Kapitel 23
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ZITTERND STRECKTE BELLAMY seinen Arm nach dem Würfel aus. Er ergriff ihn und zog ihn aus der Dunkelheit, die unter seinem Bett lauerte, heraus. Inzwischen musste er sich aufgrund der Lautstärke fast die Ohren zuhalten, um nicht taub zu werden. Die Quelle des Lärms befand sich nun direkt in seinen Händen und machte ihn wahnsinnig. Alleine diese Situation war unmöglich genug, dass er diesen unangenehmen, nervigen Ton kaum noch ertragen konnte. Das alles kam ihm vor, wie ein weit entfernter Traum, der seinen Alltag und seine Gewohnheiten umwarf.
Seine Finger strichen die glatte Oberfläche des Würfels entlang, als könnten sie ihn damit beruhigen. Plötzlich durchfuhr ein Schmerz seinen rechten Zeigefinger. Es überraschte und schockierte ihn so sehr, dass er den ihm wichtigen Gegenstand einfach fallen ließ - etwas, was er normalerweise nie tun würde. In diesem Moment lenkte ihn allerdings sein pulsierender Finger ab. Während sein Handgelenk ihn langsam zu seinem Gesicht drehte, fing seine Kuppe an zu brennen. Ein roter Punkt bildete sich und wurde gleichmäßig größer, bis der Tropfen schließlich groß genug geworden war um abzuperlen und mit einem schmatzenden Geräusch auf den Würfel traf, der keinen Mucks mehr von sich gab.
Erst im Nachhinein fiel ihm nun auf, dass er tatsächlich just in dem Moment aufgehört hatte zu piepsen, in welchem etwas in seinen Zeigefinger gestochen hatte. Bellamy wurde ein wenig schwindlig, als er das Blut sah und zwang sich dazu, den Blick wieder davon zu lösen. Er sah stattdessen zum Boden, wo sein Würfel aufgekommen war.
Wie in Trance beugte er sich nach unten, ignorierte seinen blutenden Finger und griff mit der anderen Hand nach dem Gegenstand. Er richtete sich wieder auf und betrachtete das Ding verwundert. An der Kante konnte er sich nicht geschnitten haben, da er schließlich über die ebene, weiche Fläche gestrichen hatte und sich der Stich zudem wie der einer Nadel angefühlt hatte. Er drehte den Würfel einmal um, sodass er eine andere Seite zu sehen bekam. Augenblicklich erstarrte er.
Digitale Ziffern leuchteten aus dieser der vier matten, dunklen Seiten heraus.
Die beiden Tracer wussten tatsächlich nicht, wie sie reagieren sollten. Ayame war einfach in ihre geheime, inzwischen sogar sehr intim gewordene Auseinandersetzung hineingeplatzt und hatte sie gänzlich aus dem Kontext gerissen. Überhaupt durfte man nicht vergessen, dass sie im Normalfall eine sehr schüchterne, zurückhaltende Person war, die üblicherweise niemandem zu nahe kommen wollte. Warum also sollte sie sich in solch einer Diskussion einmischen und eine derartige Aussage von sich geben?
"Wie?", fragte Rae kopfschüttelnd und mit zusammengezogenen Augenbrauen. Die Verwirrung war in ihrem Gesicht deutlich abzulesen und plagte sie wohl um einiges mehr als Angel. Ayame, allerdings, sah keinem der beiden in die Augen und antwortete auch nicht, sondern tapste stumm weiter in den Raum hinein. Verwundert beobachtete Rae die näher kommende Brillenträgerin, die seltsam ausdruckslos blickte und noch dazu unberechenbar schien.
"Was ist? Was denn?", machte sie Ayame nun unsanft an. Sie war eindeutig noch immer genug gereizt aufgrund des Streits mit Angel, um mit anderen so unsensibel umzugehen. Vermutlich ging es ihr auf die Nerven, wie merkwürdig man sich in ihrer Gegenwart in letzter Zeit verhielt. Rae vertrug Rätsel und mysteriöse Verhaltensformen ganz und gar nicht. Auch wenn Angel dem nicht gar so verschlossen gegenüber stand, war sie überaus misstrauisch, was Ayame betraf.
Die Dunkelhaarige zuckte beim Klang von Raes scharfer, entnervter Stimme zusammen und kam zum Stehen. Man sah, dass sie nun versuchte, eine sinnvolle Erklärung in Worte zu fassen, doch alleine irgendetwas zu sagen, schien sie unsicher zu machen.
"Es stimmt", brachte sie knapp heraus. "Ich kann helfen. Also Mina. Ich kann Mina helfen."
