Kapitel 51
MI HOB DEN Kopf und hoffte, auf diese Weise Julias Aufmerksamkeit von ihren Händen wegzulenken, die heimlich das letzte Stück des hervorblitzenden grünen Einbands weiter hinter den Rücken schoben. Rae räusperte sich und spielte mit dem achteckigen Ring, den sie an ihren Finger gesteckt hatte. Angel trat einen Schritt zur Seite und sah mit gerunzelter Stirn durch den Türspalt. Sorgte sie sich, dass auch Ayame dem Gespräch lauschte? Immerhin hatte in diesem Haus niemand mehr Wichtiges zu erledigen, seit Mi erwacht war.
"Das Oktett", kam es von Julia und sie deutete auf Raes Hand. Ihre dunklen Augen blitzten auf, als sie sich im Ring widerspiegelten.
"Bitte?", fragte Angel zaghaft. Sie rieb sich ihre Hände und blickte zwischen Rae und Julia her. Mi brachte ihren Körper in eine aufrechte Position, um klarer denken zu können. Sie legte den Kopf schief und betrachtete das achteckige Ding genauer.
"Das Oktett. Rae trägt es am Finger", erklärte Julia und blieb kopfschüttelnd vor Rae stehen. "Mein Gott, habe ich das lang nicht mehr gesehen. Darf ich mal?" Ohne den Blick vom Ring zu lösen oder auf eine Reaktion der Tracerin zu warten, streifte sie ihr das achteckige Schmuckstück ab.
"Hey! Was soll das?", beschwerte sich Rae, doch Julia wandte sich desinteressiert ab und hielt den Ring gegen das Licht. Angel schenkte ihrer Zimmernachbarin einen warnenden Blick, als diese Anstalten machte, sich auf die Wissenschaftlerin zu stürzen. Mi schmunzelte in einem Anflug aus Zynismus bei dem Gedanken, was ohne der Blondine passiert wäre. Zu Rae war offensichtlich noch nicht ganz durchgedrungen, dass Menschen wesentlich zerbrechlicher waren und man ihnen ernste Verletzungen zufügen konnte, wenn man nicht Acht gab.
"Xyla hat damals gemeint, es wäre nicht notwendig, das Oktett zu erschaffen. Aber ich wollte auf Nummer sichergehen. Wenn es nur zwei Schlüssel für die IUU gibt, kann man sich das Risiko nicht leisten, dass beide verloren gehen. Ich habe darauf bestanden, dass sie ihn an sich nimmt, aber bestimmt kam er nie zum Einsatz", erzählte Julia und betrachtete den Ring verträumt. Über ihr schwebten nostalgische Erinnerungen an alte Freunde.
"Nun, uns hat dieses ... Oktett durchaus geholfen. Falls ihn Xyla nicht gebraucht hat, war er uns umso nützlicher", bemerkte Angel. Sie versuchte Augenkontakt zu Julia herzustellen, aber die Wissenschaftlerin schien alles um sich herum auszublenden. Sie drehte den Ring in ihren Händen und schlenderte durch den Raum. Ihr Blick traf durch Zufall auf den Koffer, woraufhin sie den Arm sinken ließ.
"Der Prototyp!", rief Julia und in ihren schwarzen Pupillen verschwanden fast alle düsteren Schatten, die darin geschlummert hatten. Voller Freude kniete sie sich vor das Gepäckstück, das innen viel größer war, als man ahnte. Sie ließ den Ring achtlos fallen, was Rae einen Laut des Entsetzens entfliehen ließ. Die Tracerin beugte sich nach unten und schnappte das Oktett. Mi betrachtete ihr seltsames Verhalten mit Argwohn. Es schien ihr äußerst wichtig zu sein, den achteckigen Ring und den Schlüssel der IUU zu schützen.
"Auch der Koffer hat uns geholfen ...", fügte Angel hinzu und legte den Kopf schief, als sie den Satz unvollendet in der Luft hängen ließ. Rae schien innerlich zu brodeln. Sie schnaubte als Antwort auf Angels Aussage.
"All diese Sachen habe ich schon seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Es ist, als ob ihr mir ein Stück der Vergangenheit zurückgebracht hättet", erklärte Julia und schloss die Augen. Sie strich über das abgenutzte Leder des Koffers. Das Ding sah alt und unnütz aus. Mi hatte ihn als unwichtig abgestempelt, bevor sie von seiner genialen Besonderheit gewusst hatte. Eigentlich eine geniale Tarnung. Das Einzige, das sie nicht verstand, war Julias Ausruf vorhin. Sie bezeichnete den Koffer als Prototyp. Prototyp wofür? Gerade wollte die vor Kurzem erst erwachte Tracerin den Kopf anheben und ihren Mund öffnen, um ihren Fragen freien Lauf zu lassen, aber Julia sprach blitzschnell weiter.
