Kapitel 22

WENN ANGEL ETWAS aus dem gestrigen Tag gelernt hatte, dann, dass ihr definitiv niemals jemand glauben würde, dass sich Mi unsichtbar machen konnte. Nur, wer es selbst gesehen hatte, wäre davon überzeugt, allerdings war sich Angel nicht mal hierbei sicher. Trotzdem dachte sie bei diesem Gedanken speziell an Rae.

Rae Roots war keine Person, die eine plötzliche Veränderung ihres gesamten Weltbilds als angenehm empfinden würde. Nicht, dass es für andere leicht wäre, etwas Derartiges hinzunehmen, doch bei ihr wären die Auswirkungen nahezu katastrophal. Rae Roots würde es einfach nicht akzeptieren. Auch, wenn die Wahrheit vor ihr stand, würde sie den Kopf schütteln und sie leugnen. Das Problem war nun, dass es niemanden außer ihr gab, dessdn Augen dasselbe gesehen hatten, sie ihre. Natürlich könnte Angel wieder das gewisse Risiko eingehen und in den Krankentrakt einbrechen, doch nachdem sie gestern so abgewiesen wurde, würde es wohl jetzt noch viel schwieriger sein, hineinzugelangen, ohne bemerkt zu werden. Außerdem bräuchte sie dabei einen Partner und den hatte sie nicht. Es gab sonst niemanden, der ihr so sehr vertraute und mit ihr kommen würde. Sie hatte ihre Chancen vertan.

Dass sie wegen Shell gestern Abend so niedergeschlagen und dermaßen am Boden zerstört gewesen war, wollte sie einfach nur noch verdrängen. Sie schämte sich fast dafür, sich so in die Sache mit ihm hineingesteigert zu haben. Doch war es überhaupt ihre Schuld? Musste sie sich im Ernst entschuldigen? Er war doch derjenige gewesen, der so unverschämt gehandelt hatte und sie weggeschickt hatte. Er sollte sich bei ihr entschuldigen und nicht umgekehrt. Zumindest wollte sich Angel das alles einreden.

Sie schüttelte ihren Kopf, als könne sie so ihre lästige, unkontrollierbare Gefühlswelt daraus schleudern. Sie musste Shell aus ihren Gedanken verbannen und den Weg fokussieren, der vor ihr lag. Es gab im Moment wichtigere Dinge zu klären, unabhängig davon, was ihr tief in ihrem Inneren wirklich am Herzen lag. Für Mi. Sie tat das alles für Mi.

Anmutig hob sie ihren Kopf und fing mit ihrem Blick einen Ombré-Schopf auf. Auch, wenn sie bisher beim Gedanken es bei ihr zu versuchen, eher pessimistisch gewesen war, würde sie sich nun um Rae bemühen. Leicht würde es nicht werden und es war auch nicht sicher, ob es überhaupt einen Sinn hatte, doch ein kleiner Funken Hoffnung war da. Dieser genügte ihr seit gestern auch vollkommen. Sie hatte sich nach der PK-Übung hinaus beeilt und war umgänglich in den Trakt eingebogen, in dem die Vorlesungssäle lagen. Da hier alle Zweitsemestler vorbei mussten, war es Rae gar nicht möglich, ihr aus dem Weg zu gehen. Noch dazu kam, dass sie nicht mit Angel rechnen würde und somit nicht auf die Konfrontation vorbereitet war. In wenigen Sekunden würde sie schneller als sie denken konnte in einen leeren Saal geführt werden und sich Angel stellen müssen.

Selbstsicher ging Angel ihr nun entgegen und suchte entschlossen ihren Blick. Als Raes Augen endlich zu ihren gefunden hatten, konnte sie Überwältigung aus ihnen ablesen, doch alle weiteren negativen Aspekte in ihrer Miene blendete sie einfach aus und blieb direkt vor ihr stehen. Noch bevor Rae den Mund öffnen konnte, hatte die Blondine schon fertiggesprochen.

"Hi. Darf ich mir kurz Rae ausborgen? Es dauert nur eine Sekunde. Ich verspreche es", kam sie sowohl Rae als auch deren Freunden zuvor. Sie sah nicht mal allen ins Gesicht, sondern streckte ihre Hand nach Raes Handgelenk und zog sie hinter sich her, in Richtung eines freien Vorlesungssaals. Raes Horde stand etwas desorientiert da, doch das ignorierte sie, genau wie die Tracerin hinter ihr, die sie ordentlich abbremste.

"Angel-"

Sie klang so, als ob sie zwar gleich ihrer schlechten Laune freien Lauf lassen würde, allerdings noch nicht so recht mit der Situation umzugehen wusste. Konsequent machte Angel weiter und unterdrückte das Gefühl von schlechtem Gewissen. Sie war schließlich nicht der Tracer, der gerne Leute zu etwas zwang. Doch heute musste sie sich einfach selbst vergessen und überwinden.

