Kapitel 20
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STARRE, EISBLAUE ÄUGLEIN richteten sich auf die Wand. Obwohl sie leer war und der Putz bereits abbröckelte, konnte das Mädchen seinen Blick kaum davon abwenden. Locker baumelten seine Beinchen über der Bettkante und berührten mit den Zehenspitzen den Boden. Der Mund war leicht geöffnet, was seiner Miene einen betäubten Ausdruck verlieh. Im Kopf des Kindes waberte Nebel umher und verschleierte immer mehr Gedanken und Gefühle. Ließ es immer mehr vergessen und verdrängen.
Es saß mit dem Rücken zur Tür und bemerkte deswegen nicht, dass sich jemand in leisen Sohlen angeschlichen hatte. Eine etwas kleinere Gestalt hatte es geschafft, lautlos bis zur Türe zu kommen. Als das neugierige, aufmerksame Kind weiter in den Raum eintrat, konnte es die Braunhaarige schließlich aus dem Augenwinkel erkennen, doch diese reagierte trotzdem nicht. Antriebslosigkeit und der trübe, dichte Schleier über ihren Geist verhinderten, dass sie sich weiter auf das andere Kind konzentrieren konnte. Eine Konfrontation mit ihm war in diesem Zustand vor allem deswegen schwierig, weil es einfach nicht verstand, warum das alles passierte und was es zu bedeuten hatte.
Selbstsicher machte das kleinere Mädchen mit dem dunkelblonden Schopf größere Schritte auf das Bett zu, stellte sich direkt vor das sich in Trance befindliche Kind und verschränkte seine kurzen, zarten Arme. Wie so oft, fragte es diese eine Frage. Diese Frage, die es nie verstehen würde, egal wie alt es war. Es war ihm einfach nicht bestimmt, die Antwort zu akzeptieren.
Das blauäugige Kind, das noch immer mit ausdruckslosem Gesichtsausdruck auf dem Bett saß, konnte nur vermuten, dass die Frage das andere Mädchen mehr quälte als es selbst. Doch die Vermutung steigerte sich jedes Mal auf das Neue, wenn es in die grauen, vor Sorgen aufblitzenden Augen sah. In den Knopfaugen lag das tiefe Verlangen nach Antworten. Der Wunsch nach Aufklärung.
Warum? Warum nur? Warum nur hatte es genau sie getroffen?
Es war nicht zu glauben, dass heute erst Sonntag war. Angel kam es so vor, als ob diese eine Woche schon Monate gedauert hätte und sie Mi bereits ein Leben lang kennen würde. Trotzdem konnte sie sich auch heute, dem einzigen von Übungen und Vorlesungen befreiten Tag, nicht ausschlafen, da sie in der Früh aufgewacht war und den Drang verspürt hatte, sich über Mis aktuellen Gesundheitsstand zu informieren. Sie wusste nicht, was sie sich erwartet hatte, denn es war im Prinzip klar gewesen, von den Trackern mehr oder weniger abgewiesen zu werden, da diese offensichtlich nicht viel über Mi preisgeben wollten. Inzwischen wunderte das Angel auch nicht mehr.
Als sie eben sozusagen abgeblitzt wurde, hatte sie allgemein den gewissen Mut verloren, die Tracker nach Mi zu fragen. Auf einmal war die Sache viel gefährlicher geworden. Als wäre es plötzlich ein absolutes Tabuthema. Nachdem die Frustration sie bereits in aller Früh heimgesucht hatte, wurde sie auch an alle Überlegungen erinnert, die sie gestern Nacht gequält hatten. Dadurch war sie gänzlich wach geworden und hatte sich dazu entschlossen, in die Bibliothek zu gehen. Sie konnte die ganzen Lügen einfach nicht ertragen und glaubte, es würde etwas bringen, wenn sie die Bibliothek nach Wahrheiten durchkämmen würde. Zwar war es so dazu gekommen, dass wieder Ziele vor ihren Augen entstanden waren, nämlich eben das Richtige aus all dem Falschen herauszufiltern und Mi zu heilen, doch leider war sie am Ende noch viel unzufriedener mit ihrer Lage geworden. Sie hatte weniger als einen Bruchteil der riesigen Sammlung an Büchern studiert und war danach alleine deswegen komplett ausgelaugt gewesen. Obwohl sie sich am Vormittag bestimmt durch TS-Stoff sämtlicher Semester durchgefressen hatte, war sie noch immer ratlos. Sie fühlte sich einfach hilflos und hasste es plötzlich, dass sie mit ihrem Vorhaben so schrecklich alleine war.
