Kapitel 5

NACHDEM MI ALLE möglichen Schlafpositionen durchprobiert hatte, entschied sie sich letztendlich doch dafür sich einfach auf den Rücken zu legen. Sie starrte an die Decke, als wäre sie gerade das Interessanteste der Welt. Schlafen würde sie diese Nacht wohl doch nicht können.

Nachdem die Mädchen fertiggegessen hatten, waren sie fast direkt ins Bett gefallen, doch Mi hatte nun schon seit mindestens einer Stunde kein Auge zugedrückt. Viel zu viele Fragen, welche sie den ganzen Tag über ignoriert beziehungsweise verdrängt hatte, traten nun wieder in den Vordergrund.

Was sollte sie von dem Ganzen nur halten? Anscheinend dachten Angel und Rae nicht weiter darüber nach, wie sie hier hergekommen waren, oder woher sie kamen. Aber Mi konnte das nicht einfach hinnehmen, warum sollte sie auch?

Mi musste sich jetzt einfach einen Überblick über alles schaffen. Sie selbst war also ein Tracer und würde nun ihre Zeit in dieser Universität, in der IUU verbringen müssen. Angel hatte ihr erklärt, dass sie in den Übungen über die Fähigkeiten noch erfahren würde und über welche Tracer verfügten. Genaueres wusste sie jedoch nicht, aber 'Fähigkeiten' klang schon einmal vielversprechend. Diese Tracker wussten dann ja angeblich auch mehr über sie selbst, das durfte sie nicht vergessen.

Gut, also sie würde nach vier Jahren zu einem Tracker werden, wie auch immer das funktionieren mochte, so war der Plan für das Leben, welches sie anscheinend nun führen musste.

Alles wurde ihr einfach eingesagt und sie musste es einfach tun, so wie die anderen Tracer, aber warum war sie die einzige, welche all das in Frage stellte? War bei ihr möglicherweise tatsächlich etwas falsch gelaufen?

Mi konnte sich noch gut an die Worte der Ärztin - 'Denken sie an die von der Routine abweichenden Umstände' -, erinnern und das klang ganz und gar nicht normal.

All das bereitete ihr Kopfschmerzen. Vor allem der Gedanke, dass sie einmal ein Menschenmädchen gewesen sein musste, bevor sie von Pond gezeichnet wurde, kam ihr wirklich falsch vor. Sie erinnerte sich an nichts und ein Mensch zu sein fühlte sich noch viel fremder an, als alles andere im Moment. Wer weiß wie viel von dem auch wahr war.

Nun musste Mi über Angel und Rae nachdenken. Sie war sich ziemlich sicher, dass diese beiden Tracer ehrlich waren. Sie waren einfach die herzlichsten Personen, die sie bisher kennen gelernt hatte. Die zwei Mädchen hatten es auf eine ehrliche Art und Weise geschafft, sie von diesem ganzen Albtraum abzulenken. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass diese Tracerinnen etwas Böses im Sinne hatten, da einfach niemand so gut lügen konnte. Mi konnte den beiden einfach keine Schuld an dieser verwirrenden Existenz geben, die sie durchlebte.

Pond war natürlich als ein so hohes Tier in der IUU schon sehr verdächtig, aber sie war auch so leicht zu durchschauen. Man sah ihr jede Lüge an, eigentlich war sie sich sicher, dass mit ihr nicht alles stimmen konnte, wenn Pond so verdächtig herum stotterte.

Aber was sollte sie nun tun? Sollte sie Alarm schlagen, gegen alles was ihr vorgeschrieben wurde protestieren und sich einen Weg aus der IUU finden? Diese ganze Ruhe und Ordnung, welche hier herrschte einfach ignorieren? Anscheinend wussten diese Tracker doch etwas über diese Rasse, welcher Mi schließlich ebenfalls angehörte.

Mi entschloss sich dazu abzuwarten. Sie würde einfach tun, was verlangt und erwartet wurde, immerhin wurde sie nicht gezwungen, es wurde hier davon ausgegangen, dass man es tat. Sie würde die Augen und Ohren offen halten und immer alles kritisch betrachten.

Erst wenn sie mehr wusste, würde sie handeln ...

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... die Sonne wärmte den Rücken des Mädchens und hinterließ ein angenehmes Kribbeln. Das Mädchen warf sich in den Sand und bewegte seine kurzen Arme und Beine so, dass ein Sandengel darin entstand. Sein Kleidchen wurde dreckig, aber auch das störte das Mädchen kein bisschen. Alles was zählte war das Rauschen des Meeres und die Wärme der Sonne. Die Kühle des Sandes ... die Kühle des ... des Messers ...