"Wisst ihr, ich würde euch gerne helfen. Ihr verdient jede Hilfe, um euch in dieser noch fremden Welt besser zurechtzufinden", behauptete Julia. Mi stutzte. Seit wann war diese Menschenfrau freiwillig hilfsbereit? "Es ist äußerst faszinierend, dass ihr euch gegen eure Natur als Tracer widersetzt habt. Das ist ein Phänomen in eurer Rasse, das ich nicht habe kommen sehen. Es wäre interessant zu beobachten, was als Nächstes geschieht. Wenn ich euch nur mehr Unterstützung bieten könnte, damit ihr euch auf der Erde besser orientieren könnt ... es würde mir neuen Sinn im Leben geben, wenn ich euer Verhalten, Erleben und weitere Veränderungen studieren könnte."
Angel hatte Julia zuerst mit einem Hoffnungsschimmer in den Augen angestarrt, aber das Glitzern war mit jedem Wort ein bisschen mehr verschwunden. Mi hatte es gewusst. Dieser Frau ging es nicht um die Tracer, sondern um ihre Forschung. Rae trat einen Schritt vor: "Also was jetzt? Sie würden uns gerne helfen? Oder doch nicht?" Sie kratzte an ihren roten Fingernägeln herum.
"Ich kann euch alle Informationen geben, die ihr braucht, um euch hier zurechtzufinden. Ich kann euch beibringen, wie man sich als Mensch verhält. Ihr könntet als Menschen getarnt untertauchen, wie es ausgewachsene Tracker für gewöhnlich tun. Aber ich habe leider nicht mehr die Mittel, euch zu richtigen Trackern zu machen", gab Julia zu und senkte ihren Kopf. Die Düsternis kehrte in ihre Miene zurück. Sie wandte sich vom Koffer ab und damit vom Glück, das sich in jeder ihrer Bewegungen widergespiegelt hatte.
Betretenes Schweigen breitete sich im stickigen Raum aus. Alle drei Tracer wussten genau, warum sie nicht die Mittel hatte. Angel hatte erwähnt, dass am Ende des Tagebuchs geschrieben steht, dass alles zerstört wurde. Es ging um die Zeremonie, mit der man sich zu einem Tracker wandelte. Julia hatte damals versucht, die Barriere zwischen Tracer und Tracker zu überwinden, damit man von dem Punkt an ein Tracker war, an dem man als Mensch gezeichnet wurde. Doch kurz vor ihrem Durchbruch hatte sie ihre gesamte Arbeit verloren. Nichts war mehr übrig.
"Aber haben Sie nicht mal mehr die alte Version der Zeremonie?", fragte Angel und knetete ihre Finger. Ihre Stimme war sanft und vorsichtig, als wollte sie Julia mit ihren Worten nicht verletzen.
"Nein. Gar nichts. Ich besitze gar nichts mehr dieser Art", schoss es aus Julia. Ihre stahlharte Miene war der Wand zugekehrt und starrte Löcher in die Mauer.
"Sorry, aber ich bin wirklich neugierig. Wissen Sie, die Tracker in der IUU hatten anscheinend Spaß daran, ein Geheimnis daraus zu machen, was bei dieser Zeremonie passiert. Wir wissen eigentlich nur, dass es sie gibt und man dadurch zum Tracker wird. Mehr nicht. Die haben das immer hinter verschlossenen Türen gemacht und ich hab mich immer gefragt, was da drin vor sich geht. Tanzen die irgendwelche seltsamen Dinge und sprechen Zauberformeln? Der Name hat mich so etwas in der Art immer denken lassen", redete Rae vor sich hin und lachte verlegen über ihre eigenen Worte. Sie kratzte sich am Kopf, als sie Julia nach einer Erklärung verlangend betrachtete.
"Falsch. Es ist ein Serum, das Tracer theoretisch in verschiedenen Formen verabreicht bekommen können. Der irreführende Name Zeremonie war Xylas Idee, da sie damit verhindern wollte, dass Tracer mit Ängsten vor Spritzen und Blut beunruhigt werden könnten. Es ging ihr immer um die Gesundheit der Tracer. Sie wollte sie beschützen und wohl behütet aufwachsen sehen, bevor sie ihnen ihre Erinnerungen an die Vergangenheit zurückgibt. Die Jugendlichen sollten in einer sicheren Welt zu Erwachsenen werden, damit sie besser mit den Lasten ihrer Schicksale umgehen können. Warum sonst wählte Xyla immer so sorgfältig aus, welches Menschenkind gezeichnet werden sollte?", erklärte Julia und zog ihre Schultern hoch. Mi horchte auf.