Im Endeffekt war sie zum Entschluss gekommen, dass sie jemanden brauchte, der sie unterstützte. Sie selbst würde einfach nicht weit kommen, wenn es vor allem darum ging, Mi zu helfen. Zuerst hatte sie gedacht, es wäre eine gute Idee, Rae nach Hilfe zu fragen, doch diese ging ihr seit gestern konsequent aus dem Weg. Es hatte sie gewundert, dass sie dermaßen empfindlich reagierte, doch andererseits konnte sie es wieder verstehen, wenn sie an ihre für sie typischen Charakterzüge dachte. Rae wollte ihre hübsche, perfekte Welt aufrecht erhalten, auch wenn sie auf Lügen aufbaute. Wenn sich, so wie gestern, die Widersprüche häuften, sah sie einfach krampfhaft darüber hinweg und verdrängte sie mit knirschenden Zähnen. Schlecht war unter diesen Umständen, dass das Verhältnis zwischen ihnen sowieso allgemein brüchig war und sich die Risse gestern Nacht um ein Vielfaches ausgeweitet hatten. Angel war einfach zu viele Risiken eingegangen, da sie sich in die Sache mit Mi besonders hineinsteigerte. Dabei hatte sie vergessen, wie stark sie damit Raes Vertrauen verletzte. Dass diese die Blondine nun ignorierte und sich wieder mehr mit ihren eigentlichen Freunden beschäftigte, war nun der Preis dafür, den sie zahlen musste. Als Partnerin konnte sie Rae folglich so gut wie vergessen.
Es war eigentlich klar, an wen sie sich ansonsten noch wenden würde. Shell Lauren war schon die ganze Zeit über einer ihrer engsten Vertrauten gewesen, bis er schließlich sogar zu ihrem bestem Freund geworden war. Der Asiate war Perfektionist, ehrlich, direkt und obendrein auch noch ein talentierter Informatiker. Er hatte somit sehr viele Gemeinsamkeiten mit Angel. Seit Mi überraschend aufgetaucht war, hatte sie sich mit ihm nicht mehr getroffen und auch gestern, als sie offiziell genug Zeit gehabt hätte und er sie gefragt hatte, konnte sie nicht anders, als abzulehnen, da sie mit Rae den Plan hatte ausarbeiten müssen. Doch er war die ganze Zeit über geduldig geblieben und hatte sich heute sogar merkbar gefreut, als sie ihn spontan gefragt hatte, ob sie sich mit ihm am Nachmittag treffen könnte.
Nun saßen sie und ein paar andere in dem allzu bekannten Café, das ihnen oft als Lernort diente. Sie überlegte, wann der geeignete Zeitpunkt wäre, Shell einzuweihen, da im Moment noch andere, gemeinsame Freunde bei ihnen saßen. Ungeduldig schlürfte sie ihren schwarzen Tee aus, lachte gekünstelt mit, wenn jemand etwas Witziges zu erzählen hatte und wippte jedes Mal noch stärker und ungeduldiger mit dem Fuß, wenn ein Tracer die Runde verließ. Noch hatte Shell nichts von ihrer Nervosität gemerkt, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich besser auf Angel konzentrieren würde und ihr Unwohlsein möglicherweise bemerken würde. Ihr war klar, dass sie ihn in letzter Zeit vernachlässigt hatte und, dass sie ihn nun obendrein auch noch für ihre Zwecke ausnutzen wollte, was auch der Grund war, warum sie ein schlechte Gewissen quälte. Sie wollte dieses für sie im Moment äußert wichtige Gespräch einfach so schnell wie möglich hinter sich bringen. Erst dann würde es ihr besser gehen.
Als schließlich auch der Letzte ihres Freundeskreises das Café verlassen hatte und Angel bereits den Mund geöffnet hatte, um auf das ernste Gespräch anzusetzen, kam ihr Shell plötzlich zuvor.
"Wollen wir endlich?"
Ihr Gegenüber fing mit einem Mal an, über beide Ohren zu grinsen. Verblüfft von seinen Worten schloss sie ihren Mund wieder. Sie versuchte seine Worte in ihrem Kopf zu ordnen und den Sinn dahinter zu verstehen. War das etwa Vorfreude, die sich in Shells Gesicht abzeichnete? Oder war Angel nun ganz verwirrt? Sie wusste nicht so recht, was sie antworten sollte, weswegen sie nicht anders konnte, als ihm einen Blick voller Skepsis zu schenken. Davon ließ er sich jedoch nicht beirren.
"Opal, Angel", deutete Shell nun an, noch immer übertrieben strahlend.