In einer ungeduldigen, hektischen Bewegung stieß sie die Tür zu diesem Saal auf und zog sich und Rae hinein. Fasst wirkte es utopisch, wie leer und abgedunkelt er war. Für Angel war es sehr ungewöhnlich, einen Übungssaal in diesem unbelebten Zustand zu sehen. Für einen Moment blieb sie mit dem Rücken zur Tür und somit zu Rae stehen und betrachtete stumm die einzelnen Plätze.

"Angel, was soll das jetzt? Ach, weißt du was, ich gehe wieder."

Rasch kam wieder Bewegung in Angels Körper, als sie diese Worte aufnahm und sich reflexartig umdrehte. Sie sah noch, wie Rae eine entnervte und ignorante Geste mit ihren Schultern vollzog, bevor sie tatsächlich konsequent dabei war, umzukehren und wieder hinauszulaufen, allerdings ließ das ein fester Griff um ihre Handgelenke nicht zu. Schnaubend kam sie wieder zum Stehen und blickte Angel mit ihren vor Wut aufblitzenden Augen entgegen. Angel musste ihre Zähne zusammenbeißen um diesem Blick standhalten zu können. Scharf brachte sie das Thema, worüber sie mit ihr reden wollte auf den Punkt.

"Es geht um Mi."

Obwohl Rae verkrampft versuchte die Augen zu verdrehen und wieder gerne diesen Saal verlassen würde, sah man ihr an, dass sie das Thema 'Mi' nicht kalt ließ. Es sollte so wirken, als ob es sie nicht interessieren würde, doch Angel wusste mehr als die anderen. Die ehemaligen Zimmernachbarinnen der Tracerin mit den ungewöhnlichen, blauen Haarsträhnen waren eben scheinbar die einzigen, die so viel über sie wussten.

"Ist das dein Ernst, Angel? War es dir nicht genug, mich einfach so in Gefahr zu bringen? Das hat doch alles keinen Sinn!", warf Rae harsch ein.

Angel schüttelte bei diesen Worten einfach nur ihr Haupt und setzte einen hoffnungsvollen Gesichtsausdruck auf.

"Nein, so ist das nicht. Bitte hör' mir einfach zu, es gibt Dinge, die auch du gesehen hast und-"

"Warum zur Hölle bin ich überhaupt ihr? Ich will nichts von dir, mach' was du willst, aber lass' mich da verdammt noch mal aus dem Spiel!"

Tatsächlich würde ein normaler Tracer Rae nun in Ruhe lassen und nicht mehr ansprechen, da sie nun wirklich zornig zu sein schien. Angel hatte vor jeder Person einen gewissen Respekt und wollte fasst nachgeben, als sich das widerspenstige Mädchen vor ihr wieder abwenden wollte. Doch schließlich drängte sich die Wichtigkeit der Situation in ihrem Kopf wieder vor alle Hemmungen, die sie in ihrer Persönlichkeit oft einfach verspürte. Sie runzelte ihre Stirn und zog Rae wieder zurück zu sich, worauf diese sie zuerst verblüfft ansah, bevor sie wieder gefasst war. Angel blieb nun wieder konsequent und sprach die Wahrheit so aus, wie sie auch tatsächlich war. Dabei blickte sie tief in ihre Augen, in der Hoffnung, ihr Inneres berühren und bewegen zu können.

"Du weißt, dass ein Tracer nicht in der Lage sein können sollte, sich unsichtbar zu machen. Verdränge das nicht", sprach sie gerade raus. Jede ihrer Aussagen war mehr als nur wahr und jede davon war Rae mehr als nur unangenehm. Angel nahm das wahr und umschloss ihre Handgelenke nur noch fester.

"Mi könnte mit allem Recht haben. Mit allem, hörst du? Dass alles falsch ist, was uns bisher eingetrichtert wurde."

Der Kampf im Inneren der rebellischen Rae musste furchterregend sein, doch Empathie konnte Angel im Moment einfach nicht gebrauchen. Auch, wenn das Mädchen vor ihr auf die Wut, die sie auf ihre Person gelenkt hatte vergessen hatte, akzeptierte Rae Aussagen dieser Art keineswegs. Sie weigerte sich einfach, sich diese Worte zu Herzen zu nehmen. Sie schüttelte einfach nur ungläubig den Kopf.

"Das ist verrückt. Das gibt es einfach nicht. Ich versteh nicht, warum du diese Dinge sagst!"

Beim letzten Satz fand Rae ihre Überzeugung wieder und ließ ihre Stimme wieder lauter werden. Sie riss sich von Angels Griff los, der sie nun äußerst zu reizen schien und sah ihr wieder mit glitzernden Augen entgegen.

"Für so etwas gibt es immer Erklärungen. Gerade du bist hier doch der Freak mit den Naturwissenschaften! Was ist los Angel? Stell' dich doch nicht so dumm!", provozierte Rae. Auch wenn es nur einfache, niveaulose Beleidigungen waren, die sie vernahm, war sie im ersten Moment fassungslos und schließlich sogar verunsichert. Einige Sekunden war es in diesem leeren Saal totenstill. Nur die zwei Augenpaare schrien sich förmlich an. Kurz schüttelte sich Angel, bevor sie ihren Mut zusammengenommen hatte und in ihrer Rage die nächsten Worte ausspuckte.