"Schicksale?", fragte Mi und beugte sich interessiert nach vorne. Das hatte man ihnen in der IUU nie erzählt. Zumindest ihr nicht.
"Natürlich. Oder dachtest du, die Tracker laufen auf der Straße herum und zeichnen unwillkürlich Jugendliche und entreißen ihnen damit ihr glückliches Leben? Nein. Jeder von euch ist aus demselben Grund ausgewählt worden. Jeder von euch hat etwas in seinem früheren Leben erlebt, das ihn an den Abgrund gedrängt hat. Tracker recherchieren genau, bevor sie einen Menschen zeichnen. Xyla hatte immer nur jene ausgewählt, die keine Zukunft oder keine Familie haben. Oder auf sonstige Weise bedroht waren", sprudelte es aus Julia heraus. Sie schien wieder an Xyla zu denken und somit an die Pläne, die sich die beiden wahrscheinlich gemeinsam ausgedacht hatten.
"Wow, das wusste ich nicht", kam es von Rae. "Ich hatte ein völlig anderes Bild von den Trackern. Warum wird uns das nicht erzählt?"
"Das ist logisch. Wir sollen uns keine Sorgen um unsere Vergangenheit machen. Wenn sogar ein Deckname für eine Injektion erfunden wird, warum sollte man uns mit beunruhigenden Erinnerungen belasten?", überlegte Angel und biss sich auf die Lippe.
"Punkt für dich", murmelte Rae. Mi betrachtete, wie über beiden von ihnen Gedanken waberten. Gedanken darüber, was ihr früheres Leben so schrecklich gemacht haben könnte. Waren sie auf der Straße gelandet? Verarmt? Hatten sie häusliche Gewalt erlebt? Alles war möglich. Das konnte sie innerlich zerfressen, beinahe so sehr, wie es Mi zerfraß, dass sie nicht aus demselben Grund gezeichnet wurde. Bei ihr waren es böse Absichten gewesen. Lucette hatte ihr Leben geraubt und zur Hölle gemacht.
"Wie auch immer", sprach Angel und räusperte sich. "Dann finden wir uns eben damit ab, dass wir uns ohne den alten Erinnerungen in unserem neuen Leben zurechtfinden müssen. Oder gibt es eine andere Möglichkeit, an die Zeremonie heranzukommen? Ich glaube kaum, dass man sie uns schenkt, wenn wir zurück in die IUU gehen und darum bitten." Ihr Blick schweifte zum Schlüssel, den Rae in der Hand hielt.
"Wir könnten uns in die IUU schleichen und sie stehlen", schlug Rae mit einem Schulterzucken vor. "Rückblickend betrachtet war es doch auch ein Kinderspiel, den Schlüssel zu stehlen, in den Krankentrakt einzubrechen, aus der IUU auszubrechen ..." Sie zählte die Dinge auf, als wäre es nichts, doch Angel unterbrach sie kopfschüttelnd.
"Beruhig dich mal, Rae", fing sie an und nahm einen tiefen Atemzug. "Zuerst einmal: all das waren Hindernisse, die wir nur mit viel Glück und Arbeit bewältigen konnten. Außerdem wären wir ohne Ayames Hilfe von Anfang an gescheitert. Dann darfst du nicht vergessen, dass wir den Überraschungseffekt auf unserer Seite hatten. Niemand hat damit gerechnet, dass drei Tracer dazu in der Lage wären, aus der IUU auszubrechen. Aber jetzt haben die Tracker unsere Abwesenheit bestimmt bemerkt und entsprechende Sicherheitsvorkehrungen getroffen."
"Na, und? Wir können es ja mal versuchen", überlegte Rae. "Was haben wir zu verlieren?"
"Unsere Freiheit. Wir dürfen nicht übermütig werden. Tracker sind stärker als wir, schon vergessen?" Angel machte einen Schritt auf sie zu und betrachtete sie voller Unglauben.
"Tu nicht so. Ich bin nicht dumm", knurrte Rae. "Ich denke trotzdem, dass Ayame dem Trackerhaufen hundert Schritte voraus ist. Mit dieser Tracerin an Board werden wir den Clowns in der IUU immer voraus sein."
"Rae, wir können Ayame nicht für immer und ewig ausnutzen!", rief Angel empört.
"Doch, wir können es und wir werden es, wenn es notwendig ist!", gab Rae zurück und verschränkte ihre Arme.
