Kapitel 7

VERTRÄUMT BLICKTE MI auf ihren Pancake, auf dem die Butter schon längst zerschmolzen war. Er war ein kleines Bisschen angeknabbert worden, jedoch vergaß Mi vor lauter Denken zu frühstücken. Dabei war heute ihr erster Universitätstag, sie musste sich stärken, damit sie wenigstens vom Essen aus genug Energie hatte und sich etwas besser konzentrieren konnte.

"Ich glaube trotzdem, dass sie jetzt irgendwo auf der Erde arbeitet", meinte ein Junge, der an ihrem Tisch saß. Er war dunkelhäutig und hieß wahrscheinlich Ash. Aber Mi war sich nicht sicher, ob er so hieß, schließlich war sie die ganze Zeit in Gedanken versunken gewesen.

Neben dem Schwarzen saßen James, welcher sie drei zum Frühstück eingeladen hatte, ein Mädchen, das Cindy zum Verwechseln ähnlich sah und Cindy selbst, welche sich über die Theorien bestens auskannte.

"Es sei denn sie ist tot, aber das werden wir wohl nie herausbekommen. Ich habe zwar eindeutige Beweise dafür, aber ihr denkt natürlich es wäre zu weit hergeholt!", lachte Cindy, während sie zu dem Mädchen, welches neben ihr saß blickte. Das Mädchen neben ihr sah tatsächlich genauso aus wie sie, blonde, voluminöse Locken, eisblaue Augen und blasse Haut waren die auffälligsten Merkmale. Waren sie Zwillinge?

Nur eine einzige Sache unterschied das Mädchen von Cindy; eine Narbe, die sich über das linke Auge erstreckte und bis zum Hals reichte. Außerdem sprach sie im Gegensatz zu Cindy gar nichts. Zumindest hatte sie bis jetzt noch nichts gesagt, da war sich Mi sicher, auch wenn sie nicht wirklich zugehört hatte.

"Stimmt, wir haben schon viele Beweise. Also ich bin noch immer der Meinung, sie ist tot", rief Rae sarkastisch in die Runde. Heute trug sie einen auffällig lilafarbenen Lippenstift, der zu Mis Überraschung noch kaum am Frühstücken gelitten hatte und das obwohl sie sich nun schon wieder zwei weitere Pancakes auf den Teller gehievt hatte.

Angel saß während der ganzen Diskussion ruhig da, lächelte und lachte hin und wieder mit, redete aber dennoch kaum mit ihnen. Offensichtlich waren dies Freunde von Rae, da sie sich mit ihnen so gut verstand, dass man meinen konnte, sie würde die Gedanken der anderen lesen können.

Lucette konnte manchmal Mis Gedanken lesen, wenn sich das so sagen ließ.

Während Mi die Luft scharf einsog, schob sie leider etwas zu auffällig den Teller weg. Mi war genervt davon, andauernd an sie denken zu müssen. An Lucette.

James sah auf und blickte etwas beunruhigt zu Mi.

"Schmecken die Pancakes nicht?"

Mi lachte nervös und blickte verlegen weg. Gut, was sollte sie jetzt auch sagen? Dass sie genervt davon war, immer an die Verbindung zwischen Lucette und ihr denken zu müssen, welche noch immer nicht verschwunden war?

Sie versuchte es einfach mit einer Heute-ist-mein-erster-Tag-Nummer, da konnte schlecht jemand etwas dagegen sagen.

"Doch ... mir ist nur etwas schlecht geworden, du weißt schon ... das alles ist noch so neu für mich ...", meinte sie zu ihm und lächelte verwirrt. In Gedanken klatschte sie sich an die Stirn. Das was sie gesagt hatte ergab keinen Sinn, jedoch zuckte er sowieso mit der Schulter und widmete sich seinen Pancakes wieder, auf denen er gerade noch mehr Honig gegossen hatte.

Nun räusperte sich Angel, die offensichtlich die Aufmerksamkeit der Tracer an diesem Tisch auf sich ziehen wollte. James und Cindy hoben beinahe gleichzeitig den Blick von ihrem Frühstück.

"Wir müssen sowieso noch zur Bibliothek, bevor wir in die Übung gehen."

Angel lächelte unsicher und erhob sich von ihrem Platz. Während die Tracer ausgeglichen, jedoch trotzdem freundlich nickten und ihre Pancakes hinunterschlangen, stand auch Mi relativ rasch auf und trat neben Angel. Rae murmelte ihren Freunde, die sie glücklich angrinsten ein 'Bis Später' zu und tat es dann den beiden gleich.

Die drei Tracer gingen durch den Ausgang links und liefen geradeaus durch den riesigen Durchgang, der mit der mächtigen Glas-Kuppel geziert war. Etwa nach der Hälfte des Weges vom Durchgang zum Mittelpunkt der Halle, wo die Kuppel am höchsten war, bogen die Mädchen nach links ab.

Mi hatte gar nicht bemerkt, wie die beiden anderen abgebogen waren. Ihre Augen waren mal wieder auf die Kuppel gerichtet gewesen.

