Kapitel 29

AN JENEM NACHMITTAG schafften sie es tatsächlich, alle vier Kapitel zu lesen. Das zweite Kapitel trug den Namen 'Ermittlung' und beinhaltete nur wenige Absätze, die in derselben Form geschrieben waren wie das gesamte erste Kapitel. Darin wurde erklärt, wie die unter Quarantäne gestellten Wissenschaftler auf die Tagebuchschreiberin reagierten und wie sie selbst damit umging.

Xyla schenkte ihr ein altes Notizbuch, indem sie ihr erklärte, wo sie es aufbewahrte. Sie erklärte der wahnsinnig gewordenen Frau, dass es ihr vielleicht helfen würde, das alles aufzuschreiben. Die Autorin dieses Tagebuchs war überrascht gewesen und hatte ihren Rat befolgt, während sie die frustrierten Beleidigungen der anderen Eingesperrten ignorierte. Es war jenes Notizbüchlein, in welchem sie das alles aufgeschrieben hatte.

Der Rest des zweiten Kapitels beinhaltete lediglich Aufzeichnungen, die das Verhalten der Kollegen und Kolleginnen beschrieben. Sie führte Versuche durch, schrieb die Ergebnisse auf und schlussfolgerte daraus makellose Erkenntnisse. Man merkte, dass sie auf der richtigen Spur war und eine Ahnung von dem hatte, was sie tat. Je mehr sie die Notizen der erschreckend brillanten Wissenschaftlerin analysierten, desto klarer wurde, dass ihre Versuchskaninchen fast die exakt selben Merkmale aufzeigten, wie Tracker.

Zumindest nahm Rae das an. Angel hatte schon vermutet, das es so nicht ganz stimmen konnte, doch Ayame war diejenige gewesen, die bewies, dass es nicht der Wahrheit entsprach. Sie notierte die für sie relevanten Punkte und verglich sie mit den Fähigkeiten der Tracker. Kurzzeitig stoppten sie damit, das Buch weiterzulesen und warteten, bis Ayame ihre Nachforschungen beendet hatte.

"Diese Menschen sind keine Tracker. Sie sind Tracer." Als Ayame diese interessante These aufgestellt hatte, diskutierten sie noch einige Zeit über den Grund ihrer Annahme. Angel war schließlich überzeugt und drängte umso neugieriger danach, das dritte Kapitel zu lesen.

Die Autorin des Tagebuchs beschrieb im Abschnitt 'Verfolgung', wie es weiterging, nachdem sie zufrieden mit dem war, was sie herausgefunden hatte. Rae fragte daraufhin, warum die sogenannten Tracer derart ungewöhnlich reagierten. Schließlich wehrten sie sich kaum und plauderten im Laufe der Zeit völlig normal mit der Frau, die sie eingesperrt hatte. Ayame erklärte ihr daraufhin einige grundsätzliche Dinge.

Eine ihrer Theorien war, dass möglicherweise eine lange Zeit verging, in der sie gefangen gehalten waren und sie sich deswegen damit abgefunden hatten. Dazu kam, dass sie mit der Zeit, immer mehr ein für Tracer typisches Verhalten aufzeigten, was man anhand des zweiten Kapitels deutlich belegen konnte. Das hieß so viel wie, dass sie immer loyaler und einsichtiger wurden. Interessant fand insbesondere Angel, dass diese Frau bewusst geheimhielt, zu was sie fähig gewesen wären. Locker hätten sie es geschafft auszubrechen. Hätten sie bloß gewusst, wie sie ihre Fähigkeiten einsetzten.

Die Frau begann im dritten Kapitel mit den Tracern zu verhandeln. Xyla erwies sich nach wie vor als Gesprächigste, hatte allerdings anscheinend trotzdem eine Art Einfluss auf die anderen Angesteckten. Verblüffenderweise schlossen sie einen Pakt, den die Frau vorgeschlagen und ausgearbeitet hatte und den die Tracer mit Freude annahmen.

Der Pakt beinhaltete das Versprechen, sie nicht nur freizulassen, sondern ihnen auch dabei zu helfen, einen Ort aufzubauen, an dem sie ungestört ihr Dasein verbringen konnten. Die Tracer durften sich im Gegenzug nicht mehr auf der Erde zeigen. Sie mussten wortwörtlich von der Landkarte verschwinden. Trotzdem konnten sie an diesem Ort nach ihren eigenen, an ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse angepassten Regeln leben. Noch dazu versprach sie ihnen, die Kräfte aus ihnen herauszulocken, die in ihnen schlummerten. Sie erwähnte noch ein Mittel, an dem sie noch arbeitete. Dieses verschwieg sie ihnen vorerst, genauso wie einen anderen Punkt. Diesen Punkt erläuterte sie allerdings erst später genauer.