Dieses eine Wort klärte nun die seltsame Situation auf, die Angel zu erst hatte nicht verstehen wollen. Sofort begann sie seine Freunde, oder besser gesagt seinen Triumph, zu verstehen und obwohl sie sich jetzt ebenfalls für ihn freuen sollte, drängelte sich das schlechte Gewissen in ihr umso mehr vor.
Opal. Wie hatte sie das nur vergessen können? In Gedanken hatte sie sich bereits mehrmals die Hand vors Gesicht geschlagen und doch musste sie ihren Mund nach oben verziehen, um ihre negative Gefühlslage zu verbergen. Denn sie wollte ihm diesen für ihn wichtigen Moment keinesfalls nehmen.
Die Sache war die, dass Shell, als talentierter und überzeugter Informatiker, vor einem Monat ein herausforderndes Projekt begonnen hatte; einen Entwurf für eine Arena. Eine Map. Trotz der vielen Hürden, die ihm dabei im Weg standen, schaffte er es relativ schnell, Fortschritte zu machen. Angel hatte vor allem in den ersten Monaten wichtige Beiträge dazu geleistet, da auch sie als gute Mathematikerin einiges drauf hatte. Doch das Wichtigste, was sie für dieses Projekt getan hatte, was die Findung des Namens.
Im allerersten Semester, als ihr Leben erst begonnen hatte, war die überforderte, junge Angel gerade auf den Weg in ihre erste Physikvorlesung gewesen, als sie einen Stein mit seltsamen, auffällig blitzenden Elementen auf dem Fußboden entdeckt hatte. Ohne weiter zu überlegen, hatte sie ihn aufgehoben und war in die Vorlesung gegangen. Sie waren in Zweiergruppen eingeteilt worden und wie der Zufall eben wollte, wurde Shell mit ihr eingeteilt. Angel hatte die eigentliche Aufgabe ignoriert und stattdessen den Stein hervorgeholt. Opal, hatte Shell gesagt und das Gestein genauer analysiert. Während sie über ein kleines, glitzerndes Teil, dass dieses Mineral beinhaltete, diskutierten, hatten sie sich übereinander ausgetauscht und waren sich auf einer freundschaftlichen Ebene immer näher gekommen. Sie hatten herausgefunden, dass sie sich beide für sämtliche Naturwissenschaften interessierten und hatten noch viel an dem Opal geforscht.
Spektakulär war die Geschichte nicht, doch als Angel diesen Namensvorschlag für sein Projekt hervorgebracht hatte, war Shell davon begeistert gewesen, da es dem Ganzen etwas Eigenes, Persönliches verlieh.
"Es ist eigentlich schon gestern fertig gewesen, aber ich wollte dich unbedingt überraschen. Da du gestern nicht konntest, hab' ich eben gewartet", erklärte der Tracer mit koreanischen Zügen schulterzuckend. Man sah ihm an, dass er seine Erheiterung nicht so leicht aufgeben würde. Trotzdem wusste Angel, was an ihrer Stelle nun angebracht war. Nebenbei musste sie unbedingt ihr Innerstes beruhigen und versuchen, mit Shell mitzufühlen. So zu tun, als ob, war das absolut Mindeste, was sie machen musste.
"Shell, es tut mir leid, dass ich dir in letzter Zeit nicht so viel geholfen habe bei dieser Map. Ich hätte da sein sollen."
"Ach, das ist doch nicht so schlimm. Lass uns besser endlich eine Arena suchen!"
Tatsächlich winkte er ab, als wäre das rein gar nichts. Einerseits fiel ihr ein Stein vom Herzen, andererseits verkrampfte sie sich umso mehr. Wenn sie ihn noch wirklich enttäuschen würde, wie würde er dann reagieren? Würde er es auch auf die leichte Schulter nehmen? Angel glaubte nicht daran. Es wäre bestimmt unverzeihlich für ihn. Sie musste wirklich besser auf ihr Umfeld achten, dazu fühlte sie sich verpflichtet.
Da es Sonntag Nachmittag war, spielten unzählige Tracer in den Arenen Freizeit-Maps, weswegen ziemlich viele besetzt waren und sie den ganzen Gang absuchen mussten. Am Ende wurde überraschenderweise die Arena 7 frei, die sie auch sofort in Anspruch nahmen. Shell eilte in schnellen Schritten in den Zetaroom hinein und stellte sich direkt vor das von den vorigen Benutzern freundlicherweise angeschaltet gelassene Cubement. Angel sicherte noch die Tür, bevor sie langsam über das Gitter lief und sich zu Shell gesellte. Er war gerade dabei, seinen PC mit dem würfelförmigen Hologramm zu verbinden und blickte dabei konzentriert von einem Gerät zum anderen. Auch wenn Angel von dem Zeug mit den Arenen und allem, was sie in PK taten, nicht so begeistert war, fand sie seine Arbeit höchst interessant. Immerhin ging das hier in einen ganz anderen, äußerst computertechnischen Bereich über.
