Kapitel 01

Je näher er dem alten, baufälligen Haus kam, desto langsamer wurden seine Schritte und kurz bevor er dieses erreichte, blieb er stehen. An dieses Haus hatte er viele Erinnerungen. Sowohl gute, als auch schlechte.

Es war lange her, dass er sich hier hatte blicken lassen und nachdem er noch einmal tief durchatmete, griff er nach dem Knauf, um die Tür zu öffnen und ins Innere zu gehen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er von den ganzen Erinnerungen eingeholt wurde, die jetzt auf ihn unaufhaltsam einprasselten.

Der Blick fiel auf die große Holztür, die in einen Speisesaal führte. Von innen kamen Kinderstimmen, die sich lautstark über etwas unterhielten. Er lief in die Richtung, aus der diese kamen und schluckte, als niemand im Raum war. Er war alleine.

Was war hier los? Spielte ihm sein Kopf einen Streich? War es nur eine Szene aus seiner Vergangenheit, die ihm sein Gehirn abspielte?

Er schüttelte den Kopf, um wieder Kontrolle über seine Gedanken zu bekommen und ging zurück in den großen Flur, der sich mit weiteren Türen zu weiteren Räumen abzweigte. In seinen Gedanken kramte er danach, welche Tür die richtige war und ging zu dieser. Davor blieb er stehen, klopfte kurz und als das "Herein" ertönte, öffnete er sie und trat in das minimalistische Büro, welches seit Jahren in diesem Raum war.

Der Schreibtisch war noch immer der große aus Holz, der bereits bei seiner Ankunft hier stand. Die Regale verstaubten immer mehr und mehr und die Person, die an dem großen Tisch saß, wurde auch immer älter. Sie blickte über eine alte, dicke Brille zu ihm und lächelte, so dass ihre Falten im Gesicht noch deutlicher wurden.

"Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas bestimmtes?", erkundigte sie sich.

Ihre Stimme klang noch immer so weich, wie er sie in Erinnerung hatte und doch brachte er im ersten Moment kein Wort hervor, sondern sah diese alte Frau mit den mittlerweile grauen Haaren einfach nur an.

"Suchen Sie etwas?", wiederholte sie ihre Worte.

Der Neuankömmling schluckte den Kloß in seinem Hals herunter und zog sich einen Stuhl vom Schreibtisch weg, um sich darauf zu setzten.

"Ich brauche Unterlagen, dass ich vor früher hier war. Können Sie mir diese ausstellen?", fragte er und die Frau versuchte ihn zu erkennen.

Allerdings war es ihr nicht möglich, denn in den vielen Jahren, die vergangen waren, hatte er sich sehr verändert. Als er ihr sagte, wer er sei, riss sie die Augen weit auf und ihr rutschte fast die Brille von der Nase.

"D-Das k-ka-kann n-ni-nicht s-sein...", stammelte sie, unfähig ihrer Aufgabe nachzugehen und die gewünschten Akten zu suchen.

Sie starrte ihn einfach nur an, sagte nichts weiter und ließ eine Stille zwischen ihnen entstehen.

Nachdem sie sich doch wieder gefangen hatte, fragte sie: "Sind Sie es wirklich?"

"Ich bin es wirklich. Könnten Sie bitte die Unterlagen suchen, die ich brauche? Ich habe leider nicht viel Zeit..."

Sie nickte, schüttelte kurz den Kopf, stand auf und lief zu einem Regal. Während sie dorthin ging, knackte ihr Rücken lautstark, als sie sich streckte, um eines der alten Bücher herauszufischen. Mit langsamen Schritten kam sie wieder zum Schreibtisch und sank erleichtert, nicht weiter auf den Beinen zu sein, zurück auf den Stuhl, der knarrend seine Bemerkung dazu abgab.

Sie klappte das Buch auf, suchte nach den richtigen Dokumenten und markierte ihm diese, mit einem kleinen Zettel, den sie dazwischen legte.

"Es ist noch immer alles gut sortiert", erklärte sie und strich über die Farbe der Tinte, die auf dein Seiten klebte. "Wie immer..."

Sie schien, als würde auch ihr Kopf die Erinnerungen hervorrufen und ihr all die lebhafte Zeit widerspiegeln.

"Danke. Der Kopierer ist noch immer am Ende des Gangs?"

Er bekam als Antwort ein Nicken und nahm das Buch an sich, um die markierten Seiten zu kopieren. Das Gerät war nicht mehr das Neuste und hatte auch seine besten Jahre hinter sich. Allerdings erfüllte es noch seinen Zweck. Auch wenn er nur langsam an sein Ziel kam, mit jedem Schritt kam er diesem näher.

Als das Gerät endlich die letzte Seite gedruckt hatte, faltete er alles und steckte es in die innere Manteltasche, um dann zurück zum Büro zu gehen. Er wollte das Buch abgeben und dann so schnell wie möglich wieder verschwinden. Je länger er hier blieb, desto unangenehmer wurden die Erinnerungen und er musste nicht nur an die Zeit, die er hier alleine verbrachte, denken.

Ein weiteres Gesicht zwängte sich vor seine inneren Augen und sein Herzschlag beschleunigte sich erneut. Wie war das möglich? Vor allem, nach dieser ganzen Zeit? Wieso fühlte er noch immer so? Er hatte gedacht, diese Gefühle wären schon lange nicht mehr in seinem Herzen eingeschlossen...

Nachdem er wieder in das Büro kam, übergab er das Buch und verabschiedete sich von der alten Frau, drehte sich wieder zur Tür und wollte diese gerade öffnen, als sie bereits aufgeschoben wurde. Und dann erstarrte er mitten in der Bewegung.