Laut der Frau lief alles nach genau ihrem Plan und sie arbeitete friedlich mit den Tracern zusammen. Sie verließen das Forschungsinstitut und bauten diesen gewissen Ort auf, in welchem die Tracer leben sollten. Parallel dazu brachte sie ihnen bei, wie sie ihre Fähigkeiten nutzen konnten und forschte gleichzeitig an diesem Mittel, das sie vorerst, gegenüber den anderen, noch nicht erwähnt hatte.

Der letzte Teil des dritten Tagebuchabschnitts beinhaltete die Erkenntnis der Frau, dass sie es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde, dieses Mittel fertigzustellen. Verärgert und demotiviert vereinfachte sie es, bevor sie zuerst Xyla und anschließend den anderen davon erzählte. Sie erklärte ihnen, dass es eine Art Hemmung beheben würde. Die Wirkung würde zwar nicht vollständig erzielt werden, doch davon setzte sie die Tracer nicht in Kenntnis.

Mit Xyla alleine besprach sie die letzte Bedingung des Pakts, die allerdings mehr einem Gefallen glich. Bevor sie davon erzählte, brachte sie ihr eine Fähigkeit bei, die sie den anderen vorenthalten hatte. Das Zeichnen von Menschen. Sie räumte sich bei Xyla das Versprechen ein, in sechzehn Jahren wiederzukommen.

Das vierte und letzte Kapitel hieß 'Begleichung des Fehlers' und beinhaltete vor allem die vor Verzweiflung triefenden Aufzeichnungen davon, wie sie an dem Mittel weiterforschte. Offensichtlich war sie eine kranke Perfektionistin. Sie konnte nicht ertragen, dass sie nicht erschaffen konnte, was sie sich wünschte. Was sie ihrer Meinung nach können sollte. Sie machte sich allerhand Vorwürfe.

Anscheinend war das, woran sie forschte, harte Arbeit. Laut Ayames Analyse verging wirklich ein gutes Jahrzehnt, bis sie zu einem erfolgreichen Ergebnis kam. Im letzten Teil des vierten Kapitels beschrieb die Wissenschaftlerin schließlich genauer, was ihr Plan war und was es mit der scheinbar kleineren, unwichtigeren Vereinbarung auf sich hatte.

Ihr Plan war nicht nur gewesen, dass sie dieses Mittel nach besagten sechzehn Jahren Xyla übergeben würde, sodass sie und die anderen es sinnvoll nutzen konnten. Da eine gewisse Unsicherheit vorlag, die sie vor all den Jahren schon vorausgesehen hatte, brauchte sie ein Versuchskaninchen.

Damals hatte Xyla ihr versprochen, den Fehler aufzunehmen, da es der Wunsch der Wissenschaftlerin war. Der Grund dafür war, dass es sie entlastete. Sie konnte so besser arbeiten. Als die drei Jugendlichen diese Zeilen gelesen hatten, waren sie wirklich entsetzt gewesen. Doch dieser Frau war ihr eigenes Blut völlig gleich, wenn nicht, sogar lästig.

Aber das erwähnte sie ohnehin nur beiläufig. Euphorisch beschrieb sie im überwiegenden Teil stattdessen, wie die ultimative Vollendung ihres Werkes vonstatten ging. Da sich die anderen bei ihr innerhalb der letzten Jahre nicht mehr gemeldet hatten, hatte sich zwar ein gewisses Misstrauen entwickelt, doch andererseits verließ sie sich auf Xyla.

Schließlich kam der Tag immer näher, an dem sie nicht nur eine alte Bekannte wiedersehen würde, sondern ihr auch direkt das Meisterwerk übergeben konnte. Die Tracker sollten es durch die veraltete Version ersetzen und würden anschließend zu den perfektionierten Wesen werden, von denen die Frau schon lange geträumt hatte.

Die letzten Einträge waren allesamt voller guter Laune, doch der allerletzte stellte einen völligen Gegensatz zum Rest dar. Auch kam das Ende viel schneller und abrupter als erwartet. Ayame vermutete, dass jemand - mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar Xyla persönlich -, das Tagebuch hatte mitgehen lassen. Rae hatte zwar widersprochen, da diese Frau ihr das Buch sowieso gewidmet hatte, doch die Brillenträgerin hatte sinnvolle Argumente gebracht.