"Komm schon, Mi, wir haben nicht so viel Zeit!", rief Rae etwas ungeduldig, jedoch auf keinen Fall unhöflich. Mis graublaue Augen schwenkten vom vermeintlichen Himmel nach links.

Da die Bibliothek ungewöhnlicher weise keine Tür zum Gang hin besaß, konnte Mi bereits jetzt einige Regale hinter Angel und Rae erkennen, da die beiden in der Fassade standen.

In schnellen Schritten huschte sie zu ihnen, schritt die zwei Stufen hinauf und folgte ihnen durch die Bibliothek. Mi war doch interessiert, was für ein Buch ihr Angel geben wollte, da sie noch kaum etwas über die Rasse der Tracker erfahren hatte. Was unterschied sie, beziehungsweise alle anderen von Menschen?

Als sie durch gut die ganze Bibliothek gelaufen waren, die alles andere als klein war, kamen sie in eine Sackgasse, bestehend aus Holzregalen und alten Büchern. Angel ging voran und beim Vorbeigehen drückte sie abwesend und möglicherweise fast unbewusst ein Buch in das Regal hinein, da es ein wenig herausragte. Mi beobachtete, wie sich das Buch beinahe augenblicklich wieder zurück in seine vorherige Position schob. Seltsam, was sie so alles beobachtete und was andere gar nie beachteten. War sie etwa einfach übertrieben genau? Perfektionistisch?

Mi und Rae mussten nicht lange warten und hilflos Angel zuschauen, wie sie in der Sackgasse umherblickte, denn das blonde Mädchen mit den rosa Haarsträhnchen fand, was sie gesucht hatte relativ schnell. Mit einem Lächeln im Gesicht zog sie ein Buch aus dem Regal, drehte sie sich zu Mi und übergab ihr das Buch.

Gierig nach dem Wissen, welches die Lektüre zu bieten hatte, klappte Mi es auf, doch Rae schlug es zu ihrem Ärger sofort wieder zu.

"Nein, du beginnst jetzt nicht, das hier zu lesen. Die Übung beginnt gleich und wir müssen dir noch den Ablauf der Uni-Alltage erklären. Du erfährst sowieso gleich detailliert, was Tracker und Tracer und Menschen und weiß Gott was sind."

Ein wenig verdutzt über Raes Verhalten blickte Mi ihr nun in ihre hellbraunen Augen, die aufleuchteten. Schon klar, sie war ein eher impulsiverer Mensch, aber Mi hoffte trotzdem, sie würde nicht andauernd mit ihr so reden.

Angel schenkte Rae einen Blick, den Mi nicht wirklich deuten konnte. Sie folgte dem Blickkontakt verwundert und ließ das Buch inzwischen langsam sinken.

Nun sah Rae wieder zu Mi, etwas geduldiger und auch mit einem Hauch an Entschuldigung in ihrem Blick. Ihr Pony war glatt und bedeckte ihre Stirn, jedoch nicht ihre perfekt geschminkten Augenbrauen.

Mi räusperte sich, blickte verwirrt zwischen beiden umher und hob das Buch wieder an.

"Gut, ich werde es irgendwann am Nachmittag lesen. Gehen wir jetzt in die Übung?"

Sie wartete kaum auf eine Antwort, blickte auch nur kurz fragend, worauf die beiden anderen Tracer knapp, jedoch mit neutraler Mimik genickt hatten. Während sie das Buch in eine Tasche gab, welche ihr Rae am Morgen geborgt hatte, liefen sie nun wieder Richtung Ausgang der Bibliothek.

Der Vorlesungssaal war bereits mit Tracern angefüllt, doch nicht alle saßen auf den Plätzen. Viele standen noch beim Eingang herum und redeten miteinander.

Am Weg zu diesem Vorlesungssaal wurde Mi endlich erklärt, wie der Universitätsalltag ablief. Sie hatten jeden Tag, außer am Sonntag, dem Ruhetag, zwei Übungen und anschließend zwei Vorlesungen. Die Übung, die sie als erstes hatten, hieß Tracersoziologie, kurz TS und begann um 9:15. Sie dauerte eine dreiviertel Stunde, während die Übung danach, welche Physische Kompetenzen, kurz PK hieß, eine ganze Stunde dauerte. Bei den beiden Vorlesungen danach hatte sie immer vier Wahlmöglichkeiten, von jeden Tag auf das Neue, doch es war Pflicht, zu beiden Uhrzeiten bei einer der vier anwesend zu sein. Rae hatte ihr auch schon wieder begeistert auf dem Smartphone gezeigt, wo sie die täglichen Vorlesungsmöglichkeiten abrufen konnte. Ihre Stimmungsschwankungen, oder was auch immer das in der Bibliothek war, waren wieder vollkommen verschwunden.

