Kapitel 40
"WAS SOLL DAS WERDEN?", drängte Rae. Ihre Worte wurden schärfer und eindringlicher. Ihre Schultern spannten sich an, als ihr Blick sprungbereit von Ayame zu dem Schlüssel hetzte. Diese mied ignorant jede Bemerkung und hielt das filigrane Gold zaghaft mit beiden Händen fest. Suchend sah sie im Lift umher, bis sie an der Vorderseite des Aufzugs hängen blieb. Exakt dort, wo Angel nach wie vor verweilte.
Angels Hand glitt unschlüssig aus ihrer Tasche und sie ließ das Tagebuch zunächst darin ruhen. Verwirrt beobachtete sie Ayames Regungen. Offensichtlich wollte sie etwas, doch sie war sich nicht sicher, ob sie an der Lifttür interessiert war oder an ihr.
"Ayame, ich warne dich. Bleib stehen. Jetzt", verlangte Rae. Verdutzt blickte Angel zu der verärgerten Tracerin. Ihr Brustkorb hob und senkte sich mit jeder Sekunde schneller, was ihr große Sorgen bereitete. Ayame war für Angel schlagartig uninteressant, als sie in Raes verengte Pupillen blickte. Wahnsinn spiegelte sich darin wider. Purer Wahnsinn. Gemischt, mit etwas anderem, das sie nicht identifizieren konnte.
"Ayame." Ihre Stimme war bedrohlich leise geworden. Jetzt erkannte Angel, welches Gefühl Kontrolle über Rae erlangte. Furcht.
Die Schwarzhaarige nahm die drohende Tracerin weiterhin nicht ernst. Doch die Warnung musste zu ihr minimal durchgedrungen sein, da sie einen Augenblick lang zögerte. Am Rande bemerkte Angel, wie sich Ayames Finger um den goldenen Schlüssel verkrampften. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie Rae, die dasselbe Verhalten registrierte und es sichtlich nicht guthieß. Jeden Moment konnte das Fass überlaufen. Jeden Moment konnte die aufbrausende Tracerin ihre Beherrschung verlieren.
Es war totenstill. Ihr zittriger Atem war das einzige Geräusch, das sie hörte. Viel zu laut hallte er in ihren Ohren wider. Ayame machte eine entscheidende Bewegung, die Chaos im Lift auslöste. Alles passierte gleichzeitig. Die schwarzhaarige Tracerin stolperte einen Schritt auf Angel zu, die davon kaum Notiz nahm. Ihre geweiteten Augen fixierten weiterhin ungläubig Rae.
Sie glaubte Feuer in ihren Augen aufglimmen zu sehen, als sie sich erzürnt aufrichtete. Angel handelte blitzschnell. Die Welt um sie herum verschwamm, bis ein harter Aufprall sie wieder zurückbrachte. In der Mitte des Lifts war sie mit Rae zusammengestoßen. Überrascht stellten beide fest, dass sie sich gleichzeitig gebeamt hatten. Ayame hockte nun hinter ihr. Nachdem Rae diese Erkenntnis traf, sammelte sie sich wieder.
"Was soll das jetzt-", begann sie und unterbrach sich selbst einen Herzschlag später. Sie packte Angel unsanft und drehte sie beide energisch in einem Winkel von 180 Grad um, sodass sie einen kurzen Blick auf Ayame erhaschen konnte. Sie fummelte mit dem Schlüssel am Boden des Aufzugs herum. Bevor sie begreifen konnte, was passierte, warf Rae Angel in ihrer blinden Wut gegen die seitliche Wand. Zu langsam reagierte sie. Zu konfus war sie von der verwirrenden Situation.
Kaum hatte Angel geblinzelt, war Rae gefährlich nahe an Ayame herangetreten und zog sie an ihren Haaren weg von der Lifttür. Ihre Brille plumpste durch den Schwung zu Boden und ein spitzer Schrei entfloh ihr. Verkrampft versuchte sie Rae von sich zu stoßen, die sie heftig attackierte und ihr wirre Unterstellungen an den Kopf warf. Ihr musste eine Sicherung durchgebrannt sein, doch zu überwältigt war Angel, um der Schwarzhaarigen zur Hilfe zu eilen.
"Du willst es verhindern!", schrie Rae ihr ins Gesicht, "Du willst es verhindern! Du willst nicht, dass wir ausbrechen! Du willst den Schlüssel zerstören!" Ayames Verteidigung war nahezu wirkungslos gegen die Kraft der feurigen Wut, die in ihr loderte.
