Kapitel 45

"TATSÄCHLICH?", FRAGTE ANGEL und ihr Blick fand die gewöhnlich aussehende Tür. In ihr keimte sich Panik auf, dass Rae sich irrte und sie ab jetzt für immer hier gefangen waren. Das unwohle Gefühl ließ sie weiter nach vorne gehen. "Und wie funktioniert das?"

"Erklär ich dir. Also. Wenn man drinnen ist - also im weißen Raum -, braucht man den Schlüssel nicht. Nur im Lift braucht man ihn", fing Rae an und strich über die braune Tür, als wäre das Holz ein lebendiges Tier. "Wenn man aber die Koordinaten eingibt, in die Welt hinausgeht und einfach so zumacht, ist die IUU weg."

Noch während sie erklärte, griff sie nach der Klinke und öffnete mit Schwung. Der Luftzug blies Angel eine rosa Strähne aus dem Gesicht. Neugierig blinzelte sie und schüttelte sich flüchtig, da ihre Haare die Sicht einschränkten. Sie erwartete fest, dass der weiße Raum vor ihnen auftauchen würde, da sie aus dieser Tür gekommen waren. Doch sie irrte sich. Anstelle davon war ein dunkler Gang zu sehen. Vermutlich der Ausweg aus der Wohnung.

"Siehst du?", fragte Rae mit gerunzelter Stirn. Sie schloss und öffnete immer wieder, um ihre These zu bekräftigen. Erwartungsvoll sah Angel in die Richtung, doch das grelle Weiß des Raumes blieb aus. Die IUU schien weg zu sein. Rae drückte die Tür zu und hob einen Zeigefinger in die Höhe. Ihr Nagel glänzte im Handylicht. "Wenn ich jetzt aber den Schlüssel in das Loch gebe, passiert was. Schau genau hin."

Sie linste kurz zu Angel, bevor sie sich zur Tür drehte und das goldene Konstrukt hervorholte. Wie aus dem Nichts zauberte sie es in ihre Hände und lehnte sich zum Schlüsselloch vor. Es glitzerte magisch und brachte sie zum Blinzeln.

Rae bewegte es langsam nach vorne. Angestrengt starrte sie es an, als würde sie es durch ihre Gedanken steuern. Die Konzentration war ihr ins Gesicht geschrieben. Ihr Brustkorb hob und senkte sie, als sie dem Loch näher kam. Angel runzelte ihre Stirn, als sie die filigranen Goldplättchen musterte. Nie im Leben passte der Schlüssel dort hinein. Die Form des Loches müsste hierzu wie die eines Kreuzes sein. Skeptisch betrachtete sie Rae, doch diese ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

Plötzlich flutschte der goldene Schlüssel hinein, als wäre die Tür magnetisch. Die Form des Loches veränderte sich schlagartig. Der Umriss löste sich aus seiner Starre und passte sich dem Konstrukt millimetergenau an. Wie eine wabernder Masse bewegte sich der dunkle Fleck. Angel rieb sich die Augen vor Unglaube. Was hier vor sich ging, erschien ihr wie eine fremde Dimension.

"Wie ist das möglich?", fragte die blonde Tracerin und trat neben Rae. Diese drehte sich zu ihr und schenkte ihr ein verheißungsvolles Lächeln.

"Das ist noch nicht alles", verriet sie und wandte sich dem Schloss zu. In einer geschmeidigen Bewegung drehte sie den im Licht schimmernden Schlüssel um dreihundersechzig Grad. Mit viel Energie riss sie die Tür auf und grelles Weiß blendete die Tracerinnen schlagartig. "Cool, was?"

Ayame kam ebenfalls näher und betrachtete die Szene distanziert. Angel war das Staunen auf die Stirn geschrieben. Sie legte ihren Kopf schief um hineinzusehen. Das war zweifelsohne der Ort, aus dem sie gekommen waren. Rae schloss und öffnete wieder, ohne den Schlüssel hinauszuziehen. Wie eine Energiequelle hatte er sich an der Tür festgesaugt und spendete ihr die Kraft, den Zwischenraum einen Spalt breit offen zu halten.

"Das sieht wirklich beeindruckend aus, Rae", gab Angel zu, ohne den Blick von dem leuchtend weißen Raum zu lösen. "Funktioniert das bei allen Türen?"

"Keine Ahnung, hab's nur hier probiert", überlegte Rae und legte ihren Finger nachdenklich auf das Kinn.

"Was ist, wenn es an einem Ort gar keine Tür gibt? Was ist, wenn man falsche Koordinaten eintippt und mitten im Nirgendwo auf der Erde landet?", fragte Angel und zog ihre Augenbrauen zusammen. Sie konnte sich kein Bild davon ausmalen, wie das enden würde. Vermutlich in einem Desaster.

