Kapitel 38

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HYPNOTISIERT BEOBACHTETE BELLAMY die Krieger und ließ zu, dass sie einen grässlichen Gewaltakt vollzogen. Die geistesabwesend wirkenden Menschen um ihn herum betrachteten den verletzten Typen gleichermaßen ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hatten ihn angesteckt. Das wurde ihm bewusst, als er sich vom Anblick loszureißen versuchte. Er hatte auf derselben Weise seelenlos gestarrt. Auf derselben Weise gebannt an der Szene gehangen.

Jedes Keuchen und Wimmern fühlte sich wie ein Tritt in die Magengegend an. Sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzhaften Grimasse und eine Welle der Übelkeit ließ ihn schwach werden, sodass er mit seinem Blick auf den langen Gang ausweichen musste. Er zwang sich dazu, seinen Kopf abgewandt zu behalten, um sich den schrecklichen Anblick zu ersparen. Aus seinem eingeschränkten Blickwinkel erkannte er die jungen Männer und Frauen, die strukturiert vor ihren jeweiligen Kammern standen. Bellamy beugte sich vor und machte einen winzigen Schritt nach vorne, damit er um die Ecke linsen konnte.

Plötzlicher Schmerz ließ ihn zurückschrecken. Überrascht drehte er seinen Kopf nach rechts. Einer der Krieger stand unmittelbar neben ihm und blickte ihn bedrohlich an. Stramm und still verharrte er neben Bellamy, sodass er es nicht wagte, sich seinen hämmernden Kopf zu reiben. Vorstellungen zwangen sich ihm auf, wie es aus seiner Wunde vehement blutete und sie sich immer weiter ausbreitete. Es tat irrsinnig weh. Trotzdem musste er dem Drang widerstehen, sich zu rühren.

"Hinsehen!", brüllte er ihm in sein Gesicht. Schockiert blinzelte er zu dem sich am Boden krümmenden Jungen. Er konnte erkennen, wie sich sein Körper bei jedem Tritt anspannte. Wie sein Körper bei jeder kurzen Pause erschlaffte, nur um sich beim nächsten Stoß noch mehr zu versteifen.

Bellamys Kiefer spannte sich an, als er sich dazu durchrang, nicht wieder wegzublicken. Der Grausamkeit auszuweichen. Die dunkelrote Farbe des Blutes leuchtete zwischen den grauen Wänden des düsteren Gangs deutlich hervor und ließ seinen Magen verkrampfen. Bellamys Herz pochte im selben Takt wie der Schmerz in seinem Schädel.

Er empfand Ekel. Sein Körper sträubte sich gegen das alles und doch widerte es ihn innerlich um ein Vielfaches mehr an. Die Unmengen an Gewalt wahrzunehmen, verpasste ihm einen Stich in sein Herz. Leidende Menschen zu beobachten, schockierte ihn womöglich mehr als selbst gequält zu werden. Je mehr Sekunden verstrichen, desto bewusster wurde ihm, dass er so schnell nicht aus dem Albtraum aufwachen würde. Mit dem Gedanken konnte und wollte er sich nicht anfreunden.

Nachdem die Krieger es für genug der bestrafenden Maßnahmen hielten, wandten sie sich von dem Typen ab und würdigten ihm nicht einen dürftigen Blick mehr. Er blieb regungslos und den Radikalen ausgeliefert am Boden liegen, ohne, dass ihn ein Schwein beachtete. Es kitzelte Bellamy in den Fingern, ihm zur Hilfe zu eilen. Doch dazu müsste er sich von seiner Angststarre lösen und den unausgesprochenen Regeln der gnadenlosen Extremisten trotzen.

Die Krieger kommandierten die jungen Leute harsch herum, bis sie in geordneten Reihen den Gang entlangmarschierten. Am Rande hatte Bellamy wahrgenommen, dass der mit Schlägen traktierte Junge aufgestanden war und unerschütterlich im selben Tempo mithinkte. Der metallische Geruch des Blutes hing noch immer beißend in seiner Nase.