Blaue Augen traf braune Augen.

Sie sahen sich gegenseitig an und beide schienen vergessen zu haben, dass sie atmen mussten, denn sie hielten den Atem an und rührten sich nicht mehr von der Stelle.

"Du...", entwich es dem Blauäugigen zu erst.

"Ich...", erwiderte der Mann, der die Unterlagen holte.

"Was machst du hier?"

Alles in ihm schrie danach, die Beine in die Hand zu nehmen und wegzulaufen. Doch seine Muskeln und Sehnen rührten sich nicht. So musste er einfach stehen bleiben und darauf warten, dass sein Körper sich wieder daran erinnerte, wie man sich bewegte.

"Ich wollte gerade wieder gehen..."

Seine Stimme sackte bei dem letzten Wort ab und hinterließ nur ein Krächzen.

"Ich kümmere mich gleich um die Kinder", sagte der Mann mit den blauen Augen und wandte sich damit an die ältere Frau, die ihre Brille auf ihrer Nase zurechtschob.

"Nur die Ruhe. Die Kinder sind noch oben. Es ist ja auch noch Mittagsruhe", lächelte sie sanft.

"Vielen Dank für die Unterlagen", fand er seine Stimme wieder und auch sein Körper fand die Beherrschung wieder, als er sich an dem anderen Mann vorbei drängte. "Auf Wiedersehen."

Mit diesen Worten wollte er gehen, wandte sich schnell zur Haustür und wurde dann am Handgelenk festgehalten. Der Griff war fest, aber nicht so, dass es wehtat.

Als er sich umdrehte, erstarrte er erneut und sah einfach nur geradeaus.

Braune Augen traf blaue Augen.

"Wieso warst du hier?", fragte der Mann mit den blauen Augen.

"Ich habe etwas geholt. Jetzt lass mich los und geh, warum auch immer du hier bist", antwortete er mit kalter Stimme und entzog sich seinem Griff. "Ich weiß außerdem nicht, wieso es dich etwas angeht, was ich hier gemacht habe..."

Die Stimme war deutlich kühler und schärfer, als er es beabsichtigt hatte. Doch rückgängig konnte er es nicht mehr machen, also wandte er sich wieder ab und drehte dem Blauäugigen den Rücken zu.

"Ich habe auf Briefe gewartet... Auf Antworten... Auf irgendein Lebenszeichen von dir...", ertönte die Stimme hinter ihm und sorgte dafür, dass er wieder stehen blieb. "Ich wollte, dass du dich meldest. Ich habe so oft gefragt, ob etwas mit der Post mitgekommen war, dass ich irgendwann unausgesprochene Antworten auf meine Frage vom Briefträger kam... Es hat verdammt noch mal wehgetan! Und es tut immer noch weh, wenn ich daran denke!"

"Du hättest mich einfach vergessen sollen, als du noch die Möglichkeit hattest...", erwiderte der Mann, der erneut zum Gehen ansetzte. "Ich habe dir bereits einmal gesagt, dass es nicht gut ist, wenn du dich so an mich klammerst. Du hättest dich früher von mir fernhalten müssen."

"Aber du weißt, dass ich es nicht getan habe und es auch nicht konnte... Vor allem nicht, nachdem was alles passiert war!", wurde die Stimme des anderen lauter und durchdrang den Flur.

Wenn er nicht aufpasste, dann würden die Kinder, die im oberen Geschoss ruhten, erwachen und schneller nach unten gekommen sein, als es ihm lieb war.

"Es ist jetzt egal... Es ist Vergangenheit und ändern kann und werde ich es nicht. Ich muss jetzt gehen. Also lass mich in Ruhe..."

Er lief weiter in die Richtung der Tür, bis er sie erreicht hatte, dann trat er in die kühle Mittagsluft, die ihm sofort mit eisiger Kälte gegen das Gesicht schlug. Es war ein Fehler, hierher zu kommen. Wenn er wirklich darüber nachdachte, dann hätte er anrufen sollen! Er hätte es anders klären müssen. Aber hierher zu kommen, war definitiv der falsche Weg gewesen.

Mit schnellen Schritten lief er über das Gelände. Sobald sein Auto in Sichtweite kam, beschleunigte er noch einmal und ließ sich rasch hinter das Steuer auf den Sitz sinken.

Wieso musste er hier auftauchen? Wieso musste er ihm begegnen? Es hatte ihm so schon viel Zeit und Mühe gekostet, die ganzen Erinnerungen an sein Leben hier zu verdrängen. Und diese Gefühle, die ihm jetzt gerade das Herz innerlich zerrissen, er hatte sie in einem dicken Safe verbannt und hatte gehofft, dass er niemals wieder geöffnet wurde...

Allerdings täuschte er sich und es war ein zu einfacher Code, den er für die Verriegelung benutzt hatte.

"Verdammt...", entwich es ihm und er ließ den Kopf genervt auf das Lenkrad sinken. "Warum eigentlich immer ich?"

Er schloss die Augen und seine Erinnerungen glitten zu dem Tag zurück, als er das erste Mal einen Fuß in das Gebäude setzte. Er wurde von einer Person vom Jugendamt hierher gebracht, weil seine Eltern ihn einfach auf einem Parkplatz an der Autobahn hatten stehen gelassen.

Ein Mann hatte ihn gefunden, als es in Strömen geregnet hatte. Dann hatte er die Polizei gerufen und sie hatten ihn mit sich genommen. Danach kam die Frau vom Jugendamt und hatte ihn in das Heim, vor dem er jetzt mit dem Auto stand, gebracht. An diesem Tag, an diesem besonderen Tag, hatte er den blauäugigen Jungen das erste Mal gesehen...

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