Als Angel diese Behauptung ein weiteres Mal aus ihrem Mund hörte und es auch klar und deutlich bei ihr ankam, war sie plötzlich um einiges gespannter auf Ayames Aussagen. Es traten Neugier und Hoffnung an die Stelle, wo sich vorher Skepsis ausgebreitet hatte und machte sie in gewisser Maßen schwach. Sie konnte nicht kontrollieren, wie ihre Augen plötzlich aufblitzten und sie reflexartig, aber dennoch unauffällig langsam näher an die beiden heran kam. Trotzdem merkte Ayame, dass sie die Aufmerksamkeit der Blondine gewonnen hatte.
"Du kannst Mi helfen? Behauptest du, es gibt einen Weg, sie zu retten?", fragte Angel und kam weiter auf sie zu. Es war viel zu utopisch. Viel zu schön, um wahr zu sein. Wieso sollte ausgerechnet Ayame wissen, wie man Mi helfen konnte?
"Warum sollten wir das glauben?", bohrte Angel noch weiter nach, die nicht so recht wusste, ob sie sich ihrer Hoffnung hingeben oder sich zurücknehmen sollte.
"Moment mal! Seid ihr jetzt beide Spinner geworden, so wie Mi? What? Ach, es reicht. Ich geh'. Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass Tracer dieses ganze Tracker-Zeugs können!"
Abermals wollte Rae kehrt machen und aus dem Saal verschwinden, doch diesmal waren es nicht die anderen, die sie aufhielten. Allein die folgenden Worte mussten etwas in ihrem Herzen erreichen, das sie zum Innehalten verleiten konnte.
"Ich habe Beweise", behauptete Ayame, als ob es das normalste der Welt wäre. Ihr monotoner Blick verwirrte so manche, doch speziell in dieser Situation überforderte er die beiden Zimmernachbarinnen restlos. Einen Moment lang wagte es keiner der beiden, etwas zu erwidern.
"Was für Beweise?", durchbrach Angel schließlich die Stille. Alle Konzentration lag auf Ayame Satos Erscheinen und wollte jede ihrer Bemerkungen aufsaugen wie einen Schwamm. Den ungeschickten, zittrigen Handgriffen zufolge, die sie ausführte, um ihren PC aus ihrer Tasche zu fischen, war ihr die Aufmerksamkeit nicht gerade angenehm. Trotzdem merkte man, dass sie in ihrem Element war und sich sehr gut auszukennen schien. Schließlich ging sie auf den nächst gelegenen Tisch zu und stellte das Gerät dort ab. Angel und Rae folgten ihr mit verschränkten Armen und blickten in den Bildschirm hinein, als Ayame ein wenig zu Seite rückte, sodass die beiden etwas erkennen konnten.
"Ihr erinnert euch bestimmt noch an Minas zweite PK-Übung, oder? Millstone hat ihr damals mitgeteilt, dass bei der Auswertung von ihrer durchschnittlichen Physischen Leistung der Challenge, Fehler unterlaufen sind und die Prozentangaben, die am Cubement angezeigt wurden nicht richtig gewesen wären."
Angel konnte sich an die verblüfften Blicke der Tracer noch genau erinnern. Nachdem alle die Challenge beendet hatten und zurück in den Zetaroom gekommen waren, hatten sich viele der Tracer seltsam auffällig um das würfelförmige Hologramm versammelt und es angegafft. Angel war an diesem Tag mal wieder eine der Langsameren gewesen, was das Abschließen der Challenge betraf. Als sie aus dem Anteroom herausgekommen war, konnte sie in einer Ecke zwar Rae ausmachen, doch Mi war scheinbar nicht mehr da gewesen. Aus Prinzip war sie einfach auf die Tracertraube zugelaufen und hatte ihren Kopf gereckt, sodass sie einen Blick auf die Leistungsauswertungen der einzelnen Zweitsemestler erhaschen konnte. Offensichtlich hatte es eine Besonderheit in einer der Angaben gegeben, denn sonst wären nicht alle so verwundert gewesen.
Sie konnte sich noch genau erinnern, wie ihr Blick über die Tabelle gewandert war und sie einige Prozente begutachtet und interpretiert hatte. Dabei dachte sie an die normalen Werte, die den zugehörigen Kriterien entsprachen. Erstsemestler wiesen Werte beginnend bei null Prozent auf, während Achtsemestler über 90 Prozent erzielten. Am Ende des ersten Semesters hatte jeder Tracer mindestens 11.25 Prozent erreicht, während ein Zweitsemestler - so wie sie und die anderen - am Ende, welches sogar nahte, mindestens auf den Wert 22.5 kam.
