Kapitel 2

GROB STIESS MI die Tür auf. Die verängstigten Mädchen stürmten hinein und Mi verschloss die Wohnung. Mit dem Rücken lehnte sie sich an ihren Ausgang und drückte dagegen, um ihren Körper vom Zittern abzuhalten. Das Adrenalin ließ ihr Herz bis zum Hals schlagen und ihr Atem ging schnell. Sie schloss ihre Augen und sog die Luft tief ein.

Ihre Schwester ging in die Küche und schenkte sich ein Glas Wasser ein, während Mi an der Haustür klebte. Auch wenn Emilia ebenfalls zitterte, hatte sie die Angst besser im Griff als Mi, was sehr ungewöhnlich war. Sie war bemerkenswert geübt darin, ihre Panik zu verbergen.

"Also ich weiß nicht was du jetzt machst, aber ich muss mich kurz hinsetzen und mich konzentrieren. Ich muss mich darauf konzentrieren, den Verstand nicht vollständig zu verlieren", sagte Emilia. Ein leichtes Beben begleitete ihre Worte.

Mi war nicht im Stande, ihr zu antworten. Sie war verwirrt. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie schaffte es, sich von der Tür zu lösen und die vor ihr liegende Treppe hinaufsteigen. Oben angelangt ging sie durch die linke Tür, die ins Bad führte. Für eine Minute ließ sie den Wasserhahn laufen und stützte sich am Waschbecken ab.

Sie hatte keinen blassen Schimmer, was passiert war. Niemand war hier gewesen und trotzdem waren diese Stimmen aufgetaucht. Aber wie konnte es sein, dass kurz danach dieselben Laute von der entgegengesetzten Richtung gekommen waren? Mi kannte alle Gassen in dieser Gegend, doch keine konnte einen Menschen so schnell von einem Ort zum anderen bringen.

Vielleicht brauchten diese Geschöpfe keine Abkürzungen. Vielleicht konnten sie übernatürlich schnell rennen. Anders war das nicht erklärbar. Oder doch?

Über sich selbst erschrocken streckte die junge Frau ihre Hände unter den Strahl. Sie trank einen Schluck und klatschte sich das kühle Nass in ihr Gesicht. Allmählich konnte sie besser denken und erkannte, was für einen riesigen Schwachsinn sie gerade eben gedacht hatte.

Mi schüttelte ihren Kopf und hob diesen langsam an. Als ihre Augen den Spiegel trafen, erschrak sie gewaltig. Sie taumelte nach hinten. Doch kaum hatte sie geblinzelt, war das falsche Spiegelbild verschwunden.

Mi konnte es nicht fassen. Drehte sie durch? Gerade eben hatte sie anstatt ihres Spiegelbildes eine junge Frau mit nachtschwarzen Haaren und blutroten Strähnen gesehen. Ihre Schultern waren mit schwarzer, eleganter Spitze eingehüllt und ihre Lippen von einem falschen Lächeln umspielt gewesen. Das hysterische Kichern in der Gasse gehörte praktisch zu diesem Gesicht. Ihr Bauchgefühl versicherte ihr das.

Ein zerspringendes Glas ließ Mi erschrocken zusammenzucken. Das Glas klirrte und Mi glaubte, das grässliche Knirschen eines rollenden Flaschenhalses zu vernehmen. Die Wände waren dünn wie Papier. Ein Poltern folgte. Dann Stille.

Mi wagte es kaum zu atmen. Sie wollte Emilias Namen rufen. Sie wollte wissen, ob es ihrer Schwester gut ging. Sie kniff ihre Augen fest zusammen und öffnete sie dann wieder.

Was war passiert? Warum sagte Emilia nichts? Wusste Emilia überhaupt, wie sehr Mi sie liebte? Hatte sie ihr das jemals gesagt? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Es war für sie immer selbstverständlich gewesen, dass Emilia für sie da war. Nie könnte sie sich ein Leben ohne sie vorstellen. Sie war die wichtigste Person in ihrem Leben. Warum fiel ihr das jetzt ein, wo es zu spät war?