Das Messer ... sofort ließ sie es los, als ihr klar wurde, dass sie es in den Händen hielt. Das Metall prallte am Boden auf und hinterließ ein Klirren, welches das blutrünstige Gurgeln der Frau übertönte, die vor ihr lag. Als das Klirren verstummte, war die mollige Frau schon längst still gewesen. Noch immer strömte das Blut aus ihrem Bauch. Als sie sich über die dickliche Tote beugte, fielen ihr rot-schwarze Strähnen in ihr Gesicht, die sie hektisch wieder nach hinten strich, sich jedoch noch mehr rote Strähnen zauberte, da ihre Hände wie in Blut getunkt waren. Niemandem wäre das aufgefallen, immerhin enthielten ihre schwarzen Haare bereits blutrote Bereiche.

Obwohl sie einigen schon weit Schlimmeres angedroht hatte, war es noch nie so weit wie jetzt gekommen. Für sie war das Töten tatsächlich neu und schockierend, auch wenn man es ihr nicht ansah ...

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Mi schreckte so heftig aus ihrem Traum, dass sie beinahe aufgeschrien hätte. Mit zitternden Händen schlug sie die Bettdecke, welche vollkommen überflüssig war auf die Seite und erhob sich aus ihrem Bett, um in die Küche zu stürzen und sich ein Glas Wasser einzuschenken.

Naja, einschenken konnte man das nicht nennen, immerhin war es dunkel und sie hielt zuerst ihre Hand unter den Strahl, anstatt das Glas. Trotzdem schaffte sie es irgendwie das Wasser hineinzubekommen, nur um es in großen Schlucken zu leeren und das Ganze nochmal zu wiederholen. Erst danach konnte sie anfangen zu verarbeiten, was sie gerade gesehen hatte.

Sie hatte geträumt, zuerst sogar wunderschöne Dinge, nämlich wieder vom Meer, aber dieser Traum ging plötzlich über, in... In einen schrecklichen Albtraum. Aber das was sie geträumt hatte... Sie hatte sich so gefühlt als hätte sie das alles erlebt, fast fühlte sich Mi schuldig. Aber so sehr es sich auch angefühlt hatte, dass sie es gewesen war, das war nicht ihr Traum gewesen.

Dieser Traum gehörte mitsamt seinen Gefühlen und Gedanken eindeutig einer anderen Person, Mi war sich auch schon ziemlich sicher, wem das alles gehören musste.

Zur Sicherheit rief sie sich noch einmal ein bestimmtes Bild von diesem schockierenden Traum in Erinnerung. Sofort stockte sie, allein beim Gedanken an den Gestank von Blut und dem Gefühl, ein Messer als Mordwaffe in den Händen zu halten. Wieder überkam sie eine Schockwelle, tatsächlich fühlte sich das Ganze viel zu echt an.

In Gedanken sah sie die Strähne, welche ihr in scheinbar ihr Gesicht fiel. Rot vermischt mit schwarz, Blut vereint mit der Dunkelheit, diese Haare konnten nur einer Person gehören, das war Mi glasklar.

Lucette Vermont, das Mädchen, welches sie angelächelt hatte, als wäre es der Teufel höchstpersönlich. Anscheinend hatte sie nun doch mehr mit ihr zu tun, als sie es wollte und gedacht hatte, denn sie kannte nun ein dunkles Geheimnis von ihr.

Möglicherweise ein Geheimnis, welches sie noch in verhängnisvolle Situationen bringen konnte, wenn Angel beim Abendessen die Wahrheit gesagt hatte.

Lucette Vermont hatte jemanden umgebracht.

Möglicherweise war es sogar diese Putzfrau, welche ja ach so plötzlich von der Bildfläche verschwunden war.

Gedanken strömten durch Mis Gedächtnis, viel zu viele für ihren verschlafenen, verwirrten Zustand. Das konzentrierte Strudeln ihres Denkens verursachte ein Stechen in ihrem Kopf, worauf sich Mi genervt die Schläfen rieb.

Musste das alles sein? Konnte sie diese ihr noch viel zu fremde Welt nicht wenigstens ein kleines Bisschen in Ruhe lassen? Ihr etwas Zeit geben, damit sie eine Chance hatte, sich zu wehren? Gerade morgen war ihr erster Tag an der Universität und dann musste dieser Mist hier passieren.

