Kapitel 28

"ALLES IN ORDNUNG?", fragte Ayame, an Angel gewandt. Sie hatte ihr Glas inzwischen gierig geleert und fächelte sich stetig Luft zu. Etwas zu hektisch nickte sie der Schwarzhaarigen zu, die bereits auf die nächste Seite des dunkelgrün eingebundenen Buchs geblättert hatte.

"Ja, alles in Ordnung. Ich meine, nein, ich finde Blut und das alles einfach ekelerregend. Also solange es explizit beschrieben ist und du es vorliest, werde ich kurz weghören", klärte sie ihr Verhalten auf.

"Gut, dann tu das. Aber ich will alles davon hören, also lass nichts aus, Aya", teilte sich Rae mit.

Ayame ging nicht weiter auf das alles ein und zögerte nicht lange, bevor sie wieder weiter las. Das erste Kapitel besaß ohnehin nicht mehr allzu viele Seiten.

"Vor Schreck ließ ich den Griff der Injektion los und taumelte mehrere Schritte zurück. Das Glas fiel zu Boden und zerschellte in Millionen feine Scherben. Ich spürte die Tür hinter mir, an der ich mich anlehnte und kräftig dagegen drückte. Andere wären an ihr herabgerutscht und hätten hemmungslos angefangen zu schluchzen. Sie wären in diesem Raum geblieben und hätten sich nicht imstande gefühlt, rational zu handeln. Und überlebt, hätten sie das hier ohnehin nicht.

Nachdem sein Brüllen schließlich zu einem heiseren Krächzen übergegangen war, schälte er sich aus seiner Decke und versuchte, das Bett zu verlassen. Er bemühte sich aufzurichten, schaffte es jedoch kaum. Wollte sich abstützen, was jedoch ebenso nicht klappte. Mit seiner unverletzten Hand, umschloss er das rechte Gelenk, da sich dort die Einstichstelle in seine Hauptschlagader befand. Aufgrund der Finsternis, hatte ich kaum etwas gesehen, allerdings konnte ich schemenhaft erkennen, wie seine Arme unter seinem Gewicht einknickten und er von seinem Bett rollte.

Ich hörte genau, wie sich die dünnen Splitter der Injektion in seinen Rücken bohrten und er sich darin wälzte, nur um noch einen Schrei von sich zu geben, der mir wegen der Lautstärke zusetzte. Nicht aufgrund der Empathie, welche jeder andere empfunden hätte.

Als der Schmerzenslaut schließlich abebbte, stand er schleppend langsam auf. Ich weiß noch genau, wie animalisch er geknurrt hatte und wie ich mir dem Ernst der Lage bewusst geworden war. Ich stand auf, machte die Türe auf und stürmte hinaus. Verschwendete keine Zeit mehr. Dies wäre sowieso mein Todesurteil gewesen, wie wir inzwischen wissen. Mein Blick fixierte meine Hände und Beine. Auf ihn, nur wenige Zentimeter hinter mir laufend, achtete ich nicht. Ich war nur auf mich selbst konzentriert und alles andere war in dem Moment nebensächlich.

Dass er dicht hinter mir rannte, hatte ich währenddessen ausgeblendet. Genau wie sein dröhnendes Brüllen. Heute weiß ich allerdings, wie knapp das Ganze gewesen ist. Nur wenige Zentimeter hatten uns getrennt, als er hinter mir lief. Nur ein kurzes Zögern hätte gereicht, um mich direkt ins Grab zu befördern. Doch das Schicksal meinte es in dieser Nacht ausnahmsweise gut mit mir. Für die anderen, auch für dich Xyla, ging das alles leider nicht annähernd so glücklich aus.

Am nächsten Tag wachte ich zwar mit einem schlimmen Kater auf, fühlte mich allerdings besser als sonst. Zu erwachen, war mir bereits so fremd gewesen, dass es meinem Körper sogar gut getan hatte, auf einem harten und kalten Boden geruht zu haben. Der Kater stellte immer noch ein wohligeres Gefühl dar, als gar nicht zu schlafen.

