Fratze

Meine Blase wurde immer voller, bis ich mich schließlich dazu überwinden musste, auf diese eklige Toilette zu gehen. Ich schaute, so gut es ging, durch die Gitterstäbe, ob jemand kam, oder herguckte und erledigte dann so flott wie noch nie mein Geschäft. Ich war erleichtert. Gegenüber von mir war eine Frau, die auf dem Boden saß und vor sich hin weinte. Ich näherte mich wieder den Eisenstangen und beobachtete sie eine Weile. Ich schätze sie auf Mitte dreißig. Ihre kurzen blonden Haare hingen ihr matt herunter und waren glanzlos. Sie sah totunglücklich aus. Was war mit ihr? Als hätte sie meine Gedanken gehört,  schaute sie zu mir auf. "Was starrst du mich so an?", schnauzte sie, doch wirklich sauer klang es nicht, eher verzweifelt.

"Ich frage mich, was mit Ihnen los ist."

Sie lachte trocken auf. "Mädchen, hast du es denn nicht gesehen? Hier ist Krieg! Und ich habe meine gesamte Familie verloren! Wo ist sie? Wo ist sie?!", schrie die Frau und brach in einem weiteren heftigen Weinanfall aus. Erst jetzt wurde mir so richtig klar, was los war. Ich hatte zwar alles gesehen, die Armee, die Bomben, die Menschen, die darum kämpfen, bei ihrer Familie bleiben zu können, doch viele scheiterten kläglich - eigentlich die meisten. Was geschah mit den Kindern? Wo waren sie? Wo wurden sie hingebracht? Und was sollte aus diesen hunderten von Leuten werden? Die Frau war wieder ruhiger geworden und starrte nun ihre Füße an. Die Knie hatte sie an ihr Kinn angezogen und bettete ihren Kopf darauf.

"Sie sind nicht die einzige, die wen verloren hat", meldete sich wer anderer, der in der Zelle neben mir war. Es war ein Mann, das hörte man an der tiefen Stimme. "Ich weiß nicht, wo meine schwangere Frau ist, und sie müsste ihr Kind bald bekommen."

Die Frau schaute nun ihn an. "Das tut mir leid."

"Was haben die mit uns vor?", fragte jemand anderer, den ich nicht sehen konnte. Die Stimme war auch etwas weiter weg. Überall brachen laute Diskussionen aus. Ich setze mich auf mein 'Bett' und seufzte. Wo war Justin? Ich könnte doch einmal rufen ..., dachte ich mir, verwarf die Idee aber wieder, weil plötzlich alle leise wurden. Drei Männer - einer ging vorne, die anderen zwei hinter ihm link uns rechs, also wie ein Dreieck - gingen vorbei und warfen Blicke in jede Zelle.

"Eure Stadt gibt es schon bald nicht mehr. Unser Ziel ist es, euch alle auszurotten. Ist hier irgendwo eine Tara Steiner?" Ich erstarrte, das merkte die Frau mir gegenüber und musterte mich. Ihr Blick sah interessiert aus. Das bemerkte wiederum der Mann, der mich suchte.

"Du? Ist dein Vater Maximilian Steiner?" Ich nickte fast unmerklich. "Gut, ich habe ein Geschenk für dich", sagte der Mann begeistert und mit Vorfreude. Er holte mich aus meiner Zelle und fesselte meine Hände nach hinten auf den Rücken.

Wir gingen den langen Gang entlang zum Ausgang. Mir lief ein kalter Schauder mein Rückgrat hinunter, als ich die vielen eingesperrten Menschen sah. Sie riefen mir zu, manche hatten Mitleid mit mir, weil ich abgeführt wurde. Ich stellte mir nur eine Frage: Was für ein Geschenk erwartete mich?

Wir durchquerten einen weiteren Raum, der einfach aus Beton bestand. Keine Pflanzen, keine Bilder, nicht mal eine Tapete! Okay, das hier sollte auch nicht als Hotel gestaltet sein, aber trotzdem könnte es ein bisschen schöner sein. Ach, was denke ich denn da. Gerade gab es viel wichtigere Sachen, zum Beispiel, dass wir durch eine doppelflügelige graue Tür gingen in einen Raum, der ebenfalls nur aus Beton bestand. Ungefähr fünf Meter von mir entfernt war eine Liege, auf der jemand lag. Der Körper war mit hellgrünen OP - Tüchern bedeckt. Wer da wohl darunter war? Diese Frage wurde schnell beantwortet,  indem der Mensch abgedeckt wurde. Sofort drehte sich mir der Magen um, als ich sah, wer es war. Mia, meine erste und einzige Freundin. Und sie war tot. Ihre Haut war ganz weiß und die Totenstarre hatte schon lange eingesetzt; sicher vor ein paar Tagen schon. Ich musste würgen, doch gerade noch konnte ich es verhindern, mich zu übergeben.

"Kennst du sie?", fragte der Mann, der vorher nach mir gefragt hatte. Die anderen zwei waren einstweilen verschwunden. Ich nickte.

"Max hat sie mir gebracht. Er sagte, dass sie Mia heißt und deine beste Freundin war." Ich schluckte. Ich hatte einen dicken Kloß im Hals, sodass ich nicht sprechen konnte.