Ayame hatte ihr erklärt, dass die Frau offensichtlich vorgehabt hatte, ihr das Tagebuch erst zu einem späteren Zeitpunkt zu schenken. Xyla hatte es wohl noch in derselben Nacht mitgehen lassen, von welcher im letzten, plötzlich endenden Eintrag gesprochen wurde. Die Widmung war zwar bereits fertiggeschrieben, dennoch wurde das letzte Kapitel nie vollendet. 

"In einigen Stunden wäre es so weit gewesen. Es ist der Tag, ab dem ein jugendliches Kind frühestens gezeichnet werden konnte. Würde man einen Menschen außerhalb dieser Zeitspanne zeichnen, wäre es Mord. Und Morde wollte ich nun doch nicht begehen, wenn es auch andere Wege gab, jemanden loszuwerden.

Es war genau eine Minute vor Mitternacht, als ich mein Arbeitszimmer betreten hatte. Den Ort, an dem ich mich am meisten aufhielt. An dem mein Werk in seiner vollen Pracht entstanden war und lagerte.

Nun ist es null Uhr und ich sitze in den Scherben und Resten von dem, was übrig geblieben ist. Ich sollte außer mir sein, vor Zorn. Sollte kochen vor Wut. Doch dieser Fehler in meinem System, meinem Leben, verdient diese Aufmerksamkeit nicht.

Stattdessen schreibe ich hier nieder, was ich denke. So wie ich es nun schon seit knapp sechzehn Jahren getan habe. Parallel dazu plane ich in meinem Kopf bereits, wie ich es zurückzahlen könnte. Bewusst bewahre ich einen kühlen Kopf und berechne mir konzentriert alles Notwendige. Bin ausgeglichen, sodass ich es diese Nacht noch schaffen werde, die Strafe anzufertigen.

Mein Lebenswerk ist zerstört. Es ist unmöglich, es wiederherzustellen. Nicht in diesem Leben. Dazu fehlt mir die Energie. Ich hatte sie bereits aufgebraucht. Nun war alles verloren.

Das ist mir bewusst und doch arbeite ich genau in diesem Moment an einem Serum, das in etwa das Gegenteil bewirken würde. Wie ein Gift wird es sein, wenn nicht schlimmer.

Xyla und die anderen verwenden mit hoher Wahrscheinlichkeit noch immer die billige Version meines Werkes. Auch in Zukunft werden sie darauf angewiesen sein. Aber das, was ich jetzt entwickeln werde, wird den Abschaum prägen. Es wird diese Last auf ewig tragen. Wird dafür büßen, ohne wissen zu können, warum. Wird für immer damit verseucht sein. Einen Weg, es rückgängig zu machen, gibt es nicht. So konstruiere ich es bewusst.

Zu sagen, dass ich es hasse, wäre gelogen. Ich widme ihm keinen Hauch von Gefühlen. Aber ich werde glücklicher sein, wenn Xyla morgen endlich kommt und es mit sich nimmt. Vielleicht werde ich dann endlich von meinem Leid erlöst sein."

Ayames Stimme durchflutete den Raum zum letzten Mal an diesem Nachmittag. Rae hatte sich an das Schweigen und Lauschen bereits gewohnt. Es war seltsam, sich plötzlich aus dieser Starre zu lösen und wieder eigenständig zu denken. Auch konnte sie noch nicht fassen, dass es das Ende war. Rae hatte noch so viele Fragen, die sie gerne beantwortet hätte. Diese Geschichte, welche diesen Nachmittag wie ein strömender Regen auf sie eingeprasselt war, konnte einfach noch nicht aus sein.

Woran hatte die Frau gearbeitet, nachdem ihr letztes Projekt anscheinend zerstört wurde? Was hatte sie damit vorgehabt? War Xyla tatsächlich aufgetaucht oder kam das Tagebuch auf anderem Wege in die IUU?

Rae hatte sich in die Geschichte hineingefühlt wie sie es noch nie getan hatte. Fast identifizierte sie sich mit der Frau, auch wenn ihre Geschichte nicht die reinste und unschuldigste war. Es war faszinierend, Hintergrundwissen zu besitzen, das die Tracker betraf und den Tracern gleichzeitig offenbar vorenthalten wurde.

Ayame schloss das Buch jedoch nicht, sondern starrte scheinbar noch immer auf die letzte Zeile. Ihre Augen waren ein wenig zusammengekniffen und schienen angestrengt etwas entziffern zu wollen.

