land eine Chance hat."

Tränen bahnten sich einen Weg meine Wangen hinunter. Mein bester Freund schloss mich in eine innige Umarmung. Ich fühlte mich so sicher in seinen kräftigen Armen, doch in Zukunft würde ich sie nicht mehr um mich haben.

Ein Mann brüllte laut, damit jetzt endlich alle in den Bus stiegen. Oliver löste sich von mir und murmelte: "Ich muss jetzt gehen. Ich komme zu dir zurück, versprochen." Er lächelte. "Meine kleine Schwester." Ich schmunzelte traurig und ließ mich noch einmal in den Arm nehmen. 

Ich wollte nicht zwei Männer, die mir lieb waren, verlieren.

Zu viele Soldaten waren bereits gefallen und sie brauchten sozusagen "Reservemänner". Wenn man alle Toten zusammenrechnete, waren es bereits über fünfzigtausend.

Anton und Oliver saßen irgendwo in den Fahrzeugen. Emily und ich hatten uns zwar noch verabschiedet, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das noch lange nicht genug gewesen war.

Wo sollte das ganze nur hinführen?! Wir bekamen hier in Afrika ja nicht so viel mit. Eigentlich hatten wir vier ziemliches Glück, trotzdem verstand ich noch immer nicht, warum wir in Gruppen aufgeteilt worden waren. Was hatte das für einen Sinn? Als die Busse langsam und schaukelnd wegfuhren, breitete sich ein unangenehmes Gefühl in meinem Magen aus. In diesem Dorf gab es keine gesunden Männer mehr - nur noch die Alten und Kranken.

"Tara, es reicht."

Verwundert starrte ich Emily mit großen Augen an.

"Ich meine ... Das alles hier! Wir sitzen einfach nur so 'rum und schauen zu, wie zwei von unseren Freunden und unsere ganzen Familien irgendwo hingebracht werden. Ich muss hier weg. Ob du mitkommst, oder nicht, ist deine Sache." Emily hatte recht. Doch wie sollten wir nach Deutschland zurückkommen?

Emilys Idee verbreitete sich schon bald im ganzen Dorf. Einige Frauen beschlossen das Gleiche. Doch sehr viele kamen nicht zusammen. Am Schluss waren wir zu fünft. Aber wir konnten es sowieso nicht ändern.

"Gut, ich würde sagen, wir gehen mal Richtung irgendeiner größeren Stadt."

Die Frauen, die uns begleiten wollten, wussten ungefähr, wohin wir gehen mussten. Tja, wie man sich denken konnte, lag uns wieder einmal ein langer Fußmarsch bevor.

Wie man sich vorstellen konnte, wurde es ein nicht sehr gemütlicher Spaziergang. Doch dieses Mal hatten wir uns wenigstens mehr Wasser mitgenommen.

Die Luft flimmerte und unser Gehirn spielte Streiche mit uns. Ich bildete mir die ganze Zeit eine Fata Morgana ein. Als wir nach vielen Stunden endlich an einen Ort kamen, wo ein paar Hütten und kleine Häuser standen, fassten wir wieder Mut. Hier herrschte wirklich kein Krieg, aber wenn man vorhatte, die Männer von Afrika zu nehmen, würde auch dieser Kontinent bald in Schwierigkeiten stecken.

Die Landschaft wurde immer öfter von Anzeichen, dass hier einmal jemand wohnte, gezeichnet und schließlich kamen wir in eine richtige Stadt. Viele Einheimische begegneten uns. War ja auch kein Wunder ...

Ich verspürte solche Sehnsucht nach Justin! Ob er überhaupt noch lebte? Ich hoffte es!

Die drei Frauen unserer Reisegruppe schafften es irgendwie, für uns Plätze in einem Flugzeug zu besorgen. Auf Grund des Krieges kostete es uns nichts, da wir eigentlich in unser eigenes Verderben flogen. Doch kurz bevor wir in die Maschine stiegen, überraschten uns unsere Begleiterinnen. Sie schüttelten ihre Köpfe und versuchten uns zu sagen, dass sie lieber hier bleiben wollten. Also mussten Emily und ich alleine reisen, was meine Zuversicht nicht gerade verbesserte.