Ich stand langsam auf, als wollte ich mich schonen und dem Geschehenden nur vorsichtig entgegen blicken. Von der letzten Nacht hatte ich bloß verschwommene, verworrene Erinnerungen gehabt, wobei ich bis jetzt nicht genau weiß, woran das liegt. Hatte das reine Einatmen dieses Serums, doch eine minimale Auswirkung auf mich gehabt? Oder hatte ich einen Schock erlitten?

Tatsache war jedenfalls, dass ich in einem verdunkelten, mir nicht bekannten Raum, zu mir gekommen war. Zuerst wusste ich nicht mal, wo sich der Ausgang befand. Ich sah mir den kleinen, stickigen Raum nicht weiter an, sondern versuchte, ihn zu verlassen und herauszufinden, was in der gestrigen Nacht passiert war. Ich tastete die Wand ab und fühlte eine Art Fassade. Dieser Schacht war offensichtlich der einzige Weg, der hinaus und hineinführte, weswegen ich reinkletterte. Während ich immer weiter vorkam und schließlich im Halbdunklen herumirrte, stolperte ich plötzlich.

Ich wusste nicht, was die Ursache dafür war, doch ganz plötzlich fiel ich und traf auf einem Boden auf. Helligkeit umgab mich und auf Anhieb erkannte ich den Gang, in dem ich mich befand. Nur kurz suchte ich verwirrt die Umgebung ab, konnte mir allerdings absolut nicht erklären, woher ich gekommen war. Schließlich entschloss ich mich dazu, den Gang zu verlassen und die Richtung einzuschlagen, die zu den Rückzugsorten der Wissenschaftler führte.

Nach einigen Minuten, monotonen Gehens, erblickte ich eine ehemalig weiß gewesene Wand, bei einer Abzweigung. Je näher ich ihr kam, desto mehr wurde mir bewusst, dass sich mir dahinter ein grauenhafter Anblick bieten würde.

Ohne mein Schritttempo zu verlangsamen, bog ich ab, kam allerdings im selben Moment gezwungenermaßen zum Stehen. Das hatte nicht den Grund, dass große Flächen der Wände mit Blut besprenkelt waren, sondern, dass ich sonst über einen blassen, leblosen Körper gestolpert wäre. Mein Fuß stupste die Person an, die von Kratzern überseht und dessen Nachtgewand in ihrem Lebenssaft getränkt war. Sein Kopf drehte sich in meine Richtung. Leblose, graue Augen sahen mir entgegen und im Gesichtsausdruck glaubte ich, den Hauch einer Ahnung erkannt zu haben, was ihm gestern widerfahren war.

Ich wusste, wer dieser Wissenschaftler war. Es war Thompson. Nur wenige Erinnerungen traten in mein Gedächtnis, da ich ihn nicht besonders gut gekannt hatte. Doch das Gesicht der Leiche prägte sich in meinen Kopf ein, wie ein Brandmal, auch, wenn ich viele weitere, mir bekannte Gesichter erblickte, als ich weiter durch den Gang schritt. Ohne die Körper weiter zu beachten, ging ich immer weiter und fand immer mehr Leichen. Die, welche nicht völlig zerschunden aussahen, prüfte ich nach Lebenszeichen ab und stellte jedes Mal aufs Neue fest, dass sie tot waren.

Ich ging immer weiter und wartete bloß auf den Augenblick, in dem mir entweder sein lebloser Blick oder deiner entgegensehen würde. Immer weiter und schneller lief ich die Gänge entlang und suchte die Leichen ab. Sprang über ihre, im Weg liegenden Körper, hinweg und stellte immer mehr Todesfälle fest. Eine Art Hoffnung durchflutete mich, da ich immer mehr Namen zählte und feststellte, dass deiner fehlte.

Schließlich stand ich vor dem letzten Raum, den ich mir unwillkürlich bis zu letzt aufgespart hatte. Es war relativ wahrscheinlich, dich und vor allem einige Wissenschaftler darin zu finden, deren Leichen ich in den Gängen und anderen Räumen noch nicht entdeckt hatte. Fast glaubte ich es nicht, als ich tatsächlich deinen Körper erspähte. Zu dir ging ich zuerst, als ich die Routine durchführte, die innerhalb dieser kurzen Zeit, beinahe ein Standard geworden war.