Entsetzt warf Mi ihren Kopf in den Nacken und legte ihre Hand auf die Türklinke. Sie sandte ein stilles Gebet aus. An den Gott, dessen Existenz sie immer verleugnet hatte. Langsam drückte sie die Klinke hinunter und stieß die Tür lautlos auf. Sie machte einen Schritt in den Gang hinein und blickte die Treppe hinunter. Erleichtert atmete sie aus. Links von der Haustür lehnte Emilia mit dem Rücken an der Wand.

Sie lief die Stufen hinunter und ging zu ihr. Erst jetzt stellte sie fest, wie panisch Emilia war. Ihr Brustkorb hob und senkte sich blitzschnell und ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie schien nicht einmal bemerkt zu haben, dass Mi vor ihr stand. Ihre Schwester würde sich von diesem Erlebnis nie erholen. Das machte ihr Sorgen. Diese Sorgen verdrängten sogar ihre eigene Angst.

Mi fiel etwas auf. Emilias Körper war verspannt und sie machte sich klein. Doch ihr linker Arm war nicht an ihren Körper angezogen. Sie schwenkte ihren Blick von Emilias linker Schulter zu ihrer Hand. Ihr Zeigefinger zitterte. Sie deutete in Richtung Küche.

Mi wurde hellwach. Noch bevor sie sich umdrehte, griff sie zum Schlüssel. Sie öffnete die Tür sperrangelweit. Vorsichtig drehte sie sich zur Küche. Als ihr Blick dorthin schwenkte, weiteten sich ihre Augen und sie stellte sich schützend vor Emilia.

Am Küchenboden lag eine zerbrochene Flasche und daneben eine bewusstlose junge Frau mit dem Gesicht zum Boden. Sie war nicht älter als die beiden. Mi starrte einige Augenblicke auf die leblose Person, bevor sie langsam rückwärts ging. Sie schob ihre Schwester aus der Wohnung. Emilia war verstört und bewegungsunfähig. Mi nahm ihre Hand und drückte sie fest. Mit wachsamem, auf die Frau gerichteten Blick verließen sie langsam die Wohnung.

Sie merkte, wie Emilia sich ein kleines bisschen entspannte und von ihrer Starre losriss. Mi drehte sich zu ihr um und schenkte ihr einen tröstenden Blick. Emilias Augen glitzerten vor Panik und sahen durch sie hindurch. Zumindest konnte sie sich wegbewegen.

Mi drehte sich resigniert nach vorne und versteifte sich auf der Stelle. Die junge Frau war aufgestanden. Sie starrte wütend in ihre Richtung und hob ihren gesenkten Kopf langsam wie ein wildes Tier an. Plötzlich wurde Mi etwas Schreckliches bewusst. Die Frau hatte tiefschwarze Haare mit blutroten Strähnen. Es war die Person, die sie im Spiegel gesehen hatte.

Bewegung kam in die Szene. Emilia hatte die Kontrolle über ihren Körper wiedererlangt und rannte aus der Wohnung. Sie hatte sich von ihrem Griff gewaltsam losgerissen. Mi blieb wie versteinert stehen und blickte ihr mit offenem Mund nach. Das Bild von ihr, wie sie aus der Wohnung lief, brannte sich in ihr Gedächtnis hinein. Ihre Augen weiteten sich und am liebsten wollte sie schreien. Sie wollte Emilias Hand fassen, sie umdrehen und ihr Gesicht sehen. Ihr sagen, wie sehr Mi sie liebte. Doch ihre Schwester war schnell wie der Wind davongewirbelt. Die Angst hatte sie getrieben und ihr vermutlich das Leben gerettet.

Mi war wie am Boden festgewachsen. Viel zu spät wollte sie sich von ihrer Starre losreißen, um es ihrer Schwester gleichzutun. Sie musste weglaufen, doch jetzt war es zu spät. Das Mädchen strömte eine furchterregende Aura aus. Eindrucksvoll und schrecklich zugleich. Sie blickte tief in Mis Augen. Sie schien in ihre Seele hineinsehen zu können. Gerade, als sich Mi abwenden und wegrennen wollte, hob die Frau eine Hand. Sie drehte ihren Arm im Uhrzeigersinn. Das war der Zeitpunkt, ab dem Mi verloren war. Sie konnte nicht mehr weg. Warum, wusste sie nicht. Sie konnte sich ganz einfach nicht bewegen. Sie konnte nicht einmal ihren Blick von ihrer fesselnden Erscheinung lösen. War sie hypnotisiert worden? War das möglich?