"Juhu, das kann lustig werden", seufzte ich.

"Wir schaffen das! Bitte, Tara. Gib jetzt nicht die Hoffnung auf!", sagte Emily eindringlich.

"Ja ja, ist schon gut."

Da das Flugzeug nicht das Beste war, brauchten wir ewig, bis wir in Deutschland ankamen. Der Anblick, der sich uns bot, ließ unsere Hoffnung augenblicklich sinken. Überall Trümmer, Dreck, eingestürzte Häuser und das Schlimmste: Leichen. Emily und ich waren geschockt. Wir hätten nie gedacht, dass so etwas Kleines so weitläufige Folgen haben konnte.

Meine Freundin sagte kein einziges Wort. Nein, hier reichten Worte nicht aus, um das alles beschreiben zu können. Man konnte hie und da ein paar wenige Menschen sehen, die versuchten, sich aus den Trümmern zu befreien. Manche brachen nach ein paar Schritte einfach zusammen, andere Überlebende wimmerten nur vor sich hin. In ihren Blicken lag Schmerz, Trauer und Angst. Die Angst konnte man förmlich riechen; zusammen mit dem Tod. Es schien, als wäre die Welt stehen geblieben. Es herrschte so unglaubliche Stille, die äußerst unheimlich war.

"Tara, haben wir hier wirklich mal gelebt?", flüsterte Emily mit brüchiger Stimme. Ich schluckte und wünschte mir, wieder in Afrika zu sein.

"Ich weiß es nicht. Man erkennt nichts wieder."

Wir klammerten uns an den jeweils anderen und schlichen weiter.

"Weißt du eigentlich, warum der Krieg ausgebrochen ist?", wollte Emily wissen. Ich konnte es mir selbst nicht erklären. Ich hatte keinen Plan, aber mit meinem Vater konnte das doch unmöglich etwas zu tun haben, oder?

- Justins Sicht -

Es wurde langsam dunkel. Ich lag auf einem großen Feld im hohen Gras und starrte in den Himmel hinauf. Dabei dachte ich an Tara. Ob sie noch lebte? Ich wusste nur, dass die Frauen wegtransportiert wurden, aber wohin, wusste ich nicht.

"Hey, Justin!" Ich hatte keine Lust, mit irgendjemandem Worte zu tauschen. Ich wollte einfach nur hier unter den Sternen liegen und nachdenken.

"Justin, du fauler Sack! Jetzt komm schon!" Es war Hannes. Er kämpfte mit mir an einer Seite. Ich starrte einfach weiter in den Himmel, als sich Hannes neben mich legte.

"Was los?"

Ich seufzte nur.

"Deine Freundin?" Jetzt sah ich ihn an.

"Hast du denn gar keinen, den du irgendwie vermisst?"

"Nein, hatte noch nie jemanden. Meine Eltern starben, als ich zwei war und meine restliche Familie kenne ich nicht." Hannes war im Pflegeheim aufgewachsen. Er tat mir leid. Wieso gab es so viele Menschen, die ein so schreckliches, trostloses Leben hatten?

Gerade mussten wir nicht an die Front, dafür befanden wir uns im Schützengraben, wo es nur so von Krankheiten, Schmutz, Bakterien und Körperflüssigkeiten wimmelte. Mit der Zeit gewöhnte man sich jedoch dran. Das Essen schmeckte wie ein Stück Scheiße, aber na ja, ich musste schließlich bei Kräften bleiben.

Doch recht lange dauerte es nicht, als wir auch schon an die Front mussten. Man hatte irgendetwas über die Alliierten gemurmelt ...