Angel war zu Eis erstarrt. Schockiert und eingeschüchtert betrachtete sie die umherwirbelnden Bewegungen. Die wüsten Anschuldigungen wurden wilder und lösten in ihr Panik aus. Insbesondere das Stichwort Schlüssel.
Angel schluckte schwer und griff sich mit der rechten zittrigen Hand an den Hals. Sie konnte nicht zusehen. Sie musste etwas tun. Wenn sie nicht handelte, konnten sie ihr ganzes Vorhaben über den Haufen werfen. Dann konnten sie Mis gesamte Existenz über den Haufen werfen. Das durfte nicht passieren.
"Aufhören! Bitte hört auf! Oh, Tracker! Bitte!", stammelte sie hilflos. Noch stärker presste sie sich an die Wand, als die zwei weiterhin kämpften und sich am Boden wälzten. Ayame bemühte sich mit ihrer Selbstverteidigung, doch eine wutentbrannte Rae war stark. Entzündete sich der Funken in ihr, entwickelte sich rasch ein Lauffeuer. Es loderte und flackerte in ihr unaufhörlich. Angel glaubte nicht daran, dass es sich löschen ließ.
Keiner reagierte auf ihre verzweifelten Worte. Ein Schluchzer entfuhr ihr und sie drohte, in sich kraftlos zusammenzusacken. Mit geweiteten Augen realisierte sie, wie Ayame sich verzweifelt in ihre Richtung beamte. Die verwaschenen Konturen ihres Körpers schwammen blitzschnell zu ihr. Raes Gestalt folgte ihr noch energiegeladener. Die Wut trieb sie voran. Sie prallte gegen Ayame und warf sie mit Schwung zu der Wand, an der Angel lehnte. Vor Schreck schrie sie auf und zuckte reflexartig hoch. Ihre Beine katapultierten sie in die Luft, sodass sie den beiden noch knapp ausweichen konnte.
Schwerelosigkeit. Ein dumpfes Geräusch ertönte über ihrem Kopf, sodass sie abstoppte, fiel und keine Sekunde später auf dem Boden aufkam. Der Aufzug war zu niedrig für ihren instinktiven Sprung gewesen. Doch ihre Panik hatte sie auf die andere Seite befördert. Angel drückte sich mit den Händen am Boden ab und erblickte die kämpfenden Tracerinnen. Sie hatten Plätze getauscht. Sie kauerte an der Stelle, wo die beiden gerade eben miteinander gerungen hatten.
Sicherheitshalber rückte sie in die Richtung der Lifttür, während sie den Blick starr auf den Wirbel vor ihr gerichtet hielt. Im Kampf involviert zu sein, war das letzte, das sie wollte. Es bäumte sich alles in ihr dagegen auf. Noch schneller krabbelte sie rückwärts, als ein plötzliches Pieken hinter ihr sie zum Innehalten brachte.
Überrascht zuckte sie zusammen und wich nach vorne. Sofort richtete sie ihren Blick auf die Tür. Immer wieder riss sie ihren Kopf vorsichtshalber dorthin, wo sich die Szene abspielte. Verblüfft fixierte sie schlussendlich die Stelle, wo sich Türschlitz und Boden trafen. Was sie sah, brachte sie aus der Fassung.
Der Schlüssel steckte darin. Entgeistert schnappte sie nach Luft. Was um sie geschah, war mit einem Schlag belanglos. Es zählte bloß die Katastrophe vor ihrem Auge. Ein grauenhafter Anblick. Ihr klopfendes Herz verhinderte, dass sie sich auf das ungesund verbogene Konstrukt konzentrieren konnte. Das Bild vor ihr verschwamm. Abscheuliche Vorahnungen und Höllenszenarien fluteten ihren Kopf. Ihr wurde schlecht.
Es war vorbei. Es war vorbei mit Mis Dasein. Sie waren auf dem richtigen Weg gewesen, doch jetzt war alles zerstört. Die letzte Hoffnung auf die Rettung eines jungen Mädchens, das sein Leben noch vor sich hatte. Der Traum, aus der IUU zu verschwinden und der unstillbare Drang, die faszinierende Welt der Erdmenschen zu erkunden. Nein. Das wollte sie nicht wahr haben.
Ein Tränenschleier legte sich über ihre Sicht. Symbolisch bedeckte er ihren gesamten Glauben an die Welt. Alles, woran sie festgehalten hatte. Verschwommen sah sie ihre eigene verkrampfte Hand, die sich langsam gen Schlüssel bewegte. Ein stummer Schrei wollte ihrer Kehle entfliehen, als die Finger das kühle, goldene Stück berührten. Es fühlte sich an, als würde sie sich daran verbrennen. Zitternd hielt sie dem Verlangen stand, ihre Glieder zurückzuziehen.
