Kapitel 39
ANGEL HÖRTE IHREN Herzschlag im Ohr pochen. Parallel dazu schwoll ein quälend hoher Ton zu einem Piepen heran, sodass ihr schwindelig wurde. Taub tasteten sich ihre Finger an der Wand entlang. Die Kühle ließ sie zusammenzucken und ein Stück wacher werden. Die Benommenheit ließ nach und machte Platz für das Adrenalin.
Es war stockfinster. Ihr Atem ging viel zu schnell und doch hatte sie das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie wusste nicht, warum sie einen solchen Aussetzer hatte.
"Rae", hauchte sie angstvoll. Doch kein Laut entfloh ihrem Mund. Sie hatte ihre Lippen bewegt und trotzdem wollte kein elendiges Krächzen durch ihren Hals gelangen.
Sie hörte nichts. Nur ein Rauschen gemischt mit stimmähnlichen Geräuschen nahm sie irgendwo im Hintergrund wahr. Sie musste etwas tun. Sie musste etwas tun, damit ihre Sinne ihr wieder verrieten, was passierte. Was sie hier machte.
Zitternd stellte sie die Handflächen auf dem Boden ab. Mit aller Kraft drückte sie sich dagegen. Ihr Rücken schleifte an einer Wand entlang, an der sie gelehnt hatte. Je aufrechter ihre Position wurde, desto lauter wurde das chaotische Stimmgewirbel. Es schwoll an wie eine Sirene, die sich scherzhaft in ihren Kopf zu bohren versuchte. Das wollte sie nicht zulassen. Sie wollte es gar nicht hören. Sie hatte Angst.
Plötzlich keuchte sie erstaunt auf. Ihre Augen öffneten sich schlagartig und sahen. Sie nahmen zwar die Farbe der Nacht auf, doch sie sahen.
Das war der Punkt. Sie hatte Angst. Sie empfand keine Schmerzen. Sie war ein Tracer und diesen konnte man nicht so schnell physische Schmerzen zufügen. Sie war die Quelle ihres eigenen Leidens. Ihres verbalen Leidens.
Das verwirrende Rauschen kam mit einem Mal zu seinem Höhepunkt und brach auf wie ein Damm. Das aufgestaute Wasser hatte sich erfolgreich gegen den Widerstand gedrückt. Die Stimmen brachen über sie herein und für einen Moment konnte sie nicht zuordnen, wem sie gehören.
"Was soll das?", wollte eine verzweifelte Stimme wissen. Es war Rae.
"Ich weiß es nicht", gab eine überforderte Ayame zu.
"Los! Tu doch was! Los, Ayame! Du bist hier diejenige, die sich auskennt!", behauptete Rae in ihrer Not. "Warum tust du nichts? Warum fahren wir wieder runter? Verdammt!" Ein Stolpern. Rae torkelte.
Jetzt fiel Angel alles ein. Wie ein Sturm prasselten die Bilder auf sie ein. Die Tracer befanden sich im Lift. Auf dem Weg in die Freiheit. Doch jetzt fuhren sie gen Boden. In die verkehrte Richtung.
"Los! Tu was!"
"Ayame", krächzte die Blondine hektisch. Ängstlich krallte sie sich an der nächstbesten Wölbung in der Wand fest. "Stopp den Lift! Stopp ihn, genau wie du es bei den Kameras im Gang gemacht hast", presste sie hervor. Irritiert linste sie in die Dunkelheit, nicht wissend, wo sie hinsehen sollte. Nicht wissend, wo die Brillenträgerin stand. Falls sie überhaupt stand.
Die Geschwindigkeit ließ ihr Inneres lose herumfliegen. Ihre Augenlider flatterten. Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn durch den Aufzug eine Erschütterung lief. Er fuhr viel zu schnell. Und das nach unten. Angst gewann erneut die Überhand. Sie wollte hier weg.
"Los! Los, los!", jammerte Rae.
Durch das metallische monotone Geräusch meinte Angel das Tippen auf einem Laptop zu hören. Doch sie konnte sich kaum darauf konzentrieren. Ihre Schwindelgefühle raubten ihr den Atem dazu. Zu wenig Sauerstoff erreichte ihr Gehirn. Und die Sauerstoffspeicherung beherrschte sie nicht gut genug, um sie in der Panik anwenden zu können.
