Kapitel 41
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BELLAMY SOG DIE Luft ein und drehte sich um. Alles in ihm zog sich widerwillig zusammen. Er wollte dieser Person nicht in die Augen blicken. Er wollte das alles nicht wahr haben. Doch er musste. Er musste, da er keine andere Wahl hatte.
"Das hier ist dein Antagon." Die kratzige Stimme neben ihm holte ihn schroff in die Realität zurück und erschrocken richtete er seinen Blick auf besagte Person. Ihm war durch die einfache Drehung schwindlig geworden. Zugleich bereitete ihm ein unangenehmer Ton in seinem Kopf Schmerzen und ließ nicht zu, dass er sich auf die junge Frau konzentrieren konnte, die vor ihm stand.
"Lara. Unser Prachtexemplar. Hat schon neun Partien für sich gewonnen und gilt praktisch als unschlagbar." Schlagartig fokussierte sie. Als die Kämpferin von den Runden sprach, begann es in seinem Magen unruhig zu flattern. Die harschen Worte alarmierten ihn und veranlassten ihn dazu, sein Gegenüber gründlich zu mustern. Es war wie eine Sicherheitsmaßnahme. Instinktiv wollte er wissen, worauf er sich da einließ.
Ihr Körper war zart gebaut und ein heller Schimmer lag über ihrer blassen Haut. Wie einigen in dieser Einrichtung merkte man ihr deutlich an, dass sie die Sonne lange nicht mehr gesehen hatte. Sie war einen halben Kopf kleiner, doch ihre Muskeln glichen es aus. Selbstbewusst stand sie vor ihm. Würdigte ihm nicht einen Blick. In ihren dunklen Augen glänzte Stolz und Sicherheit. Sicherheit über ihren Sieg.
Wahrscheinlich war Bellamy für sie kaum ein Gegner, sondern bloß eine lästige Fliege. Er stellte keine Gefahr für sie dar. Andererseits blickte er durch ihre Fassade hindurch die Traurigkeit, die in ihr herrschen musste. Neun Runden. Neun Monate. Er war sich keinesfalls mehr sicher, ob er nicht lieber tot sein würde, als so lange leiden zu müssen wie so jemand wie sie. Beim Gedanken an sein Verderben, das ihm mit Sicherheit bevorstand, begann sein Herz erneut zu rasen. Er konnte das alles nicht fassen. Er wollte nicht.
"Der Tagesplan bleibt für gewöhnlich immer gleich. Vormittags Training, nachmittags Training, am Abend die Auswertung des am jeweiligen Tage fällig gewordenen Antagonenpaars", vernahm Bellamy durch das beständige Rauschen in seinem Ohr. Er ballte seine Hände zu Fäuste und kniff seine Augenlider zusammen.
"Und denkt daran: Außerhalb des Trainings darf sich niemand mit jemandem handgreiflich auseinandersetzen", erklärte die Frau harsch. Bellamy wollte nicht kämpfen. Er wollte nicht sterben. Er wollte hier weg. Am liebsten hätte er seine Beine in die Hände genommen und wäre davongelaufen. Jede Zelle in seinem Körper schrie danach, von diesem Ort zu verschwinden. Es war die reinste Hölle. Er konnte sich kein schlimmeres Szenario vorstellen. Es konnte nichts Quälenderes als diesen Albtraum geben.
"Das Programm beginnt jetzt. Folgt mir", verlangte die Frau streng. Sie blickte von ihrer Liste nur kurz auf und marschierte, ohne auf die anderen beiden Rücksicht zu nehmen, voraus. Als das Mädchen ihr in kleinen Schritten nachlief, kribbelten seine Beine und ihm wurde warm. Er musste ihnen folgen. Er durfte keinen Nervenzusammenbruch haben. Er musste sich zusammenreißen. Sein Überleben hing davon ab.
Das prickelnde Gefühl schwoll zu einem Brennen an, als sich die Frau rasch wendete und ihre harten Gesichtszüge zum Vorschein kamen. Ihr Gesichtsausdruck warnte ihn eindringlich. Er reichte, um seine Glieder in Bewegung zu bringen. Seine tauben Muskeln pumpten sich mit Adrenalin auf, was aus seiner panischen Angst resultierte. Flott holte er auf und zwang seinen Blick während des Gehens auf den Boden. Wenn er noch einmal in ihre eiskalten Augen sehen würde, konnte er für nichts mehr garantieren. Er wollte nicht erneut erstarren.
Am Rande bekam er mit, wie sie die überdimensionale Halle entlangliefen und nicht ein einziges Mal abbogen. Der Betonboden unter ihnen behielt durchgehend die gleiche Farbe und Konsistenz. Er bemerkte keinen Übergang oder etwas Ähnliches. Es kam ihm vor, als wäre er einen endlosen Gang entlanggelaufen, der im Vergleich zum Normalfall noch dazu ungewöhnlich breit war. Doch er befand sich im selben, riesenhaften Raum. Seitlich von ihnen gingen Leute vorbei, doch die Schritte um ihn herum nahmen mit der Zeit ab. Bald hörte er gar keine schleifenden Geräusche von dicken Schuhsohlen, gedämpftes Stimmengewirr oder markantes Brüllen der Kämpfer mehr.