Mit einem Mal blieben die vor ihm gehenden Menschen stehen. Er hob seinen Blick vom Boden und beugte sich achtsam zur Seite. Bevor er nach vorne sehen konnte, zuckte er zusammen, da einer der Krieger bedrohlich neben den Reihen herstapfte. Er war sich nicht sicher, ob er das durfte. Besser war es, wenn er ihnen nicht auffiel. Das hatte ihn die vorherige Situation zwangsweise gelehrt.

Kurze Zeit später wurden sie in einen massiven Aufzug gedrängt, mit dem sie wie Tiere zusammengepfercht nach oben fuhren. Die Fläche war enorm für einen Lift und wegen des darauf befindlichen Gewichts bewegte er sich schwer und langsam. Eisernes Klickern hallte an den Wänden wider und ein Rütteln fuhr permanent durch Bellamys Körper. Um den Halt nicht zu verlieren, griff er nach der Hülle des gewaltigen metallenen Käfigs. Er krallte sich mit jedem Ruckeln noch fester daran, bis das Abschnüren des Blutes seine Finger weiß erscheinen ließ.

In einer anderen Ebene angekommen, verließen sie den Fahrstuhl. Trockene Freude erfüllte ihn, als er dankbar die weniger abgestandene und stickige Luft einsaugte. Einen Herzschlag lange flatterten seine Lider, bevor er seine Sinne dazu brachte, sich mit dem Umfeld auseinanderzusetzen.

Vor ihm lag ein riesiger Saal. Er nahm augenscheinlich kein Ende, besaß eine himmelhohe Decke und beinhaltete praktisch gar nichts, außer einer umfangreichen Menschenmasse. Grauer Beton betonte die triste Stimmung, die hier herrschte. Trotzdem war diese Etage sichtbar besser beleuchtet als der Rest dieses Ortes.

Das Rauschen wild durcheinander sprechender Menschen drang an sein Ohr. Um ihn herum verteilten sich die Leute, die mit ihm hochgefahren waren. Sie mischten sich unter die Personen, die bereits hier waren und verschwanden spurlos im Getümmel. Hilflos blickte Bellamy in die Menge und zuckte unschlüssig mit den Schultern. Alle schienen sich auszukennen und ihren Platz zu haben. Nur er verharrte auf einem Fleck, während andere an ihm hoch beschäftigt vorbeimarschierten.

Spontan machte Bellamy einige Schritte auf einen Typen zu, der nicht weit entfernt mit dem Rücken zu ihm stand. Zögerlich blieb er hinter ihm stehen, nicht sicher, ob er ihn erschrecken würde, wenn er ihn mit dem Finger antupfte. Kurzerhand beschloss er, den Gedanken beiseite zu schieben und es schlicht zu machen.

"Entschuldigung...", stammelte er und zog seinen Arm rasch zurück. Unsicher wartete er auf eine Reaktion. Der Junge vor ihm rührte sich erst nicht, bevor er sich langsam umdrehte. Scheu blickte er Bellamy entgegen.

"Ich weiß nicht, was ich jetzt... Tun soll... Kannst du mir irgendwie weiterhelfen?", wollte er von ihm wissen. Er versuchte abzuschätzen, was in ihm vorging, als der Typ ihn auf einmal ungläubig anstarrte.

Ohne jeden Übergang riss er seine Augen weit auf und blickte nervös von links nach rechts. Im Hintergrund ertönte die kratzige Stimme einer Frau, die sich vom Rest des Lärms deutlich abhob. Trotzdem verstand er kein Wort.

Bellamy blinzelte einmal und plötzlich war der Typ verschwunden. Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickte er suchend in die Menschenmasse, konnte ihn aber nirgendwo ausmachen. Wenn er nicht zu verängstigt und irritiert wäre, hätte ihn die Situation regelrecht genervt.