Wut auf alle und alles ersetzte ihren Schock und die Angstgefühle, welche von dem blutigen Traum verursacht wurden. Besser, Mi verdrängte nicht immer das Wesentliche, sie würde sich damit viel Stress ersparen.

Übermüdet von all dem Gedankenschlamassel ließ Mi nun von der Spüle ab und setzte sich auf einen Hocker, welcher in ihrer unmittelbaren Nähe stand. Ihre Augen blickten suchend durch den Raum, bis sie eine leuchtende Digitaluhr erkannte und die Uhrzeit entziffern konnte.

02:11.

Auch wenn es hier niemand sehen konnte, rollte Mi nun ihre Augen theatralisch. Nie im Leben würde sie es schaffen jetzt noch einzuschlafen, davon war sie überzeugt. Trotz der Müdigkeit spielte ihr Gehirn einfach verrückt, sie konnte jetzt nicht schlafen.

Etwas frischere Luft würde Mi nun gut tun, blöd nur, dass man ab 23:59 das Zimmer nicht verlassen durfte, außer bei Notfällen.

Außer bei Notfällen? Ach, in diesem Zustand war Mi das auch schon egal, sie dachte nicht viel nach, erhob sich einfach spontan und schlich aus der Küche. Als sie kurz lauschte um zu hören, ob Angel oder Rae nicht doch aufgewacht waren, hörte sie das leise, flache Atmen der beiden, weswegen sie vermutete, dass sie sich wohl in der Tiefschlafphase befinden mussten. Darauf bedacht, leise zu bleiben schlüpfte sie in irgendwelche Schuhe - anscheinend hatte sie Angels Ballerinas erwischt, uns - und begab sich nach draußen.

Tatsächlich war die Luft im Gang um einiges kühler und frischer, immerhin schliefen in dem doch nicht allzu großen Zimmer drei Person, welche die Luft schnell verbraucht hatten.

Mi ging schlendernd und genießerisch den Mädchentrakt entlang, versuchte ihre Lunge mit der Luft von hier zu füllen.

Es hatte sich wirklich gelohnt, einfach unüberlegt und auf die möglichen Folgen ignorierend zu handeln. Falls es tatsächlich Überwachungskameras gab, oder etwas dieser Art, würde sie Pond einfach vorgaukeln, sie hätte doch eine gewisse Verbindung zu ihr gespürt. Das wollte sie doch fast von ihr hören, etwas über die mögliche Verbindung. Fast hätte Mi angefangen zu lachen.

Moment - wie war das nochmal? Diese Verbindung?

Nun arbeitete ihr Verstand wieder auf Hochtouren, er schien nun fast schon anzufangen zu Rauchen. Sie musste sich unbedingt an alles erinnern, was ihr über diese seltsame Verbindung erzählt worden war.

Moment... Wenn man als menschlicher Jugendlicher gezeichnet wurde, war der Tracker, der das getan hatte sein Zeichner und daraus... Folgte dann diese Verbindung.

Laut Pond hielt die Verbindung zu seinem Zeichner vierundzwanzig Stunden an, Angel hatte ihr jedoch erzählt, dass sie bei manchen schwächer und bei anderen stärker war.

Was war dann, wenn... Nein. Nein, das konnte doch nicht sein. Aber es machte Sinn!

Ungläubig schüttelte Mi ihren Kopf und fing fast wieder an sarkastisch zu lachen. Aber doch, es musste so sein, es passte alles zusammen!

Lucette Vermont. Schwarze Haare, rote Strähnen.

Pond hatte sie angelogen, das war offensichtlich gewesen. Aber was war, wenn tatsächlich jemand anderes sie gezeichnet hatte? Was sprach dagegen? Ponds Augen voller Unsicherheit und Lügen auf jeden Fall nicht.

Aber sie hatte Träume von Lucette. Für sie war das die Bestätigung, welche sie brauchte.

Lucette Vermont, der Tracer, welcher sie gezeichnet hatte. Das Mädchen, mit welchem sie eine Verbindung hatte, nämlich offensichtlich eine starke. Sie war falsch. Gefährlich. Eine Mörderin.

Sie hatte kaum fertig gedacht, als sie plötzlich an den Schultern gepackt und gegen die Wand geworfen wurde.

Als hätte sie die ganze Zeit nicht gedacht, sondern alles laut ausgesprochen, starrte Lucette sie an, während ihr Blick Kälte und Wut in Mis Augen schleuderte. Ihr Griff wurde immer fester, bis ihre Schultern förmlich zersprangen.

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