"Das Prinzip der Challenge haben wir ja gemeinsam entworfen, aber ich glaube, du hast die fertige Map noch nie von außen gesehen, oder? Kann das sein?", fragte Shell in einem gespannten, dennoch begeistertem Ton.
Angel blickte aufmerksam das Cubement an und schüttelte abwesend den Kopf, sagte jedoch nichts. Sie war dermaßen stolz auf Shell und seine Gabe, programmieren zu können, denn das war mehr als nur kompliziert. Seine Finger streiften elegant über das Hologramm, wodurch sich das Äußere dieser Map zu erkennen gab. Sie erblickte die flimmernden Schemen eines mehrstöckigen Hauses, mit einem einfachen, grünen Rasen rund herum. Eindeutig würde sich das Geschehen in dem Gebäude abspielen.
"Alles klar, das ist die fertige Opal-Map von außen. Ich werde die Regeln trotzdem nochmal erklären, weil ich sie ein bisschen ausgearbeitet habe und du bei der Challenge sonst einen Nachteil hättest." Shell räusperte sich kurz und setzte dann fort. "Dass wir beide gleichzeitig in der Arena sind, weißt du schon. Das Ziel ist simpel. Es geht einfach darum, als erstes auf's Dach zu gelangen. Der Start ist unten beim Eingang und der Weg zieht sich ähnlich wie eine Wendeltreppe um das Zentrum von dem Haus herum, bis ganz nach oben. Der Weg ist zumindest noch am Anfang durch eine Glasscheibe der Länge nach durchtrennt und die Hindernisse sind links und rechts genau gleich, damit das am Anfang für die beiden Gegner auch fair bleibt."
Angel verinnerlichte die Regeln zwar, überlegte dann jedoch, wann der beste Zeitpunkt war, ihn auf darauf anzusprechen, weswegen sie wirklich hier war. Kurz blitzte das negative Gefühl wieder in ihr auf, als sie bestätigend nickte, bevor es von der Neugierde und dem späteren Adrenalin ganz verdrängt wurde. Sie beschloss sich zuerst auf die Opal-Map zu konzentrieren, bevor sie ihn nach der Challenge fragen würde. Während sie in den Anteroom übergingen und sich umzogen, kalkulierte sie ihre Gewinnchancen aus. In dem Spawner, der sie in die Arena trug, kam sie schließlich zur Erkenntnis, dass sie verlieren würde, da Shell die Map einfach in und auswendig kannte. Von den mittleren Leistungen in PK her waren sie etwa gleich, allerdings waren beide von ihnen nicht viel besser als der Durchschnitt. Arenen waren eher etwas für Tracer wie Rae und ihre Freunde. Sie beide beschäftigten sich normal mit anderen, gegenteiligen Dingen.
Langsam stieg die Kapsel aus dem Grund und ließ zu, dass Angel wieder sehen konnte. Neugierig drückte sie sich gegen das gewölbte Glas und staunte nur so, als sie Shells Werk begann, zu betrachten. Vor ihr lag der Eingang des Hauses, rechts von ihr Shell in seiner Kapsel und zwischen ihnen die Glasplatte. Sie drehte sich zu ihm und hob den Daumen hoch, doch er zwinkerte ihr nur zu, bevor es auch schon los ging. Als sich die Spawner nach vorne hin öffneten, konzenterierte sich Angel wieder auf den Weg mit seinen Hindernissen vor ihr. Bis zur ersten Ecke war außer einer seltsamen Schaukel, die von der Decke hing nur glatter Rasen zu sehen, der den ganzen Boden des Hauses bedeckte. Als die Tracer losrannten, ließ Angel Shell ganz bewusst nicht aus den Augen, da er bei bestimmten Hindernissen bestimmt bereits genau wusste, wie man sie am besten überwand. Trotzdem wollten ihre Beine sie bereits an der Schaukel vorbei, um die Ecke tragen, obwohl der Junge plötzlich stehen geblieben war, direkt unter seiner eigenen Schaukel. Während in Angels Kopf sämtliche Alarmglocken klingelten und sie verdutzt zurücksah, erscholl das Rauschen einer womöglich mächtigen Wasserwelle. Augenblicklich blieb sie stehen und erstarrte beim immer lauter werdenden Geräusch von strömendem Wasser.
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