"Kein Plan. Vielleicht ploppt dann im Himmel eine Tür auf und hängt dort in der Luft", meinte Rae und lachte. Die blonde Tracerin schüttelte den Kopf, konnte sich allerdings bei ihren Worten das Grinsen nicht verkneifen.

"Wir müssen weiter", unterbrach Ayame das Gespräch und lief geduckt zu ihnen. Sie zwängte sich durch den Spalt in den weißen Raum. Angel sah ihr mit gerunzelter Stirn nach und blickte zwischen ihr und Rae her.

"Ja, sollten wir", gab Rae schulterzuckend zu und deutete zur Tür. Angel senkte ihren Blick und folgte Ayame zurück in die IUU. Auch Rae betrat den weißen Raum kurz nach ihr.

Angel drehte sich einmal um ihre Achse und blieb dann bei Ayame hängen, die neben dem Touchscreen bei der Tür stand. "Wie lauten die Koordinaten des zweiten Kapitels?", wollte die wortkarge Tracerin wissen. Die Blondine holte das Tagebuch hervor und blätterte rasch. Das Geräusch ließ Rae zusammenzucken und aufhorchen.

"Was, wenn wir nichts finden? Wenn alle Koordinaten nur random Orte sind?", fragte sie.

"Denken wir erst daran, wenn es so weit ist", schlug Angel vor und presste ihre Lippen aufeinander. Der Gedanke bereitete ihr ein mulmiges Bauchgefühl.

"Hm, okay", meinte Rae und sah schweigsam zur Decke. Der Schlüssel lag geschützt in ihren Händen. Angel fühlte die Unsicherheit in ihrem Nacken und trat eilig zu Ayame. Sie stand eisern vor dem Screen.

"Hier", murmelte die blonde Tracerin und zeigte auf die Stelle im Buch, auf der die Koordinaten angegeben waren. Ayames Finger lösten sich aus der Starre und tippten geschickt die Ziffern ein. Der glasige Blick war leer und doch wirkten ihre Bewegungen geschickt. Angel schluckte, als sie die Tracerin dabei beobachtete, wie sie Stück für Stück die Zahlen eingab. Das alles ging ihr viel zu schnell.

Ayame räusperte sich und Angel hob ihr Kinn an. Sie schreckte aus ihrem Gedankensumpf auf und blinzelte die Tracerin an, die stumm auf die Tür deutete und ihre Hand auf die Klinke gelegt hatte. Ihre knochigen Finger wollten bereits runterdrücken und möglichst keine Zeit verlieren. Rae drehte sich zu ihnen und kam auf sie zu.

"Kann los gehen", meinte sie und nickte Ayame zu. Sie wartete nicht, sondern öffnete die Tür. Ein unangenehmer Geruch wehte Angel entgegen und brachte sie dazu, ihr Gesicht abzuwenden. Ihr Rachen brannte und schrie sie an, weit weg von diesem Ort zu gehen. Sie ignorierte ihr Gefühl und zwang sich dazu, sich den beiden Tracerinnen anzuschließen. Mit gerümpfter Nase stiegen sie über die Türschwelle.

"Was zur Hölle stinkt hier so?", wollte Rae wissen und fächerte die abscheuliche Luft von sich weg. Der Geruch ließ sich nicht verjagen und stach penetrant in den Nasen der drei Jugendlichen.

"Verwesung", antwortete Ayame kühl. Ein Schauder lief über Angels Rücken und erzeugte eine Welle aus Übelkeit in ihrem Magen. "Schaltet die Lampen ein."

Stumm steckte Angel ihr Buch ein, aus Angst, der Gestank und die Finsternis könnten sich an sie heranschleichen und es ihr entreißen. Ohne hinzusehen tasteten ihre Hände nach ihrem Smartphone. Zitternd schaltete sie es ein und suchte die Lampe. Gleißend helles Licht durchflutete den breiten Gang.

"Schaut mal", flüsterte Rae angewidert und leuchtete die Wand an. Angel drehte sich auf dieselbe Seite und hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht zu würgen. Blut zierte die Mauer wie ein abstraktes Gemälde. Es glitzerte im Licht diabolisch. Rasch wandte sich die blonde Tracerin ab und leuchtete geradeaus den Gang entlang. Ihre Lampe war nicht stark genug, um die Dunkelheit gänzlich zu vertreiben.

Ayame war tapsend vorausgegangen und betrachtete wortlos die Wände. Ihre Lampe leuchtete unruhig von einem Fleck zum nächsten. Angel holte zu ihr auf, in der Hoffnung, dem unangenehmen Geruch zu entkommen. Sobald sie ihr Tempo reduzierte, schaffte es sich allerdings einen Weg in ihre Nase.