"Was ist denn?", fragte Angel und kam somit Rae zuvor. Doch bevor Ayame aufblickte und etwas erwiderte, kam Angel promt auf sie zu und blickte ebenfalls konzentriert auf dieselbe Stelle. Schließlich wurde auch Rae neugierig und beschloss sich zu erheben.

Ihre Augen fanden schnell die richtige Zeile, als sie den Kopf zu ihnen steckte. Eine verschnörkelte Unterschrift. Das war es, was sie nun versuchten, zu entziffern.

"Sieht so aus, als würde es mit einem 'J' beginnen", murmelte sie. "Aber sie hat nie ihren Namen erwähnt", merkte Rae an.

"Eben das ist es, was mich daran stört. Warum hat sie es hier gemacht?", fragte Angel und fuhr mit dem Finger nachdenklich die wüste Schrift nach.

"Ehrlich gesagt, denke ich nicht, dass dies von Bedeutung ist. Sie rechnete offensichtlich mit dem, was in ihrer Zukunft passierte. Bestimmt hat sie es völlig intuitiv gemacht, da sie vermutete, dass ihr Tagebuch abhanden kommen würde. Vielleicht hat sie es aber auch einfach gemacht, weil sie mit den Forschungen zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen war. Zumindest klang es nicht so, als würde sie von Neuem beginnen", spekulierte Ayame. Doch Rae hatte ihr nicht mehr richtig zugehört. Etwas völlig anderes war ihr stattdessen aufgefallen.

"Leute, ich glaube das hier ist definitiv mehr von Bedeutung", wies sie auf eine weitere Stelle auf dem vergilbten Papier. Schließlich schnappte sie sich einfach das Buch und zog es von Ayames Schoß. Nun konnte sie es noch besser erkennen.

"Rae, was soll das? Zeig uns doch vielleicht einfach, was du meinst", verlangte Angel in einem bewusst neutralen, aber doch strengen Ton.

"Hier sind Zahlen. Ziemlich klein, aber doch erkennbar. Direkt unter dem Kapitel", sagte Rae und zeigte darauf. Dann drehte sie sich zu Angel und übergab ihr das Buch freiwillig.

Angel blickte sie in einer Mischung aus Verwirrung und unterdrücktem Ärger an und konzentrierte sich anschließend auf das Tagebuch. Als ihre Augen über die Zeile mit den Ziffern glitt, zogen sich ihre Augenbrauen immer weiter zusammen. Noch viel verwirrter als zuvor, gab sie die Lektüre an Ayame weiter.

"Ich bezweifle, dass es eine Verschlüsselung ist. Wäre auch eher ungewöhnlich, wenn man sich das so ansieht. Aber keine Ahnung, ich kann mich auch irren. Was meinst du, wofür diese Zahlenfolge steht?", fragte sie Ayame. Sie starrte nur kurz in das Buch, bevor sie nüchtern antwortete.

"Ich weiß es nicht."

Einen Moment lang wurde sie von den Tracern einfach nur erwartungsvoll angeschaut. Rae war tatsächlich überrascht, dass Ayame an eine ihrer Grenzen gestoßen war. Sie hatte gedacht, dass sie alles wusste. Oder wenigstens eine Theorie auf Lager hatte. Aber, dass sie ratlos war, kam plötzlich.

"Gut, dann bohren wir hier später nach und vergessen das mal kurz. Ich wollte euch nämlich auf etwas ganz anderes ansprechen", wechselte sie abermals das Thema.

Vor allem Angel war die Skepsis deutlich anzusehen. Bestimmt wunderte es sie, warum Rae auf einmal so eifrig an der Sache dran war. Man konnte beinahe sagen, dass sie die Diskussionen leitete und die Themenwechsel kontrollierte. Trotzdem wollte Angel sie nicht bremsen, da es sie doch freute, dass sie endlich mitmachte. Sie spürte, dass sie ihr eine Chance gab und versuchte, ihr zu vertrauen. Ayame hingegen nahm einfach hin, dass Rae etwas sagte. Sie machte mit und schien sich auch keine Gedanken darüber zu machen.

"Es fällt mir wirklich nicht leicht, das zu sagen, also bitte hört mir zu. Bis zum Ende", gestand sie und nahm einen tiefen, schweren Atemzug. Krampfhaft versuchte sie, das widersprüchliche Ziehen in ihrer Brust zu ignorieren. Es war richtig. Es musste so sein und das wusste sie. Auch wenn sich alles in ihr gegen ihre Überlegungen sträubte.

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