Der Lift bremste brutal und kam zum Stillstand. Angel torkelte und biss sich auf die Lippen. Rae gab einen erstickten Laut von sich. Ein Rattern blieb übrig, bis auch dieses langsam abebbte und im Nichts verschwand. Bis auf das energische Tippen auf Ayames PC war nichts mehr zu hören. Es war totenstill.
Angel schluckte ihre Angst und Sprachlosigkeit herunter. Ein warmes Kribbeln lief durch ihren Körper. Gerade, als sie zögerlich ihren Mund öffnete, ging das Licht an. Unter überrascht zusammengekniffenen Augenlidern erblickte sie Rae, die in der rechten vorderen Ecke lehnte und Ayame, die links kauerte, ihren Computer schützend umklammert.
Einen Moment lang blieben alle drei still und versuchten ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen. Rae begann mit dem Kopf zu schütteln und stieß ein Lachen aus. Kein Fünkchen Humor lag darin. Müde wandte sie sich prüfend Angel und anschließend Ayame zu.
"Alles in Ordnung?" Angel nickte kraftlos und ließ zu, sodass sich einige Haarsträhnen lösten. Ihr Gesicht versteckte sie jetzt liebend gerne hinter dem schützenden Gold, so sehr schämte sie sich. Sie war ein Hase. Ein kleiner, ängstlicher Hase.
"Ja", hauchte Ayame knapp. Sie sah keine Sekunde vom Bildschirm auf.
"Okay, Leute. Mich würde brennend interessieren, wer oder was zur Hölle das war." Nervös lächelte Rae und blickte zwischen Angel und Ayame hin und her. Ihre Hand wanderte energisch durch ihren Pony und brachte ihn noch mehr durcheinander. Der Zwischenfall zehrte an den Nerven und Kräften der drei Tracer. Jeder von ihnen ging individuell damit um.
"Glaubt ihr, die Tracker haben uns gefunden?", wollte Rae wissen. Hysterisch lachte sie auf und tastete sich haltsuchend an der Wand entlang.
"Keine Ahnung", antwortete Angel. Sie musste mehrmals schlucken. "Vielleicht hat uns ja auch jemand anderes gefunden. Ein Tracer", sprach sie ihre Vermutung vorsichtig aus.
"Ein Tracer? Einer von uns?", stieß Rae wie wahnsinnig geworden aus. Ungläubig beugte sie sich zu Angel vor und runzelte ihre Stirn. "Tracker, steht uns bei. Bin ich froh, wenn wir endlich weg sind. Sag' mal, Aya, wo sind wir? Kannst du dem Lift wenn's geht, wieder einen Stupser in Richtung Ausgang geben? Ich wär' dir sehr dankbar dafür."
Rae vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und rieb sich ihre Augen. Angels Blick glitt wie von selbst zu dem Feld mit den Ziffern. Der Schlüssel steckte noch immer und ein Stein fiel ihr vom Herzen. Allerdings verriet ihr kein Lichtlein oder ein anderer Hinweis, in welchem Stockwerk sie sich befanden. Zwar war die Lampe wieder an, doch der Lift gab kein Lebzeichen von sich. Es war fast, als wäre Ayames Eingreifen unnatürlich gewesen. Es brachte den Fahrstuhl aus der Fassung, dass man ihn dekodiert und manipuliert hatte.
"Wir befinden uns momentan wieder im ersten Stock, genau dort, wo wir gestartet sind. Allerdings müsst ihr wissen", flüsterte Ayame gedämpft, "In Wirklichkeit wäre ich nie dazu imstande gewesen, den Lift anzuhalten. Jemand hat ihn exakt zum ersten Stock bestellt." Sie wurde immer leiser, bis Angel aufhören musste zu atmen, um sie zu verstehen.
"Wie meinst du das?", fragte Rae mit gebrochener Stimme. Ayames Blick glitt paralysiert zu Angel. Nein. Er glitt durch Angel. Sie betrachtete die Lifttüre, an der sie schon die ganze Zeit über klebte.
"In Wirklichkeit ist alles, was ich in dieser kurzen Zeit tun konnte, die Tür zu versiegeln. Damit dieser Jemand nicht zu uns gelangen kann."