Damals war ihr zuerst Cindy Millers Wert aufgefallen. Sie war eher gut in PK, etwa so gut wie Rae. Rund 24 Prozent hatte sie an diesem Tag geschafft, was für ihre Verhältnisse normal war. Rae war um einige Zehntelstellen hinter ihr gewesen und Angel hatte im Vergleich zu ihnen nur 21.46 Prozent erreicht. Die meisten waren auf ihrem Niveau und das entsprach auch dem Mittelwert der Zweitsemestler. Besonders herausragend war sie nicht, so wie James mit seinen stolzen 28.3 Prozent, aber sie war durchschnittlich und das reichte für einen Tracer vollkommen aus.
Doch die Augen der neugierigen Tracer waren auf eine ganz bestimmte Zeile fokussiert. Angel, noch immer irritiert, war den Blicken gefolgt und hatte schließlich entdeckt, was sie so faszinierte.
Sechsunddreißig Komma sechsundsechzig Prozent. Das war Mis Punkteanzahl. Sie übertraf die Grenzen der Möglichkeiten. Die Kinnlade war Angel damals hinunter geklappt. Es war nicht möglich gewesen. Nicht irdisch. Einfach undenkbar. Doch bevor verschiedenste Fragen in ihrem Kopf hervorsprudeln hätten können, war Millstone in den Zetaroom getreten und hatte auf der Stelle klar gestellt, dass das System fehlerhaft und die Werte nicht richtig waren. Obwohl sein Zahnpastalächeln nicht zu sehen gewesen war und er verdächtig düster dreinblickte, schüttelte Angel daraufhin einfach nur gelassen den Kopf. Die Menge hatte sich murmelnd aufgelöst und auch Angel hatte kehrt gemacht. Kurz waren ihre Augenbrauen noch irritiert zusammengezogen gewesen, doch bereits wenige Augenblicke später hatte sie sich wieder ganz entspannt und ausgeglichen gefühlt. Sie hatte sich nicht mehr um diese angeblich fehlerhafte Zeile über Mis Leistung gekümmert. Fast zombiehaft hatte sie ihr gewöhnliches Tracer-Dasein und ihren langweiligen Tracer-Alltag weitergeführt.
Erst jetzt, wo Ayame es angesprochen hatte, fiel ihr auf, wie fremd und falsch ihr Verhalten gewesen war. Allgemein fand sie ihr früheres Ich inzwischen unheimlich. Diese Rückblende erschauderte sie dementsprechend und ließ auch ihren Körper leicht zusammenzucken.
"Kann sein", grummelte Rae. Ihr war es tatsächlich noch immer genauso gleich wie es allen anderen gewesen war. Entsetzt starrte sie Rae an, die allerdings auf Ayames PC blickte. Zwar sah sie gelangweilt aus, doch immerhin versuchte sie zuzuhören und mitzukommen. Angel bejahte Ayames Frage schließlich. Zwar tat sie es knapp, allerdings auch überzeugt.
"Die Sache ist die, dass fehlerhafte Daten normalerweise zuerst überprüft werden und dann wiederum nur in eine Art - nennen wir es 'Papierkorb' für euer Verständnis - gegeben werden, in welchem sie dann mindestens sechs Monate verweilen. Ich-ich habe bereits seit einiger Zeit Zugriff darauf und deswegen konnte ich etwas Interessantes feststellen; Minas Ergebnisse wurden nicht hinzugefügt."
Während Ayame sprach, bewegten sich ihre Lippen kaum, allerdings flogen ihre Finger umso schneller über die Tasten. Sie starrte die Programme an, die sich öffneten und schlossen, scrollte wie wild. Ziffern und kryptische Zeichen erschienen und verschwanden im nächsten Moment wieder. Angels Kopf fing - wahrscheinlich ähnlich wie der Prozessor - an zu rauchen. Sie hatte schon so eine Ahnung was das bedeuten konnte.
"Selbstverständlich hätte es sein können, dass dieses Überprüfungsprozedere länger gedauert hatte und es möglicherweise komplizierter als der andere 'Datenmüll', der gewöhnlich anfällt, gewesen war. Aber ich habe trotzdem nach Minas Daten gesucht, die plötzlich verschwunden waren. Gestern Nacht habe ich sie gefunden. In einem hinterlistigen Versteck, das im Server der IUU nahezu unsichtbar ist. Und findet man es trotzdem, gibt es beinahe undurchdringliche Firewalls, die man zuerst überwinden müsste, um hineingelangen zu können.