"Keine Körper", murmelte Ayame rau. Wie betäubt folgte sie ihrem Licht, das den Gang ausleuchtete.

"Du hast recht", antwortete Angel gedämpft. "Da ist Blut an den Wänden, aber ansonsten nichts." Sie schluckte und lauschte den Schritten von Rae. Mit einem Schulterblick stellte sie sicher, dass es die Tracerin war, die ihnen folgte. Nichts anderes. Angel verbannte krampfhaft die Paranoia aus ihrem Kopf und schüttelte sich.

"Wenn dieser verdammte Verwesungsgeruch nicht wäre", zischte Rae, "dann würde ich glatt sagen, hier sind bestimmt keine Leichen. Dann könnte das hier genauso gut Kunstblut sein."

"Aber hier sind weit und breit keine Leichen", fügte Angel unsicher hinzu. Mit weit aufgerissenen Augen linste sie in die Finsternis, als könnte jeden Moment etwas auftauchen und sie anfallen. Mit schweren Schritten ging sie den Gang entlang, während dumpfe Angst von ihr Besitz ergriff. Die Furcht schlummerte tief in ihrer Brust und breitete sich aus. Bibbernd schlang sie einen Arm um ihren Körper.

"Kommt weiter", meinte Ayame. Ihre kühle Stimmlage irritierte Angel. Ein Kribbeln in ihrem Bauch brachte sie dazu, sich zu der intelligenten Tracerin zu drehen. Fragend betrachtete sie die unauffällige Erscheinung der jungen Frau. Aufrecht und locker lief sie den Weg entlang. "Vergesst nicht, dass wir Tracer sind. Wir können uns verteidigen. Das wurde uns detailliert gelehrt." Ayame blickte flüchtig zur Seite und senkte den Kopf, als sie sich Angels wachsamen Beobachtungen bewusst wurde.

"Da ist was dran, Aya", gab Rae ihr recht. Sie sprach leise und lief ebenfalls geduckt. Angel schluckte und richtete ihren Blick nach vorne. Die Dunkelheit wirkte zwar bedrohlich, doch Ayames Anmerkung spendete ihr Mut. Sie atmete tief durch und ging den beiden voraus.

Als der endlos lange Gang in eine riesige Halle mündete, hatten sie noch immer nicht die Quelle des Gestanks gefunden. Den Tracerinnen wurde mehr und mehr bewusst, dass dieses Gebäude weitaus größer war, als sie gedacht hatten. Überall standen teuer aussehende Geräte, die sie noch nie zuvor gesehen haben.

Angel kramte nach dem Tagebuch, als sie an einer der kryptischen Maschinen vorbeilief. Die anderen suchten auf der gegenüberliegenden Seite herum, wie sie den vorsichtigen Schritten nach beurteilen konnte. In ihrem Schädel braute sich etwas zusammen. Sie war an etwas dran. Grübelnd blätterte sie in dem Büchlein und überflog einige Zeilen. Sie setzte sich gedanklich in die einzelnen Kapitel hinein, auch, wenn sie davon eine Gänsehaut bekam. Eisern biss sie sich in die Lippe und schloss krampfhaft die Augen.

"Rae, Ayame", rief Angel mit heiserer Stimme. Sie räusperte sich und wandte sich von dem Gerät ab, das stolz vor ihr stand und im Licht glänzte. "Ich denke, ich weiß, wo wir sind." Sie schlug das Buch zu und strich über den grünen Einband.

"Was, echt?", fragte Rae verwundert und schreckte aus ihrer Ecke hoch. Angel sah sie nicht, doch sie hörte, wie etwas klapperte und sich hektische Schritte in ihre Richtung bewegten.

"Ja. Ich erkenne nun ein Schema in dem Buch", erklärte sie und griff sich nachdenklich an das Kinn. "Die Kapitel stehen für die einzelnen Lebensabschnitte der Frau. Im ersten Teil geht es um ihr Leben, weswegen uns die Koordinaten zu ihrer Wohnung geführt haben, nehme ich an. Im zweiten geht es um ihr größtes Lebensprojekt, nämlich um die Wissenschaft und das Drama, das sie mit sich gebracht hat. Also befinden wir uns jetzt gerade höchstwahrscheinlich im alten Forschungsinstitut." Rae tauchte in ihrem Sichtfeld auf und blickte finster. Sie ging geradewegs auf sie zu und griff nach dem Tagebuch. Angel überließ es ihr und ließ sie darin lesen.

"Das erklärt den Verwesungsgeruch. Hier sind die vielen Leute gestorben", murmelte Rae so leise, dass es von der Dunkelheit des riesigen Gebäudes beinahe verschluckt wurde.