Dieser Jemand. Angels Augen wurden groß. Ihr Atem beschleunigte sich erneut. Obwohl sie von hier weg wollte, rührte sie sich nicht vom Fleck. Ihre Beine hatten Wurzeln geschlagen und ließen es nicht zu. Zuerst hatten sie sich kalt angefühlt, doch jetzt waren sie taub. Als gehörten sie nicht mehr zu ihrem Körper.
"Ayame", hauchte sie atemlos, "Sicher, dass die Tür verschlossen bleibt? Sicher, dass sie niemand öffnen kann?" Sie verlor ihre Stimme, bis sie mit ihren verkrampften Lippen tonlos Worte formte.
Eine Erschütterung durchbrach die Stille. Der Lift erbebte. Die Mädchen taten es ihm gleich und duckten sich instinktiv. Angel schlug ihre Hände vor den Mund und presste sie fest darauf. Schreie durchfluteten ihr Gedächtnis und wollten sich tief aus ihrem Innersten bis nach oben hindurchkämpfen. Nur mit Mühe konnte sie die Laute unterdrücken. Krampfhaft versuchten sie, ihrem Hals zu entfliehen und ihre Kraft in vollen Zügen zu entladen.
Noch eine Erschütterung. Und noch eine dritte. Angel spürte die Schläge gegen die Türe des Lifts intensiv an ihrem Rücken. Ihre Augen begannen zu brennen und zu tränen.
Hinter wenige Zentimeter dickem Metall lauerte dieser Jemand. An ihrem eigenen Leibe fühlte es sich wie ein hauchdünnes Blatt Papier an. Obwohl sie Ayame vertraute, fürchtete sie das Versagen der Barriere.
Keiner bewegte sich. Nichts geschah. Es war, als wartete diese Person eine Antwort ab. Sie hatte geklopft. Jetzt lag es an ihnen, etwas zu erwidern. Doch niemand traute sich. Angel zitterte und in ihrem Nacken glaubte sie einen warmen Windhauch zu spüren. Ein kaum merkliches Lüftchen, das ihre Haut streifte. Es war ein Atem. Dieser Jemand flüsterte ein Wort. Ein einziges Wort. Ayame.
"Bitte komm' da weg", bat Rae erschrocken. Zwei weit aufgerissene Augenpaare lagen auf ihr.
Angel wollte ihrer Forderung nachkommen, doch ihr Körper gehorchte ihren Befehlen nicht mehr. Sie war zu Eis erstarrt und würde nicht so schnell wieder auftauen. Der Luftzug ließ sie noch mehr abkühlen. Sowohl innerlich als auch äußerlich fröstelte sie.
Durch den Spalt der Lifttüre drang das Lüftchen ein weiteres Mal hindurch. Es war so schwach, dass es ihr gar nicht aufgefallen wäre. Wäre da nicht dieser Name, der mitschwang und die Atmosphäre zum Vibrieren brachten. Es war als spreche der Wind mit ihr. Er überbrachte eine Nachricht, die von der anderen Seite stammte. Ayame.
"Angel, los. Geh da jetzt sofort weg, verdammt", warnte Rae scharf. Sie reagierte nicht auf ihre Worte. Auch hatte sie Ayames Fortschritt nicht bemerkt. Doch jetzt öffnete sie ihre geröteten Augen und blinzelte wie ferngesteuert zu ihr. Die Brille auf der Stupsnase rutschte vor und ihre zitternde Hand fing sie auf, um sie zurechtzurücken. Der verzerrte Blick der Blondine landete auf ihr.
"Ayame", flüsterte Angel gerade heraus. Der konzentrierte Blick wanderte für einen Sekundenbruchteil von dem Laptop zu ihr. Einen Herzschlag später wandte sie sich wieder eilig dem Computer zu und beugte sich weiter vor. Ignorierte sie einfach.
"Ayame", wiederholte sie.
"Mann, lass sie doch tun und beweg' dich stattdessen hier hinüber", zischte Rae aus zusammengebissenen Zähnen hervor.
"Ayame."
Das Tippen verstummte abrupt und die Finger zogen sich langsam von der Tastatur zurück. Jetzt verstand sie. Vorsichtig lehnte sie sich zurück und ließ zu, dass ihr schwarze Strähnen ins Gesicht fielen.