"Stopp!", warf Mi ein und blitzte beide warnend an. "Beruhigt euch." Angel rieb sich seufzend die Augen und Rae starrte sie mit mahlendem Kiefer an. Es gab eine Sache, die Mi den Tracerinnen noch nicht gesagt hatte und die es unmöglich machte, dass sie die Risiken eingingen und das Serum stahlen. Sie wusste nicht, ob sie die Zeremonie überleben würde. Bei ihr war gar nichts normal - winzige Fetzen von Erinnerungen kehrten zurück, ihre Verbindung zu Lucette bestand noch immer und würde vermutlich ewig fortsetzen, Lucette war noch nicht mal Tracker, was Mis Existenz grundsätzlich infrage stellte. Bei allen Trackern, wenn es bei der Zeremonie eine Ausfallsquote gab, dann war sie die perfekte Kandidatin.
"Wieso kümmern wir uns nicht später darum?", schlug Mi vor. "Es gibt so viel anderes, das wir davor zu erledigen haben. Außerdem würden wir einen guten Plan benötigen, um das durchzuziehen. Ich denke nicht, dass wir das von heute auf morgen machen können. Ist es nicht besser, wenn wir unsere Prioritäten neu ordnen und zum Beispiel zuerst klären, wo die nächste Stadt liegt und was wir alles brauchen, um uns dort zurechtzufinden?" Mi griff sich an die Stirn und kniff die Augen zusammen. Es fühlte sich nicht richtig an, die beiden anzulügen. Ging es nach ihr, würde sie die Sache mit der Zeremonie einfach bleiben lassen. Aber wenn sie ihnen vom Risiko erzählte, würden sie sich nur noch mehr Sorgen machen. Sie war gerade erst erwacht und hatte ihnen mit ihrem langen Schlaf bereits genug Angst eingejagt.
"Wie ihr wollt", gab Rae mit einem bitteren Unterton von sich. "Aber eine Idee hätte ich noch: Julia, was wenn Sie in die IUU gehen und sich die Zeremonie holen?" Neugierig betrachtete sie die Wissenschaftlerin und ignorierte Angels Seufzen.
"Ich?", fragte Julia überrascht. "Keine gute Idee. Ich war bei Xyla immer willkommen, aber die anderen Urtracker haben mich verabscheut. Zumindest hat mir Xyla das erzählt, als sie das letzte Mal hier war. Als sie damals die Zeremonie verabreicht bekommen haben, war ihre Leichtgläubigkeit verschwunden und sie begannen mich dafür zu verurteilen, dass ich sie eingesperrt und ihnen das angetan habe. Soweit ich weiß, haben alle Urtracker nach der Zeremonie die IUU verlassen und sind über dem Globus verteilt untergetaucht." Sie kratzte sich am Kinn.
"Was ist mit Pond? Gibt es eine Chance, dass sie ein gutes Bild von Ihnen hat?", bohrte Rae nach.
"Ich weiß es nicht. Aber falls sie mich nicht kennt, hat es keinen Sinn. Dann würde sie mich für eine gewöhnliche Menschenfrau halten, was uns nichts bringt", grübelte Julia. Plötzlich runzelte sie ihre Stirn. "Vielleicht sind doch nicht alle Urtracker weg, vielleicht gibt es noch welche auf der IUU ... Brown, Harper, Jones, Connor? Sagt euch einer dieser Namen etwas?" Mit stechendem Blick sah sie zwischen ihnen hin und her. Rae sah ratlos drein, doch auf einen Schlag wurden alle drei Tracerinnen wach und starrten Julia an.
"Haben Sie gerade Jones gesagt?", fragte Angel nach und blinzelte. "Doktor Jones?" Die Wissenschaftlerin atmete hörbar ein und aus.
"Höchst interessant ... Jones ist als Einzige auf der IUU übrig", murmelte Julia. "Sie ist die letzte Urtrackerin und das sagt für mich alles. Eindeutig ist sie die richtige Universitätsleiterin, nicht Xylas Nichte. Glaubt mir, sie zieht die Fäden." Bestimmend nickte sie.
"Und hilft uns das weiter, was die Zeremonie angeht?", fragte Rae mit schief gelegtem Kopf.
"Nein. Jones hasst mich am meisten von allen Urtrackern. Sie war immer eifersüchtig", erklärte Julia und versank erneut in Erinnerungen.
"Toll", gab Rae von sich und verdrehte die Augen.
"Können wir uns jetzt bitte den wichtigen Problemen zuwenden?", wollte Angel wissen. Sie spielte mit ihren Fingern und starrte den Boden an.
"Was ist aus Xyla geworden?", kam aus Mis Richtung. Alle drei sahen sie überrascht an, doch in Julias Blick mischte sich sogleich ein Hauch von Enttäuschung.
"Keine Ahnung. Aber ich würde es zu gerne wissen", murmelte Julia und senkte den Kopf. Der düstere Schemen über ihr nahm sie voll und ganz ein. Sie ging auf die Tür zu und verließ ohne ein Wort den Raum. Alle drei Tracerinnen sahen sich fragend an. Hatte Mi einen wunden Punkt getroffen?
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