Seine Neugier riss ihn aus den von Furcht gekennzeichneten Gedanken. Sein Kopf drehte sich nach hinten, damit er rasch die Lage hinter sich analysieren konnte. Ein flüchtiger Blick reichte, um zu erkennen, dass es überraschenderweise nur noch einige Dutzend Menschen waren, dessen Konturen und Bewegungen er ausmachen konnte. Dafür, dass sich vorher noch hunderte von Leuten hier aufgehalten hatten, waren es erschreckend wenige. Verwirrung nahm von ihm Besitz. Es war unerklärlich. Sie konnten nicht so schnell verschwunden sein. Dafür war der klapprige Aufzug zu klein.
"Hier lang", hallte die unfreundliche Stimme der Frau durch die Räumlichkeiten. Bellamys Kopf zuckte rasch zurück und er blickte zu den beiden. Das Mädchen stand aufrecht hinter der Kämpferin und hatte eine nichtssagende Miene aufgesetzt. Sie sah durch alles hindurch, als würde sie das Wesentliche in dieser Welt gar nicht mehr wahrnehmen.
Die Frau blieb stehen und schaute in die Richtung der rechten Wand. Mittlerweile konnte man keine Menschenseele mehr sichten. Die Ebene machte einen noch gewaltigeren Eindruck als vorher, da sich darauf nicht ein Staubkorn befand. Sie war vollkommen leer. Irritiert beobachtete er, wie die Kämpferin erwartungsvoll in die Luft sah und einen winzigen Schritt auf die Seite machte.
Plötzlich begann ein rechteckiger Rahmen auf dem Boden zu leuchten. Direkt vor ihrer Nase hoben sich orangefarbene Linien vom Beton ab. Umrisse einer unsichtbaren Tür bildeten sich in der gleichen, leuchtenden Farbe. Die Luft dazwischen flimmerte ungewöhnlich stark. Scheinbar befand sich ein Kraftfeld zwischen dem provisorischen Raum binnen der strahlenden Striche und dem Bereich außerhalb.
Verblüfft registrierte Bellamy, wie die Frau routinemäßig ihre Hand hob und sich das Vibrieren der Luft verstärkte. Kurze Zeit später hörte das Feld auf, sich zu bewegen und ohne zu zögern, lief sie durch die Tür. Er traute seinen Augen kaum, als sie schlagartig verschwunden war. Jedes Körperteil, das durch den orangefarbenen Rahmen glitt, wurde schlagartig unsichtbar. Sie war einfach weg. Sie war absolut nicht mehr zu sehen.
Die andere folgte ihr ohne Umschweife und tauchte ebenfalls auf der anderen Seite nicht mehr auf. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Bellamy wurde bewusst, dass er alleine in diesem Gang stand und ein mulmiges Gefühl machte sich in seinem Bauch breit.
Das Stichwort Flucht tauchte plötzlich in seinen Gedanken auf. Es war ein verlockender Moment, den er am liebsten ausgenutzt hätte. Ihm kitzelte es in den Fingern und Zehenspitzen, auf der Stelle loszulaufen und vor diesem Albtraum wegzurennen. Doch die Angst und Ungewissheit betäubten seine Glieder. Er wusste nicht, wie er von diesem Ort verschwinden sollte. Außerdem wäre das Risiko groß, wieder gefangen zu werden und eine umso schrecklichere Strafe zu erlangen.
Ein Zittern durchlief seinen Körper und das ekelerregende Gefühl in ihm veranlasste ihn dazu, sich wegzubewegen. Es trieb ihn widerwillig zu der orangenen, provisorischen Tür heran. Überstürzt passierte er sie und keuchte überrascht auf. Seine Haut durchdrang das unsichtbare Tor problemlos. Es streifte ihn und hinterließ an den jeweiligen Stellen ein Kribbeln. Reflexartig schloss er die Augen und drückte sich weiter nach vorne.
Als die durchsichtige Kraft ihn losgelassen hatte, umgab ihn eine vollkommen andere Atmosphäre. Die Luft roch muffig und war nahezu durchtränkt von Feuchtigkeit. Er riss seine Augenlider neugierig hoch und erblickte einen neuen Raum. Es war nichts mehr von dem tristen Beton zu sehen. Markant rote Wände umgaben ihn, die dem Zimmer einen feurigen Charakter schenkten.
Sein umherschweifender Blick richtete sich nach vorne, wo die Frau weiter in den kleinen Raum hineingegangen war. Nicht weit von Bellamy stand das Mädchen mit dem Rücken zu ihm. Seine Augen verloren sich im tiefen Schwarz ihrer Haare, als ihm bewusst wurde, was sie hier wohl gleich machen würden.