Ich muss zugeben, ich war kurz überfordert gewesen. Aber dann konnte ich doch noch ein Schlupfloch entdecken und war für einen kurzen Augenblick drinnen. Ganz kurz. Außer Minas PK-Werte wären dort allerhand geheime Informationen zu finden gewesen. Top-Secret. Ich habe allerdings aus taktischen Gründen zuerst eine Kopie von Minas Daten erstellt, bevor ich mich den anderen Dingen zuwenden wollte. Aber dann war es zu spät gewesen. Ich war rausgeworfen worden und hatte es nicht mehr geschafft, hineinzugelangen. Mit dieser Ausrüstung werde ich es auch nie mehr schaffen können. Es hat nur einmalig funktioniert."
Angel lauschte jedem ihrer Worte und fand sie spannender als so manche Mathematik Vorlesung. Ihr Mund war leicht geöffnet und ihre Augen fokussierten den Bildschirm. Sie konnte gar nicht abwarten, was Ayame noch erzählen würde. Wartete sehnsüchtig darauf, dass sie endlich das Fenster öffnete, das alles endgültig beweisen würde. Angel wusste, wie sie die Richtigkeit der Daten überprüfen konnte.
Rae hingegen gab sich uninteressiert. Ihre Arme waren noch immer trotzig verschränkt und ihrem Blick zu urteilen hatte sie kaum ein Wort von dem verstanden, das Ayame erklärt hatte. Angel konnte nicht sagen, ob sie es vielleicht verstehen würde, wenn sie die nötige Willenskraft hätte oder ihr Vorwissen hierzu einfach nicht ausreichte.
"Hier ist es", bestätigte Ayame endlich, worauf sich Angel einen Ruck gab. Sie ließ sich auf den Stuhl neben ihr nieder und schob das Gerät konsequent zu sich. Die Schwarzhaarige war etwas verunsichert, was ihr Eigentum anging und wusste nicht, ob sie es wieder zurücknehmen sollte. Immerhin war es nicht irgendetwas, das Angel hier anstarrte. Schließlich ließ sie es sein. Sie rieb nervös ihre Hände aufeinander und beobachtete die Blondine, die die Daten überprüfte. Ihr Mund bewegte sich leicht, während sie die Computersprache konzentriert anstarrte und entzifferte.
"Es stimmt. Sie sind echt", bestätigte sie nun. "Es stimmt wirklich", wiederholte sie und wandte sich dabei aktiv Rae zu. Diese sah ein wenig überfordert aus und gab sich umso verschlossener. Als würde sie eine Art Schutzmaßnahme ergreifen. Sie erwiderte nichts, da sie wahrscheinlich tatsächlich kaum etwas verstanden hatte.
Endlich war sie da, diese Chance. Das unscheinbare Mädchen war brillianter als gedacht. Egal was Rae jetzt zu sagen hatte; sie musste sich mit Ayame zusammentun. Sie war nicht mehr von der launischen Zimmernachbarin abhängig und konnte gleichzeitig den verdrängten Shell aus dieser heiklen Sache lassen. Sie brauchte sie alle nicht mehr. Sollten sie denken und machen, was sie wollten.
"Ihr wisst, was das zu bedeuten hat."
Ayame sah zwischen den beiden Mädchen hin und her, unsicher, zu wem sie mehr sprechen sollte.
"Nein." - "Ja!", kam es von Angel, die Rae krampfhaft übertönen wollte. "Also wie war das jetzt? Du kannst tatsächlich etwas für Mi tun?"
Während sich Rae genervt seufzend wegdrehte und von den anderen ignoriert wurde, begannen sich Angel und Ayame bereits innerlich zusammenzutun.
"Nun ja, so direkt kann ich es nicht, aber ich habe schon Ideen, was für Möglichkeiten es gäben könnte."
"Was willst du dafür?" Ayame zögerte, bevor sie antwortete.
"Eigentlich nichts. Nur muss ich von dir wissen, was du über Mi weißt, sonst kann ich nicht viel machen. Also Informationen. Ich brauche Informationen."
Obwohl Angels Elan nun wieder ein wenig abgenommen hatte, war sie noch immer überzeugt davon, dass Ayame Mi tatsächlich helfen konnte. Zwar würde sie ihr so einige Geheimnisse offenbaren müssen, aber wenn sie ein Team werden wollten, sah sich Angel verpflichtet, das in Kauf zu nehmen.
"Perfekt. Hast du heute Nachmittag schon etwas vor?"
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