Was war der Anlass dazu, ihn stehen zu lassen und abzuhauen? War er ihm bedrohlich gegenübergetreten? Es konnte nicht sein. Er war ihm nicht nicht annähernd feindlich gesinnt begegnet. Eher fühlte sich Bellamy in der Rolle, in welcher er nichts lieber als panisch wegrennen wollen würde.

Alle beschäftigten sich mit bestimmten Tätigkeiten, hatten einen Platz und ihre Aufgabe. Alle außer Bellamy. Er fühlte sich uneingeweiht und verloren. Zögerlich sah er von einem fremden Gesicht in das nächste. Behutsam erkundete er die harten Mienen, als könnten sie ihn bemerken und ihm gefährlich werden. Doch keiner beachtete ihn. Hilflos glitt sein Blick gen Decke, wo er den Himmel vermutete. Sogar das stellte er infrage, so sehr misstraute er diesem Ort. Die Hölle, in der er gelandet war, fraß sich tief in seine Seele hinein und verschlang den letzten Rest des Vertrauens, den er in diese Welt hatte.

"Bellamy Bennington!", erklang eine kraftvolle Stimme. Die Härte im Ton war nicht zu überhören, auch wenn der Aufruf mindestens zwanzig Meter von ihm entfernt war. Erschrocken suchte er in der Menge herum und drehte sich übereifrig um seine eigene Achse. Er hatte das stressige Gefühl, als ob er hier niemanden warten lassen durfte.

Sein Blick blieb an einer Frau hängen, die den anderen Autoritätspersonen sowohl vom Aussehen als auch von der Ausstrahlung her nicht unähnlich war. Die dunklen Haare waren kurz geschnitten, sodass es keine Möglichkeit gab, dass sie ihr jemals im Weg sein konnten. Ihre muskulöse Statur war unnatürlich dürr und unwillkürlich hoffte Bellamy, ihr niemals gegenübertreten zu müssen.

Rasch trugen ihn seine Beine in ihre Richtung. Die Frau hielt ein Dokument in einer Hand und einen Stift in der anderen. Keine Sekunde löste sich ihr Blick davon und doch schien sie Bellamy bemerkt zu haben.

"Ist anwesend", sagte sie harsch. Sie sprach in einer normalen Lautstärke, auch wenn Bellamy sie nicht als angenehm beschreiben würde. Inzwischen vermutete er, dass er sogar einen flüsternden Krieger als bedrohlich empfinden würde.

"Bennington, dir wird jetzt das System erklärt, das hier herrscht", sprach sie im unfreundlichen monotonen Ton. "Höre zu. Es wird nicht nochmal wiederholt", warnte sie. Plötzlich sah sie doch von ihrem Zettel auf und ließ Bellamy mit ihren stahlharten grauen Augen augenblicklich erstarren.

"Zuerst das Wichtigste: Du wirst zu einem Krieger ausgebildet. Jede Tätigkeit, jedes Handeln erfolgt alleine zu diesem Zweck. Du isst und schläfst nur, um kämpfen zu können. Alles ist exakt auf dieses Ziel ausgerichtet. Auf die Ausbildung der NBI."

Das ungute Gefühl in Bellamys Bauch schwoll zu einem Schmerz an. Eine schlimme Ahnung auf die bevorstehende Zeit ließ ihn innerlich erbeben. Nach außen hin wagte er es nicht, das zu zeigen. Er durfte nicht schwächeln. Vor so einer leistungsorientierten und eisigen Person konnte das sein Ende bedeuten.

"Jeder angehende Krieger bekommt einen anderen angehenden Krieger zugeteilt. Dieser jeweilige Trainingspartner wird Antagon genannt. Er ist der einzige, der dich zu interessieren hat. Nur mit ihm darfst du trainieren oder sprechen. Mit sonst niemandem. Die anderen Krieger ignorierst du. Du siehst sie nicht mal an. Das ist verboten."