Wieder zögerte ich nicht lange, sondern fasste gleich nach deinem Handgelenk. Wie bei den unzähligen Menschen zuvor, erwartete ich bereits, das unterkühlte Körperteil einer Leiche zu ergreifen. Sicher rechnete ich damit, keine Regung zu spüren, wenn mein Daumen nach dem Puls suchen würde. Doch dem war nicht so.

Die Überraschung war groß, als ich feststellte, dass sowohl du, als auch alle anderen, die in diesem Raum regungslos verweilten, noch lebten. Alle außer er. Ihn machte ich augenblicklich in diesem Raum aus, da eine breite Blutspur zu ihm führte. Das Seltsame und zugleich Faszinierende an dem Bild, was sich mir bot, war, dass ihr völlig unversehrt ausgesehen hattet. Während er mehr einer bestialischen Kreatur glich, als einem Menschen, wies eure Haut nicht einen einzigen Kratzer auf.

Euch lebendig aufzufinden, änderte alles. Mein Eifer für die Wissenschaft war zurückgekehrt und ich fühlte mich nicht mehr schuldig. Auch heute hätte ich genau das getan, was ich vor zwei Tagen vollbracht hatte.

Ich verstand zwar nicht, warum ihr die Einzigen wart, die überlebten und noch dazu völlig wohlbehalten aussahen, aber ich wusste, dass mir keine Gefahr mehr drohte. Die kritische Phase war bereits vorüber. Die Neugier und Lust am Herausfinden neuer Erkenntnisse, förderten mein Selbstvertrauen, worauf ich euch nach der Reihe in die Versuchsräume sperrte. Euch wie Tiere in diese gläsernen Gefängnisse zu stecken, wäre für jeden Menschen etwas völlig Absurdes gewesen. Für mich war der Gedanke allerdings die ganze Zeit über das Vernünftige und Notwendige gewesen, das ich zutun hatte.

Nachdem ich alle Aufzeichnungen gemacht hatte, die in eurem bewusstlosen Zustand sinnvoll gewesen waren, setzte ich mich vor die Glasscheibe. Ich starrte Löcher in eure ruhenden, friedlichen Körper und wurde dabei nicht einmal müde. Inzwischen war mein Schlafrhythmus so eingestellt, dass ich nach diesem, auf eine neue Art und Weise anstrengenden Tag, einfach nicht mehr erschöpft sein konnte.

Seine und die anderen Leichen hatte ich entsorgt, bevor ich mich vor die Versuchsräume gesetzt hatte. Auch das ließ mich kälter, als ich es von mir erwartet hatte. Doch was mich viel mehr beschäftigte, wart ihr. Denn die Tatsache, dass ihr nicht nur gesund wart, sondern auch eine unglaubliche Aura um euch schwebte, die ich mir konkret wissenschaftlich kaum erklären konnte, war unglaublich und faszinierend zugleich.

Schließlich kam dieser Punkt, an dem plötzlich Bewegung in die ganze Szene kam. Kaum war das Augenpaar von einem der Kollegen aufgeschlagen, schien dies eine Kettenreaktion auszulösen, weswegen alle anderen ebenfalls ihre Augen öffneten. Fassungslos und panisch durchlöcherten mich eure Pupillen. Blankes Entsetzen war in ihnen abzulesen.

Und doch erwiderte ich das alles mit einem Lächeln. In meinem Inneren, wo bei anderen Schuldgefühle geschlummert hätten, befand sich nichts als Eifer und Vorfreude. Vorfreude auf die Untersuchungen, die ich in naher Zukunft durchführen würde."

Rae konnte nicht anders, als den Kopf zu schütteln. Ganz unabhängig davon, wie interessant das alles war, konnte sie nicht aufhören, daran zu denken, wie krank dieser Mensch sein musste, um so etwas zu tun.

"Geistesgestört", meinte sie schließlich, als niemand etwas sagte, nachdem Ayame das Buch zugeschlagen hatte. Das Zimmer war plötzlich völlig still geworden.

"Ja", stimmte Angel zu. Während Rae es nicht gewagt hatte, Ayame in ihrem konzentrierten Vorlesen zu unterbrechen, hatte sie Angel immer wieder darauf hingewiesen, wann sie zu und wann wieder weghören sollte. Im Allgemeinen musste sie den Kontext jedoch erfasst haben.