"Hier hat alles begonnen. Die Geburtsstunde der Tracker", bemerkte Ayame. Ihre Stimme kam vom anderen Ende des Raums. "Aber wir werden hier nichts finden. Das Forschungsinstitut ist verlassen. Hier ist niemand." Sie näherte sich ihnen nicht, sondern lief auf den Gang zu, von dem sie gekommen waren. Ungeduldig blieb sie dort stehen und räusperte sich.

"Höchstens die Seelen der Toten geistern hier noch herum", merkte Rae zynisch an. Angel war zu müde um darauf zu reagieren.

"Vielleicht sollten wir wirklich nicht weiterschauen. Ayame hat recht, wir verschwenden hier nur kostbare Zeit", gab Angel zu und lief ebenfalls in Richtung des Ausgangs.

Die drei Tracerinnen machten sich auf den Weg zurück und ließen das verlassene Institut zurück. Im weißen Raum angelangt, schlossen sie die Tür und schwelgten kurz in ihren Gedanken. Angels Augen gewöhnten sich nur langsam an das sterile Licht. Es kribbelte auf ihrer Haut und eine Last schien von ihren Schultern zu fallen. Tief atmete sie durch, bevor sie sich wieder auf ihre rasenden Gedanken konzentrierte.

"Ich schau schnell zu Mi. Wir haben lange nicht nach ihr gesehen", meinte Rae mehr zu sich selbst als zu den anderen. Angel nickte stumm, als sie den Schlüssel in den Koffer steckte und hineinstieg.

"Die Koordinaten", murmelte Ayame eilig. Sie stand wieder vor der Tür, mit dem Rücken zu Angel. Am liebsten wollte sie zu ihr rennen, sie zu sich umdrehen und fest rütteln. Sie war der Inbegriff eines verschlossenen Grabes. Aus ihr wurde sie nicht schlau. Seufzend blätterte sie in dem Buch und machte einen Schritt zu ihr.

Nachdem Angel ihr die Ziffern diktiert hatte und Rae aus den Tiefen des Koffers zurückgekehrt war, verloren sie keine Zeit. Insbesondere Ayame stürzte förmlich durch die abgenutzte Tür. Die Tracerinnen waren wie bei den Malen zuvor aufgeregt. Nie wussten sie, was sie hinter dem Tor zu der neuen Welt vorfinden würden.

Sie landeten in einer riesigen Lagerhalle, in der gewaltige Bauteile gelagert wurden und allerhand Maschinen standen. Enttäuschung mischte sich in die Gesichter hinein, doch sie blieben stumm. Das war vermutlich der Ort, an dem die IUU erbaut wurde. Zumindest nahm Angel das an, wenn sie an das dritte Kapitel dachte. Darin ging es um die Tracker und deren neues Zuhause.

Die drei sahen sich in der Halle um und fanden einen Weg nach draußen. Es war tiefste Nacht und über ihnen glitzerte ein Sternenhimmel. Bäume befanden sich um sie herum und versperrten die Sicht auf den Horizont. Es erinnerte sie an die Location in den Arenen, doch das hier war authentischer. Die Luft roch feucht, die Erde fühlte sich kernig an und der Wind säuselte in ihren Ohren. Angel genehmigte sich den Moment und legte ihren Kopf in den Nacken. Die anderen hatten genug gesehen und flüchteten zurück unter das schützende Dach der Halle. Nachdem Angel aus ihrer Ruhe erwacht war und sich wie neu geboren fühlte, ging sie ebenfalls zurück. Sie verließ diesen Ort nur ungerne.

Zurück im weißen Raum merkte Angel sofort den Unterschied zwischen der Luft unter dem freien Himmel und dem muffigen Sauerstoff in der IUU. Sie sehnte sich nach der Landschaft, doch da in diesem Teil der Erde weit und breit kein Mensch zu finden gewesen war, hatte es keinen Sinn. Sie mussten weiter. Angel straffte ihre Schultern und suchte die letzten Koordinaten raus, noch bevor Ayame einen Mucks sagen konnte.

Sie gingen das vierte Mal dieses Prozedere durch. Wie ein eingespieltes Team stellten sie die richtigen Ziffern ein und öffneten die Tür. Helles Licht blendete die Tracerinnen. Sie kniffen die Augen zusammen und tapsten probehalber einige Schritte hinaus. Das Leuchten hatte nichts von der bläulichen Farbe im weißen Raum. Es war gelb und kitzelte Angels Gesicht. Tageslicht. Das war neu. Voller Aufregung zwinkerte sie der Sonne entgegen und lief gierig nach frischer Luft und dem Atem der Natur nach draußen.

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