Heute hatten die Tracer bei der ersten Vorlesungszeit die Wahl zwischen Mathematik, Spanisch, Physik und Philosophie, während sie bei der Vorlesung danach die Wahl zwischen Kunst, Geographie, Biologie und Ernährungswissenschaften hatten. Eigentlich wollte Mi einfach in dieselben Vorlesungen gehen, wie Angel und Rae, doch es stellte sich heraus, dass die beiden unterschiedliche Interessen hatten, da Angel in Mathematik und Biologie gehen wollte, während Rae Spanisch und Kunst wählte.

Als die drei nun eben in den Vorlesungsaal gingen, in welchem sie in einigen Minuten Tracersoziologie haben würden, entfernte sich Angel ganz plötzlich von den beiden und ging auf einer Gruppe von Tracern zu, die einige Meter vom Eingang weg standen. Sie redete mit einem bestimmten Jungen in der Gruppe, welcher sie aufmerksam und warm anblickte. Angel hatte nichts gesagt, sie war einfach gegangen und stand nun mit dem Rücken zu den beiden Tracern.

"Das ist Shell Lauren. Er ist ein guter Freund von Angel, Koreaner, ziemlich intelligent", fasste Rae kühl zusammen. Sie sah von den beiden, die miteinander diskutierten auf und sah nun zu Mi.

"Komm, setzen wir uns mal, sie wird gleich nachkommen."

Während die beiden in den hinteren Teil des Vorlesungssaals gingen, beobachtete sie die Tracer, die sonst noch in diesem Raum standen und sich nach und nach ebenfalls hinsetzten. Fast alle standen oder saßen in Gruppen zusammen, nur ein Mädchen tanzte aus der Reihe. Dieser Tracer saß ganz alleine, etwa in der Mitte, jedoch am Rand, auf einem Platz. Sie lehnte an der Wand und widmete ihre gesamte Aufmerksamkeit einem Laptop, welcher aufgeklappt vor ihr am Tisch stand.

Mi löste ihren Blick von dem Mädchen nur kurz, um nicht zu stolpern, da Rae nun von dem Gang, der in den Vorlesungssaal hineinführte, zu den Tischen abgebogen war. Beide drängten durch den schmaleren Durchgang durch, mit dem Ziel, freie Plätze in dieser Reihe zu erreichen. Als sie sich beide niedergelassen hatte, gaffte Mi nun wieder neugierig zu dem Mädchen, welches etwa fünf Reihen vor ihr am linken Rand saß. Der Laptop zeigte eine Menge an kryptischen Zahlen, Buchstaben und anderen Sonderzeichen, welche senkrecht angerichtet waren. Der Rest des Bildschirms war schwarz, doch die Zeichen flogen in Lichtgeschwindigkeit durch die Gegend. Das Mädchen fuhr sich durch sein dunkelbraunes Haar, welches beinahe so dunkel war, wie die Nacht selbst und richtete sich seine Brille, in welcher sich die Zeichen des Bildschirms widerspiegelten.

Rae hatte gemerkt, wie Mi sich für die Einzelgängerin interessierte und begann sich ihr zuzuwenden und leise zu ihr zu sprechen, darauf bedacht, dass dieses Mädchen es nicht hörte.

"Unheimlich, nicht wahr? Eigentlich hat niemand so wirklich eine Ahnung was sie da macht, aber sie ist wirklich, wirklich gut darin." Rae flüsterte beinahe, als sie sich noch weiter zu Mi vorbeugte. "Es gibt Gerüchte, dass sie bereits das gesamte System der IUU gehackt hat und die Kameras und so Zeug manipulieren kann. Die Tracker wurden vor einigen Monaten auf sie aufmerksam gemacht, haben sogar all ihre Geräte untersucht, aber sie haben nichts gefunden. Nichts, kannst du dir das vorstellen? Ich meine, sieh dir an, was sie da macht!"

Raes Stimme hatte den Klang angenommen, den sie immer annahm, wenn sie gerade den aktuellsten Klatsch erzählte. Leise fragte Mi weiter nach, da sie wirklich darin interessiert war, wer das dunkelhaarige Mädchen war.

"Hat sie irgendwelche Freunde? Oder ist sie eine Außenseiterin?", wollte Mi wissen.

"An sich sieht man sie normalerweise mit niemand anderem, da sie die meisten Tracer seltsam und abstoßend finden. Aber es gibt Gerüchte, dass Lucette Vermont und ihre Gruppe mal mit ihr gesehen wurden. Angeblich wird sie richtig fertiggemacht von denen. Aber keine Ahnung. Die sind sowieso etwas speziell."

Misstrauisch blickte Mi nun Rae an, während ihr Gehirn wieder auf Hochtouren arbeitete.

"Und wie heißt sie?", fragte Mi nun.

"Ayame Sato."

Als ob das dunkelhaarige Mädchen mit der Brille Raes Flüstern gehört hätte, klappte es den Laptop in einer schnellen Bewegung zu. Mi schaute augenblicklich auf, doch der Grund, warum Ayame so hektisch wurde, war wohl ein anderer.

Einen Moment später kam nämlich ein Tracker in den Vorlesungssaal. Doch als die Universitätsprofessorin den Saal betreten hatte, war der Laptop schon längst in eine schwarze Tasche verschwunden.

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