Wir bewegten uns vorwärts im Gänsemarsch. Wir waren ungefähr zehn Männer; alle mit grünen, glänzenden Helmen und kakifarbener Kleidung. Langsam zog Nebel auf.

"Was hast du, Paul?", fragte ich den Mann vor mir. Er war etwas jünger als ich und schien ziemlich nervös zu sein. Er befand sich noch nicht lange hier.

"Ich will nach Hause", flüsterte er beinahe lautlos.

"Das wollen wir doch alle. Aber es dauert nicht mehr lang, das verspreche ich dir", antwortete ich ihm zuversichtlich.

Wir kamen in die Laufgräben und dann in die Wiesen. Das Wäldchen tauchte auf; wir kannten hier jeden Schritt Boden. Da war schon der Friedhof mit den vielen Hügeln und den schwarzen Kreuzen. Es war sicher schon weit nach Mitternacht, und deshalb auch stockdunkel, doch die Spannung, die in der Luft hing, hielt uns bei Kräften.

In diesem Augenblick pfiff, donnerte und krachte es. Wir bückten uns - hundert Meter vor uns schoss eine Feuerwolke empor. Ich würde mich wohl nie an das Geräusch gewöhnen. Jedes Mal durchzuckte es mich, wenn irgendwo ein Knall ertönte.

Im nächsten Moment hob sich ein Stück Wald unter einem zweiten Einschlag langsam über die Gipfel. Drei, vier, fünf Bäume segelten zu Boden und brachten dabei in Stücke. Schon zischten die kurz darauf folgenden Granaten.

"Deckung! Deckung!", brüllte jemand, und alle befolgten dem Befehl. Keinen Moment zu früh. Das Dunkel wurde wahnsinnig. Es tobte. Das Feuer der Explosionen erleuchtete kurz den gesamten Friedhof. Wir konnten froh sein, dass wir rechtzeitig auf den Friedhof gekommen waren, denn auf einem Feld hatte man überhaupt keine Deckung.

Nirgendwo gab es einen Ausweg. Man musste hier sein, egal ob man wollte, oder nicht.

Ich wagte im Aufblitzen einer Granate einen Blick auf die Wiesen. Sie waren ein aufgewühltes Meer, alles voller Flammen des Feuers.

Vor uns barst die Erde und es regnete Schollen. Ich spürte einen kräftigen Ruck, und wurde ein paar Meter weggeschleudert. Mein Hosenbein war durch einen Splitter aufgerissen. Ich ballte die Fäuste. Keine Schmerzen, doch das war nur der Schock meines Körpers. Ich würde die Verletzung schon noch bald genug zu spüren bekommen.

Da knallte etwas gegen meinen Schädel, sodass ich aufpassen musste, nicht ohnmächtig zu werden. Ich wischte mir den Dreck aus den Augen, um sehen zu können, was da gegen meinen Helm geknallt war, doch ich konnte es nicht erkennen. Vor mir war ein Loch in der Erde aufgerissen. Ich erkannte es nur undeutlich. Granaten trafen nicht oft auf dieselbe Stelle, also hechtete ich nach vorne und ließ mich in das Loch fallen. Ich spürte etwas, und klammerte mich sofort daran fest.

Wieder pfiff es. Ich stöhnte. Die Erde zerriss und spritzte in die Höhe, der Luftdruck drückte auf meine Ohren. Ich kroch unter das Ding, an dem ich mich nun schon eine Weile festklammerte. Es war eine Holzplatte; sie roch nach Harz und Erde. Da merkte ich, dass es der Deckel eines Sargs war. Ein armseliger Schutz gegen die herabfallenden Splitter.

Ich fand den restlichen Teil des Sargs und kroch darunter. Ich spürte einen Stofffetzen. Ein Verletzter? Ein Kamerad von mir? Ich schrie dem Menschen neben mir zu, doch der rührte sich nicht. Dann kapierte ich, dass es die Leiche des Sargs war. Es waren nur noch ein paar Knochen und die Kleidung übrig.