Ihre braunen Augen wanderten vorsichtig vom Boden zu Angel hinauf. Die Pupillen waren so riesig wie die Knöpfe eines Plüschtieres. Zartrosa Lippen öffneten sich einen Millimeter breit und schlossen sich wieder. Voller Fassungslosigkeit und Empörung starrte sie Angel an. Es dauerte nicht lange, bis Furcht das Glitzern in den Knöpfen intensivierte. Still suchte sie nach einer Bestätigung.
"Du hast schon richtig verstanden", gab Angel zu verstehen. Sie machte einen kaum weniger verschreckten Eindruck.
Keine Sekunde ließ sie von Ayame ab. Trotzdem war jetzt sie diejenige mit dem fragenden Blick. Ohne zu sprechen, erwartete sie eine Erklärung, obwohl sie genau wusste, dass sie keine bekommen würde.
Warum hatte diese Stimme ausgerechnet den Namen der Schwarzhaarigen durch den Türspalt geflüstert? Warum nicht ihren oder Raes?
An dieser Sache war so einiges faul. Geheimnisse flimmerten in der Luft. Sie spürte, dass sie noch lange ungeklärt bleiben würden.
Zu Recht hatte Ayame Angst. Auch wenn Angel die Hintergrundgeschichte dazu nicht kannte, fühlte sie genau, dass sie jeden Grund dazu hatte.
Tracker, vielleicht stand Lucette hinter dieser Tür!
Nein. Sie traute ihren eigenen Sinnen nicht mehr. Das bildete sie sich alles nur ein. Sie hatte in den letzten Minuten zu viele Aussetzer gehabt, als dass sie ihren Wahrnehmungen noch trauen konnte. Ihr Kopf würde gleich platzen, wenn es so weiter ging.
Ayame zuckte zusammen und riss sich von Angels Blick los. Sie zitterte. Ruckartig bewegte sich ihre Hand auf die Entertaste ihres Laptops zu und drückte sie grob runter. Der Aufzug setzte sich wie auf Befehl in Bewegung. Mit einem zögerlichen Rattern fuhr er erneut nach oben. Nach oben in die Freiheit, wie auch immer sie aussehen mochte. Dankbar atmete Angel die abgestandene Luft aus.
"Endlich, verdammt", presste Rae hervor und ballte ihre Hände zu Fäusten, bis ihre Finger weiß wurden.
Zweifel holte Angel wieder ein. Ob sich Ayame und Lucette überhaupt kannten? Nie hätte sie die beiden in Verbindung gebracht. Kopfschüttelnd wanderten ihre Hände zu ihren Schläfen und massierten sie.
"Und jetzt?", fragte Rae, die nervös ihr Bein auf dem Boden tippen ließ. "Wenn noch etwas schief geht, dreh' ich durch."
"Ja." Ayame nickte bestätigend und klappte ihr Gerät zu. Vorsichtig ließ sie es in ihre schwarze Tasche gleiten. "Wir müssen hier so schnell wie möglich weg."
"Wie geht es weiter?", wollte Rae von Angel wissen. Kurz brauchte sie einen Moment, bevor ihr wieder ihre Notizen einfielen. Sie hatte sich einige Möglichkeiten zurechtgeschrieben und Pläne gekritzelt, wie sie von diesem Lift zum Ausgang gelangen könnten. Es waren Theorien, die sie kombiniert mit viel Spontanität hoffentlich zu ihrem Ziel bringen würden.
Der Fahrstuhl hielt an und gab ein kurzes bestätigendes Klingeln von sich. Sie waren hier. Ein Kribbeln machte sich in Angels Bauch bemerkbar. Noch immer war ihr mulmig zumute, doch wenigstens fühlte sie sich nicht mehr todunsicher. Kurz bevor sie ihr Tagebuch hervorkramte, erstarrte sie erneut.
Ein Handgriff. Ein einfacher Handgriff und doch war es um so vieles mehr. Es war ein Vertrauensbruch. Es strapazierte nicht nur Angels Nerven, sondern provozierte insbesondere Rae.
"Was soll das, Aya?", wollte Rae wissen, als Ayame einige Schritte auf das Feld mit den Nummern zumachte. In einer schnellen Bewegung riss sie gewaltsam den Schlüssel aus dem Schloss.
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