"Freak?", fragte sie gespielt belustigt. In Wirklichkeit war sie außer sich vor Zorn und konnte sich gar nicht mehr halten. "Du nennst mich einen Freak und dumm auch noch mit dazu? Schau' dich doch mal an!" Ihr war alles egal in diesem Moment. Mi, die Tracker, die Lügen, einfach alles.

"Du kannst ja nicht mal eins plus eins zusammenzählen, du oberflächliche, hohle Schlampe!", offenbarte Angel ihre Gedanken, die sie lange Zeit verdrängt hatte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie das jemals sagen würde. Doch sie hatte es getan. Sie schlug sich nicht mal die Hände vor den Mund, lief nicht davon, oder entschuldigte sich - sie blickte Rae herausfordernd und zutiefst grimmig an.

Ihr Pony mochte ihre perfekt gemachten Augenbrauen zwar verdecken, doch es war offensichtlich, wie geschockt sie nun blickte. Der rot bemalte Mund öffnete sich wie in Zeitlupe, ihr Atem stoppte und die makellosen Nägel krallten sich in ihre Seiten. Man würde nun glauben, Rae würde sie jetzt runtermachen bis zum geht nicht mehr, was ihrem temperamentvollen Charakter auch entsprechen würde, doch sie sagte tatsächlich gar nichts. Ihr Mund schloss sich wieder und ihre Funken sprühenden Augen behielten ihren Ärger für sich. Leicht deutete sie eine schüttelnde Kopfbewegung an, bevor sie sich einfach wegdrehte, auf einen der Tische zuging und sich darauf abstützte. Fast verwirrt blieb die Blondine noch immer an derselben Stelle stehen und beobachtete mit verschränkten Armen erwartungsvoll ihr Gegenüber.

Als sie sich schließlich wieder ruhig und langsam zu ihr drehte, allerdings bei diesem Tisch stehen blieb, erschrak sie bei ihrem Ausdruck. Hass. Sie sah Hass in ihren Augen auflodern.

"Weißt du, mit dieser Aktion hier hast du dich selbst nur noch mehr ins Lächerliche gezogen. Niemand glaubt dir, wenn du sagst, dass Zauberer oder was auch immer existieren. Du wirst nur ausgelacht, wenn du diese Märchen herumerzählst. Denn sie sind ausgedacht. Genau das hat auch Mi gemacht." Mit einer Geste deutete sie in eine beliebige Richtung, sah sie jedoch noch immer so an, als sei sie Abschaum.

"Ja, es ist traurig, dass sie nicht alle Tassen im Schrank hatte, aber indem du ihren Spinnereien folgst, ehrst du sie nicht. Du verhöhnst sie damit nur noch mehr. Wir waren beide schockiert, als wir Mi in diesem Zustand gesehen haben. Du hast halluziniert und das weißt du auch. Versuch' dir nicht das Zeug einzureden, dass Mi behauptet hat, aber vor allem nerv' mich nicht damit. Lass es einfach bleiben."

Sie sprach mit ihr, als wäre sie nichts weiter als ein kleines Kind, dass eine blühende Fantasie hatte, die nicht zu stoppen war. Als wäre sie genauso wahnsinnig wie Mi. Aber das stimmte nicht. Sie hatte sich diese Dinge nicht eingebildet. Sie hatte genau gesehen, wie das alles passiert war, auch wenn sie schockiert gewesen war. Es stimmte einfach. Man musste ihr einfach glauben, doch das würde niemand. Sie war vollkommen alleine mit ihrem Wissen und hatte keinen, dem sie vertrauen konnte und der zu ihr hielt.

Enttäuscht und übermüdet wandte sie ihren Blick von Rae ab und ließ ihn auf den Boden gleiten. Auch der Ombré-Schopf mied nun ihre Augen und starrte stattdessen den Tisch an. Gerade war dieser eine Gedanke aufgetaucht, dieser eine deprimierende Gedanke. Dass sie einfach gezwungen war, aufzugeben. Dass Shell recht hatte, Rae Recht hatte und alle Lehrbücher recht hatten. Dass sie einfach aufgeben musste, weil sie keine andere Wahl hatte.

Während dieser gewisse Gedanke aufkeimte und sich hervordrängen wollte, stoppte er in seiner Entwicklung. Diese Wendung änderte alles. Drängte die Vorahnung wieder zurück.

Das leise Klacken der sich öffnenden Saaltüre war niemandem der beiden aufgefallen, weswegen die plötzliche Stimme wie aus dem Nichts zu kommen schien.

"Es stimmt. Mi hat mit allem recht. Ich kann es beweisen."

Zwei Köpfe drehten sich überrascht zur Tür und musterten die Person, die auf einmal aufgetaucht war. Beinahe schwarze Haare fielen locker über ihre Schultern, mit der einen Hand umklammerte sie ihre Laptoptasche und mit der anderen richtete sie nervös ihre Brille, die ihr rundes Gesicht zierte.

Ayame Sato sollte die Tracerin sein, die eine derartige, revolutionäre Aussage von sich gegeben hatte.

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