"Na gut, ich habe noch was anderes für dich. Es ist schöner und lustiger wie das hier." Anscheinend hatte er gewusst, dass ich nicht mehr mitkommen wollte, denn er warf mich über seine breite Schulter und trug mich einen Stock tiefer (waren wir schon unter der Erde?) und betraten einen weiteren Raum. Mein Vater war hier und musterte mich nun mit kritischem Blick, dann gab er von sich: "Ah, da ist ja meine wundervolle Tochter!" Die letzten zwei Wörter spuckte er aus, als wären sie giftig. Ich sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

"Tara, du kennst doch deine Mutter, richtig?", fragte er. Haha, sehr lustig! Sie wurde in den Raum gebracht und von einem Mann festgehalten. Ich erschrak, als ich sie sah. Ihre Haare waren wegrasiert; dadurch hatte sie eine Glatze. Außerdem war sie nackt, nur ein Schurz um ihre Hüften herum bedeckte eine kleine Stelle an ihrem Körper. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und hatte sehr lange und viel geweint - das sah man an den rot umrandeten Augen. Ihre Lippen waren rissig und bluteten ein wenig. Ihr gesamter Körper war schmutzig. Ihr Anblick war einfach ... scheußlich. Was hatten sie mit ihr gemacht? Ich hatte noch nie viel von meiner Mutter gehalten, trotzdem war es meine Mum und so wollte ich sie auf keinen Fall sehen. Sie war ja nicht diejenige gewesen, die nur gesoffen hatte und mich schlug, nein, das war ganz allein mein Vater. Er hatte ja auch Mum verprügelt. Mama war fast nie daheim gewesen. Mich wunderte es auch nicht; bei diesem Ehemann ... Ich wusste bis heute nicht, warum sie sich damals in Max verliebt hatte. War er früher vielleicht anders gewesen? Irgendwas hatte ihm möglicherweise sein Leben so versaut, dass er auf alles und jeden einen Hass hatte. Nur was war geschehen?

Plötzlich tauchten noch ein paar Männer auf, die alle bewaffnet waren. Schwer aussehende Gewehre lagen auf ihren Schultern. Sie warteten auf ein Signal von dem Mann, der mich hierhergebracht hatte, dann umkreisten sie meine Mutter und engten sie ein. Wimmernd stand sie dort zehn Meter von mir entfernt und neue Tränen fanden den Weg hinunter zu ihrem Kinn. Von dort tropften sie weiter auf ihren Brustkorb. Mein Vater ging mit zügigen Schritten auf meine Mutter zu und umfasste ihren Hals. Er drückte fest zu und zischte: "Du weißt, dass du alles machen musst, was ich dir sage, und das hast du aber verweigert. Also muss ich dich wohl oder übel töten, das weißt du aber bereits!" Ich zuckte zusammen. Was hatte ich hier eigentlich noch zu suchen?! Schnell weg hier!

"Nein! Bleib stehen! Du sollst deine Mutter leiden sehen, damit du endlich deinem Vater dienst!", rief der Mann, der mich in dieses Chaos gebracht hatte und verdrehte meine Arme grob auf meinen Rücken.

"Nein! Ich will das nicht sehen!", schrie ich und wehrte mich aus Leibeskräften, doch ich kam nicht weit. Er zerrte mich zurück zu meinem alten Standort und fesselte mich dort.

"Ellen, ich habe heute so richtig Lust, dich umzubringen. Weißt du was, ich mache aus dir eine Fratze!" Mein Vater lachte laut und böse. Er nahm ein alltägliches Küchenmesser in die Hand und machte ihr mit einer schnellen Handbewegung einen tiefen Schnitt in die linke Wange. Meine Mutter presste ihre Lippen aufeinander und unterdrückte einen Schmerzenslaut.

Wieso wehrte sie sich nicht? Vielleicht hätte sie ja eine Chance gehabt? Ich sah, wie mein Vater eine Nadel und einen violetten Faden in die Hand nahm und einfädelte. Dann stach er die Spitze in Mamas Unterlippe und fuhr mit der ganzen Nadel durch ihr Fleisch. Die Oberlippe nahm er auch gleich mit. Mir drehte sich der Magen um. Erst jetzt wurde mir bewusst, was er vor hatte. Mein Gedanke bestätigte sich, als er den Faden nach zwei Minuten zusammenknotete und die Nadel, die vom Blut ganz rot war, wegschmiss. Sie landete vor meinen Füßen.

Mein Vater hatte meiner Mutter den Mund zugenäht. An ihrem Kinn lief Blut herunter und tropfte zu Boden.

Danach nahm er wieder das Messer und schnitzte jeweils zwei diagonale Linien auf ihre Wangen.  Nun hatte sie zwei Kreuze im Gesicht. Mehr hielt ich nicht mehr aus - würgend beugte ich mich nach vorne und übergab mich. Mein Vater schnitt ihr zwei Finger ab, die zu Boden fielen. Nein, ich wollte das nicht! Bitte, lasst mich gehen! Bitte!, flehte ich in Gedanken. Vor meinen Augen wurde es schummrig, ich hörte nur noch, wie meine Mutter Ellen laut aufschrie, so gut das mit zugenähtem Mund funktionierte, weil ihr Max das Küchenmesser in den Bauch gestoßen hatte, dann fiel ich in ein tiefes schwarzes Loch.

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