Am Tagesprogramm dieser verrückten Leute - NBI wie sie sich nannten -, stand nichts anderes als das Kämpfen. Die bloße Leistung war das einzig wichtige für sie und stand an der Spitze des Überlebens der gefangen gehaltenen Menschen. Das hier musste der Ort sein, an dem er die andere bekämpfen sollte. Hier würden sie trainieren müssen.
Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Die Frau drehte sich zu ihnen um und fixierte Bellamy. "Stellt euch auf. Nun los, verliert keine Zeit", drängte sie hart. Mit pochendem Herzen kam er ihrem Befehl nach und machte einige zögerliche Schritte nach vorne. Das Mädchen mit den schwarzen Haaren war noch immer von ihm abgewandt, als sie in eine Position ging. Gegenüber von ihr blieb er steif stehen und wartete darauf, was als Nächstes passieren würde.
Mit Vorsicht betrachtete er das Mädchen vor sich und versuchte sich auf all ihre winzigen Regungen zu konzentrieren. Ihre dunklen Augen bargen einen finsteren Schatten in sich, der nichts Gutes verhieß. Sie musste von all dem abgehärtet sein. Sie war bereits wesentlich länger hier, weswegen die grauenhaften Bilder sie geprägt haben mussten. Die Hässlichkeit dieses Ortes musste tief in ihr Herz eingedrungen sein und ein Loch darin gegraben haben.
Ohne ihn anzusehen drehte sie ihren Kopf zurück und knackte ihre Knochen im Nacken. Die Muskeln im Bereich ihrer Oberarme spannten sich an und bewegten sich in einer unnatürlichen Weise. Das Rot der Wand um sie herum schien in seiner Intensität auf sie abzufärben. Der zornige Charakter ging auf sie über.
Bellamy schluckte schwer. Die Frau stand ruhig da und hatte die Hände hinter ihren Rücken verschränkt. Zum ersten Mal zeugte ihre Erscheinung nicht von Ungeduld. Sie war ebenso angespannt. Beobachtete jegliche kleinen Bewegungen, die sie beide taten. Es begann bereits. Sie bewertete ihn. Jeder seiner Atemzüge entschied mit, ob er in 60 Tagen tot oder lebendig war.
Er hatte gar nicht gemerkt, wie seine Beine sich verselbstständigt hatten und er begonnen hatte, sie zu umkreisen. Als würden sie sich ein Gehirn teilen, machte sie bei seinem Umrunden mit. Ohne zu stocken bewegte sie sich mit ihm. Seine Augenlider flatterten und der purpurne Hintergrund verschwamm mit den Rändern seines Gegenübers. Dieser eine Moment reichte ihr aus, um ihn zu überwältigen. Dieser eine, kleine Moment voller Unachtsamkeit.
Raubtierartig schnellte ihre Gestalt auf ihn zu und panisch versuchte er den Angriff abzublocken. Ihre Hände bewegten sich blitzschnell und schienen den Luftwiderstand zu überwinden. Die Physik zu überlisten. Das vor ihm war kein Mensch mehr, es war eine Killermaschine. Hier wurde man nicht zu einem Soldaten ausgebildet, sondern zu einer Waffe. Das schoss ihm wie der stechende Schmerz einer Pistolenkugel durch den Kopf, als sich alles um ihn herum drehte und er sich schlagartig auf dem Boden liegend wiederfand.
Graue Punkte tanzten vor seinen Augen, als er gegen die Schwerkraft ankämpfte und seinen Körper mühevoll aufstemmte. Er richtete seinen Blick auf seine Gegnerin, die sich nicht länger in ihrer angespannten Kampfposition befand, sondern mit dem Rücken zu ihm stand. Nahezu ausgelassen schlenderte sie einige Schritte von ihm weg. Ihre Hand fuhr durch die dunklen Haare, die ihr locker über die Schulter fielen.
Während Bellamy noch immer nicht am Boden der Tatsachen abgekommen war und Angst von ihm vollständig Besitz ergriffen hatte, machte sie einen siegessicheren Eindruck. Den Gewinn und somit ihr Überleben hatte sie in ihrer Tasche. Das sah man ihr an und das wusste sie auch mit Sicherheit. Sie wirkte nicht überheblich oder arrogant, sondern ehrlich. Die Wahrheit. Das war es, was ihn beunruhigte.
Jeder in diesem Raum dachte an dasselbe. Dass er am Ende verlieren und sie gewinnen würde. Die Gewissheit lag schwer in der aufgeheizten Luft und ließ ihn kaum atmen. Er hatte nicht den geringsten Hauch einer Chance. Mit diesem Gedanken richtete er sich schwerfällig auf und machte sich auf sein nächstes Scheitern gefasst.
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