Fest umklammerte sie den Stiel und zog behutsam daran. Sie erwartete mit verzogenem Gesichtsausdruck die grauenhaftesten Bilder. Vor ihrem inneren Auge sah sie bereits die filigranen Blätter, die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sein mussten. Das nicht mehr erkennbare goldene Rankenmuster. Nie wieder würde es im Licht glitzern und glänzen können. In ihrem Kopf war es verbogen und unbrauchbar. Das war es, was sie glaubte, gleich zu erblicken.
Doch so kam es nicht. Erstaunt öffnete sich ihr Mund, als sich der Schlüssel geschmeidig herausziehen ließ. Es fühlte sich genauso natürlich an wie beim Koffer. Für einen flüchtigen Moment vergaß sie zu atmen. Ihre Verzweiflung verebbte sofort und sie wusste nicht mehr, was sie fühlen sollte. Was sie denken sollte. Es war ein sonderbarer Zustand, in dem sie nichts spürte. Ungläubig betrachtete sie ausschließlich das Bild, das sich ihr bot.
Ihre Finger zogen den goldenen Schlüssel heraus und mit geweiteten Augen beobachtete sie, wie der filigrane, vordere Teil zum Vorschein kam. Die hauchdünnen Blättchen hatten sich perfekt an die Form des Türschlitzes und Bodens angepasst. Anstatt von vier, waren es drei makellose Flügel, die Stück für Stück in Sicht kamen.
Als der gesamte Schlüssel heil in ihren Händen lag, glaubte sie, das Wunder konnte nicht noch unbegreiflicher werden. Doch plötzlich begann sich der Kopfteil zu regen. Wie in einem bewegten Labyrinth transformierten sich die drei Blättchen um. Mit einem sanften Surren zogen sie sich zusammen, verschoben goldene Bausteine, zerzahnten sich andersartig ineinander. Sie konnte ihren Augen kaum trauen, als sich die Klumpen erneut ausbreiteten und sich in die ursprüngliche Gestalt umwandelten. Zwei überkreuzte Flanken bildeten sich, die gemeinsam vier Flügel ergaben. Die Form festigte sich und erstarrte.
Der Schlüssel wirkte nun so, als wäre nie etwas geschehen. Was in den letzten zwanzig Sekunden passiert war, konnte man ihm nicht ansehen. Einen Augenblick lange fragte sich Angel erstaunt, wie viel das goldene Konstrukt schon überlebt haben mochte. Es glänzte im Licht wie neu und musste eigentlich von Kratzern und Schrammen übersät sein.
Noch immer fühlte sich ihr Körper leer an. Sie spürte weder Emotionen noch nahm sie die zornigen Schreie der beiden Tracerinnen wahr. Der Anblick des zauberhaften Objekts hatte sie in seinen Bann gezogen.
Ein Gedanke faszinierte sie besonders. Der Gedanke daran, den Schlüssel wieder in die Spalte zwischen Lift und Boden zu stecken. Sie wusste nicht, woher diese Idee kam, doch sie infizierte sie augenblicklich. Wie von selbst brachte ihre Hand ihn in die Position und bevor sie es sich anders überlegen konnte, sog eine scheinbar magnetische Kraft ihn hinein. Sie musste ihre zitternden Finger kaum mehr nach vorne strecken. Die filigranen Blätter auf dem Kopfteil begannen sich wieder zu transformieren. Goldene Fühler reckten sich und wandelten sich in die dreieckige Form um. Der Lift verschlang das zarte Konstrukt Zentimeter für Zentimeter, bis nur noch der Stiel von außen sichtbar war. Er stand in einem Winkel von fünfundvierzig Grad ab, was unfassbar ungesund aussah. Es war kein Wunder, dass beim ersten Anblick Angels Welt beinahe zusammengebrochen wäre.
Doch ihre mit Schweiß bedeckten Hände ließen noch nicht los. Nein. Instinktiv machte sie das, was jeder mit einem Schlüssel tat. Angels Lippen bebten, als sie gegen den Uhrzeigersinn drehte. Obwohl ihre schwachen Glieder nicht viel Druck ausübten, ließ er sich mit Leichtigkeit bewegen. Wie Butter. Wie, als wäre er genau für diesen Zweck gedacht.