Die Härte in den Worten ließ nicht nach, sondern verschärfte sich mit jedem Satz. Eindringlich inspizierte sie Bellamy, der sich nicht traute, auch nur eine falsche Bewegung zu tätigen. Konzentriert spitzte er die Ohren und versuchte, alle Gedankengänge zu pausieren. Doch so einfach konnte er seinen brummenden Schädel nicht abschalten.

Er dachte daran zurück, wie der Junge hektisch weggesehen hatte. Die Angst in seiner Miene war keine Einbildung, sondern Realität gewesen. Der Arme hatte tatsächlich nicht gewusst, wie er mit diese Situation hätte umgehen sollen. Außerdem erklärte es das Verhalten der Menschenmasse hier allgemein. Keiner schien an dem jeweils anderen interessiert zu sein, als seinem individuellen, nie wechselnden Gegenüber. Nur die autoritären Krieger mit dem gelegentlichen Brüllen stachen heraus und wandten sich unterschiedlichen Personen zu.

"Es wird den Großteil der Stunden, die an einem Tag zur Verfügung stehen, gekämpft. Ich betreue das Training und analysiere eure Entwicklungen, Fortschritte und Erfolge. Alles wird bewertet und in Form von Punkten zusammengerechnet." Alles zog sich in Bellamys Brust zusammen. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Wozu brauchten sie Punkte? Wozu die Bewertung?

"Am Ende des Tages werden die Punkte gezählt und in ein Protokoll eingetragen. Nach exakt zweiundsechzig Tagen wird das Prozedere gestoppt und die Leistungen mit dem jeweiligen Antagonen verglichen. Dann geht es darum, welcher der bessere der beiden war. Die höhere Punktezahl bekommt wieder einen blutigen Frischling zugeteilt und das Ganze beginnt von Neuem."

Die kratzige Stimme verstummte für einen Moment. Mit klopfendem Herzen beobachtete Bellamy jede ihrer Regungen. Sie notierte etwas auf ihrer Liste. Ihr Mund war angespannt zusammengepresst und ihr strenger Blick starrte Löcher in das Papier. Anschließend begann sie, heftig zu kritzeln. Allem Anschein nach strich sie ein bestimmtes Feld durch, das möglicherweise seine Funktion verloren hatte.

"Für den Verlierer geht es nicht weiter", fuhr sie barsch fort. "Das unbrauchbare Fleisch wird aussortiert." Die Worte waren mit einer Eiskruste überzogen.

Aussortiert. Ein Zittern erfasste Bellamy. Seine Pupillen weiteten sich und starrten die Frau fassungslos an.

"Das Prozedere wird solange wiederholt, bis der Rat die Entscheidung gefällt hat, dass der dominierende Krieger bereit ist. Das kann in manchen Fällen bis zu drei Jahren andauern. Der Rat ist wählerisch. Aber das System funktioniert. Durch die Selektion etabliert sich das stärkere Tier und unsere Organisation wird mit jedem unbezwingbaren Krieger mächtiger."

Selektion. Stärkeres Tier. Bellamy konnte den Worten kaum mehr folgen. Er fing einzelne Wortfetzen auf, die ihm einen Schlag ins Gesicht verpassten, wenn die Frau sie ausspuckte.

"Dir wird nun dein Antagon zugeteilt", teilte sie ihm knapp mit. Sie blickte an ihm links vorbei und fixierte einen Punkt im Hintergrund. Was auch immer ihre matten, grauen Augen erfassten. Er wollte es nicht wissen.

Nein. In Bellamy sträubte sich alles dagegen auf, sich umzudrehen. Sein Rücken begann zu kribbeln und er meinte förmlich Blicke zu spüren. Er wollte diesem Mädchen nicht in die Augen sehen. Er konnte nicht. Er konnte das nicht ertragen.

Einer von ihnen beiden. Einer von ihnen würde in knapp zwei Monaten sterben müssen.

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