Das Feuer war stärker als alles andere. Ich erhielt einen Schlag ins Gesicht. Ich schaute mich benommen um und konnte schließlich Hannes erkennen. Er schrie mir etwas zu, doch gerade schlug wieder irgendwo eine Granate ein. Es schien, als würde die Erde selbst beben und wüten. Ich starrte in das Gesicht von Hannes. In einem Moment, in dem es kurz etwas ruhiger wurde, verstand ich meinen Freund. "Gas! Gaaas! Gaaaaaas!", brüllte er. Da kapierte ich.

Ich riss meine Gaskapsel heran und nahm die Maske heraus. Hektisch schob ich sie über meinen dröhnenden Kopf.

Hinter mir plumpste es. Einmal. Zweimal. Dreimal. Ich wischte die Augenscheiben meiner Maske vom Atemdunst sauber. Auf einmal befanden sich Hannes, Josi und T.J. neben mir. Zu viert lagen wir voller Anspannung in dem Loch, in das ich vorher gekrochen war, und atmeten so flach wie nur möglich.

Ich hatte die drei erst hier im Krieg kennengelernt. Im normalen Leben hätten wir uns nie gefunden. Dafür waren wir viel zu verschieden, aber hier war jeder gleich. Jeder wollte nur das Eine: Überleben! Das, was sich daheim abspielte, rückte in den Hintergrund. Hier drehte sich alles um den Krieg, der nicht aufzuhören schien.

Die ersten Minuten mit der Maske entschieden über Leben und Tod. "Ist sie dicht?", fragte ich mich, und ich war bestimmt nicht der Einzige.

Vorsichtig, den Mund auf mein Gewehr gedrückt, atmete ich.

Langsam schlich der weiße Schwaden der Gasgranaten über den Boden. Er sank in alle Vertiefungen. Wie eine weiche, Qualle legte er sich in unser Schutzloch; räkelte sich hinein.

Ich stieß Hannes an und bedeutete ihm, nach oben zu gehen, dort, wo der Nebel nicht ganz so dicht war. Doch wir kamen nicht dazu, denn ein zweiter Feuerhagel begann. Mit einem Krach sauste etwas Schwarzes zu uns herab. Hart schlug es neben uns ein. Ein hochgeschleuderter Sarg.

Mein Kopf brummte und dröhnte unter der Gasmaske. Meine Lungen waren erschöpft; sie bekamen nur mehr den heißen, bereits verbrauchten Atem. Ich glaubte, zu ersticken. Lange würde ich es nicht mehr aushalten.

Graues Licht sickerte zu uns herein. Wind fegte über den zerstörten Friedhof. Ich schob mich über den Rand unserer Deckung und sah, wie sich ein Mann einige Meter von mir entfernt erhob. Ich putzte die Fenster, die schon wieder ganz beschlagen waren. Ich starrte hinüber. Der Mann zog langsam seine Gasmaske herunter und schaute sich um. Ein paar Sekunden wartete ich - er brach nicht zusammen. Röchelnd riss ich mir meine Maske vom Kopf und atmete die frische Luft ein. Der Wind hatte das Gas zerstreut. Wie kaltes Wasser strömte die Luft in meine Lungen. Ich hatte noch nie solch eine Erleichterung gespürt!

Die Einschläge hatten aufgehört. Ich wandte mich zu Hannes, Josi und T. J. und winkte ihnen zu. Sie kletterten herauf und entfernten ebenfalls ihre Masken. Zu viert verschwanden wir so schnell wie möglich von diesem Friedhof. Ich bekam mit, dass der Junge, der vorhin vor mir gegangen war, an dem Gas erstickt war.

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Hallo! :)

Wie gefällt euch denn bis hierhin die Geschichte? Und was denkt ihr über dieses Kapitel? Ich würde mich sehr über ein bisschen Feedback freuen! :D

Eure Lina_Cel_♥♥


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