Ein metallisches Knacken schreckte Angel und veranlasste sie dazu, den Schlüssel flüchtig hinauszuziehen. Panisch robbte sie ein wenig zurück und beobachtete die Lifttür achtsam. Sie vernahm ein Surren und wusste, ohne hinzusehen, dass der Kopfteil seine ursprüngliche Gestalt angenommen hatte. Hinter der Türe rumorte es heftig. Es tuckerte und kratzte, sodass Angel der Versuchung nachgab und sicherheitshalber noch ein weiteres Stück nach hinten rückte. Zeitgleich verstummten die Geräusche dahinter, woraufhin sie in ihrer Bewegung innehielt. Sie fror in der Position ein und betrachtete die Vorderseite des Lifts mit weit aufgerissenen Augen.
Nichts passierte. Die Luft stand und es war inzwischen deutlich stickiger geworden. Nach etlichen Sekunden atmete Angel aus und löste sich aus ihrer Starre. Langsam richtete sie sich auf, immer mit der Nase in die Richtung der Aufzugtür zeigend. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es absolut still war. Rae musste bereits länger Ayame in Ruhe lassen und ihre Aggressionen unter Kontrolle bekommen haben. Aus dem Augenwinkel registrierte sie, dass sie noch immer nicht weit voneinander entfernt auf dem Boden kauerten. Doch was sie machten, war ihr inzwischen herzlich egal.
War es das gewesen? Das Knacken hatte aufgehört, doch es schien sich nichts verändert zu haben. Enttäuschung durchflutete ihren Körper. Nein. Das konnte es nicht gewesen sein. Kopfschüttelnd ging sie auf die Lifttür zu und legte eine flache Hand auf sie, während die andere verkrampft den Schlüssel umklammerte. Mit dem Zeigefinger fuhr sie die Linie in der Mitte nach. Ihr Nagel drückte sich in die Einkerbung des Spaltes hinein. In Gedanken versunken strich sie dem Verlauf folgend hinauf. Der metallische Rahmen oberhalb stoppte ihre Bewegung ab. Ein plötzlicher Einfall brachte ihren gesamten Körper dazu, regelrecht einzufrieren.
Hoffnungsvoll reckte Angel ihren Hals gen diese Stelle. Die Stelle, wo Decke und Lifttür aufeinandertrafen. Sie streckte ihren Arm in die Höhe und schob den Schlüssel ohne Umschweife hinein. Er wurde auf dieselbe Weise in den Spalt hineingezogen. Das golden glänzende Konstrukt passte sich erneut der Form an. Ein freudiges Kribbeln machte sich in ihrem Bauch breit. Voller Neugier drehte sie ihn um seine Achse und zog ihn anschließend hinaus.
Ein einzelnes Knacken erklang, bevor es wieder still wurde. Sie konnte es kaum erwarten. Wie auf Kommando stand Rae plötzlich neben ihr und betrachtete stumm die Aufzugtür. Alle Blicke lagen gebannt auf der metallenen Fläche. Angel wagte es nicht zu atmen und der Griff um den Schlüssel wurde fester.
Da war er wieder. Der Moment. Diesmal war sie sich sicher, dass sie dem richtigen Weg folgten. Es musste der heißbegehrte Ausgang sein, dessen Spuren man überall in der IUU verstreut fand. Sie hatten sich die wichtigsten Winkel, Ecken und Büchern vorgenommen und waren hinter den winzigsten Brotkrümeln her gewesen.
In diesem Moment verspürte Angel Stolz. Still genoss sie für einen Augenblick das Gefühl, dass sie alles richtig gemacht hatte. Sie wusste nicht, wann sie das nächste Mal wieder die Ehre bekam, sich so zufrieden fühlen zu dürfen. Seit Mi überraschend in der IUU aufgekreuzt war, schien es, als würden die Kapitel in ihrem Leben umgeschrieben werden. Ein Sturm kam auf. Was auch immer es war, das Ende lag noch weit entfernt. Vermutlich würde sie erst am Schluss ihre Ruhe wiederfinden.
Hastig schob Angel die Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das Glücksgefühl, das sich mit dem Zischen der sich öffnenden Aufzugtür verstärkte. Aufregung durchflutete sie in diesem einen Moment. Sie konnte ihre Augen vor sehnlicher Erwartung nicht mehr richtig fokussieren. Der Gedanke daran, die IUU verlassen zu können, löste in ihr nicht mehr den geringsten Hauch von Unbehagen aus.
Quälend langsam öffnete sich die Tür. Je größer der Spalt wurde, desto erlöster fühlte sie sich. Licht drang hinein und erhellte jeden Winkel des Lifts. Es strahlte mit solch einer Kraft, dass Angel überwältigt zurückwich. Staunend öffnete sie ihren Mund und riss ihre Augen weit auf.
Dann sah sie es.
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