"Okay. Gut. Also, nicht gut, aber hört mal. Ich glaube, jedem von uns ist klar, worum es in diesem Tagebuch geht und wieso es in der IUU vor sich hinschimmelt", begann Rae schließlich, um auf das Wesentliche wieder zurückzukommen. Krank, hin oder her, hier ging es um Mi. Für sie mussten sie eben beinhart die Zähne zusammenbeißen und die Fakten klar vor Augen behalten.

"Wer auch immer diese Frau ist oder war, sie hat mit den Trackern wohl sehr viel zutun gehabt. Sehr, sehr viel sogar", bemerkte sie und schenkte den beiden Tracern einen bedeutsamen Blick. Schließlich ergriff Ayame das Wort und ging auf das ein, was Rae angesprochen hatte.

"Das ist relativ eindeutig, ja. Ab dem Punkt, als diese Wissenschaftlerin beschrieben hat, dass die Überlebenden unverletzt waren, hat sich das meines Erachtens bestätigt. Sie sind Tracker und noch dazu anscheinend die Allerersten, die es gegeben hat."

Nachdenklich spielte sie mit dem Einband des Buchs. Angel erhob sich von ihrem Bett und stellte ihr Glas auf den Schreibtisch. Sie begann auf und abzugehen, was Rae ein klein wenig nervös machte.

"Am besten, wir analysieren den Sinn dahinter", schlug sie vor. Obwohl sich Rae nicht mehr so gut konzentrieren konnte, war sie froh darüber, dass Angel das Denken wieder in die Hand nahm.

"Diese einerseits gestörte und andererseits geniale Wissenschaftlerin steckt also hinter all dem?" Die Frage war fast mehr an sie selbst gestellt, doch Ayame erwiderte trotzdem etwas darauf.

"Ihr Tagebuch", stellte sie fest und deutete auf die dunkelgrün umhüllte Lektüre. "Ist anscheinend die Entstehungsgeschichte der Tracker. Mitsamt der Umstände, Bedingungen und Hintergründe."

Angel ging noch einige Male hin und her, bevor sie plötzlich stehen blieb und das Buch anstarrte. Es sah so aus, als ob ihr gerade etwas eingefallen wäre, doch Rae war einfach nur froh, dass sie aufgehört hatte, dermaßen unruhig auf und abzugehen.

"Wisst ihr, inzwischen hinterfrage ich so einige Dinge, hier in der IUU, aber das hier solltet ihr euch echt mal durch den Kopf gehen lassen." Die Blondine setzte sich wieder auf ihr Bett und ließ Rae somit kaum Zeit, ihre Augen zu verdrehen.

"In TS haben wir allerhand Dinge gelernt. Wichtige Dinge über unsere Spezies. Aber vergleicht mal die unterschiedlichsten Vorlesungen mit TS. Die Geschichte, wie der Homo Sapiens entstanden ist. Katzen. Hunde. Bären. Ja, sogar Ameisen. Für sie alle gibt es eine Vorgeschichte. Aber für unsere? Haben wir jemals etwas darüber gelernt, wie es dazu kam, dass es uns gibt?"

"Das nicht, Angel, aber beruhige dich mal. Ganz so ist es ja auch nicht", wollte Ayame sie beschwichtigen.

"Aber denk doch mal nach. Das hier ist echt wichtig, im Bezug auf Mi. Diese Frau und die Herkunft der Tracker. Eine Persönlichkeit, die über das alles drüber steht. Wir müssen unbedingt auf dieser Weise denken und dranbleiben."

Rae war wirklich stolz auf Angel. Sie bemühte sich so sehr und für diesen Moment war sie sich sicher, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Dass sie es schaffen würden, Mi aus dieser Zwickmühle herauszubekommen. Ein Blick zu Ayame reichte, um festzustellen, dass auch sie zustimmend nickte, auch wenn sie etwas angespannt schien.

Doch wenn Ayame gewusst hätte, wie kritisch die Lage für sie noch werden würde, wäre das der Punkt gewesen, an dem sie aufgestanden und gegangen wäre.

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