Die Schwarzhaarige blickte konzentriert in Mis Augen und flüsterte etwas leise vor sich hin. Mi konnte es nicht hören. Sie sah nur ihren sich bewegenden Mund. Von der sich drehenden Hand ausgehend bildete sich plötzlich eine kleine Blase. Sie war zuerst so winzig gewesen, dass Mi sie nicht bemerkt hatte. Unauffällig und schleichend wurde sie größer.

Die Blase war durchsichtig wie aus Seife und besaß feine, schwarze Linien an ihrer Oberfläche. Sie bewegten sich unnatürlich schlängelnd darauf. Einen Moment lang verschwanden die Ornamente und tauchten im nächsten wieder auf. Ihre Aufmerksamkeit galt ganz der Blase. Fasziniert erkundete Mi jedes ihrer kleinsten Details. Sie merkte gar nicht, dass das durchsichtige Ding aufgehört hatte zu wachsen. Es bewegte sich langsam näher. Bald schwebte es auf Augenhöhe auf sie zu.

Mi merkte, wie die immer dicker werdenden Linien stetig mehr von ihrem Sichtfeld einnahmen. Die unheimliche Frau starrte weiterhin konzentriert in ihre Augen, doch Mi hatte sie längst vergessen. Die Blase drosselte ihr Tempo und stoppte endgültig vor ihrem Gesicht.

Ihre geweiteten Pupillen verengten sich, als die schwarzen Linien sich zusammenzogen und verschwanden. Die Blase war durchsichtig. Nur an ihren verschwommenen Rändern konnte man sie noch erkennen.

Viel zu plötzlich ließ die Frau ihre Hand fallen, woraufhin die Blase zerplatzte. Das Geräusch war für Mi wie ein ohrenbetäubender Knall. Entsetzt schrie sie auf. Sie krümmte sich gepeinigt. All die Konzentration war wie weggeblasen und wurde bei Mi durch Schmerz ersetzt. Die schwarzhaarige Frau begann grässlich zu lachen. Jeder ihrer Muskeln zog sich krampfartig zusammen und ihr Kopf litt unter unheimlichen Qualen.

Mi hörte einen stechend hohen Ton in ihren Ohren. Ihr wurde so schwindelig, dass sie auf ihren zwei Beinen kaum stehen bleiben konnte. Sie torkelte und hielt verzweifelt Ausschau nach ihrer Wohnungstür. Es hatte sich ein Schleier über ihre Augen gelegt, der ihr einen verschwommenen Blick bot. Sie konnte sich nicht konzentrieren, da sich der Schmerz in ihrem Kopf ausgebreitet hatte und weitere Teile ihres Körpers zu befallen drohte. Ein stechender Schmerz in ihrem Schädel verursachte, dass sie sich vor Pein an ihren dichten Haaren zog, die ihr bis zur Taille gingen.

Bis zur Taille gingen? Als der Stich etwas abebbte, blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an sich herunter. Ihre Haare waren beinahe bis zur Hüfte gewachsen. Aber sie waren auch dichter geworden. Normalerweise hatte sie dünne Haare gehabt. Sie fuhr sich durch ihre Mähne und stellte irritiert fest, dass sie auch um einiges heller als zuvor war.

Aber was war das? Bewegung kam in ihr Haar hinein und es strömte etwas Auffälliges hindurch. Einige Strähnen ihrer nun blonden Mähne nahm einen ganz anderen Farbton an. War das etwa ein sanftes Blau, das sich einen Weg in ihre Haare suchte? Mi konnte kaum sehen, da graue Punkte vor ihren Augen tanzten.

Noch etwas anderes stimmte mit ihr nicht. Die fremde Frau, zum Beispiel, hatte sie völlig vergessen. Mi hatte sie für einen Moment vollkommen aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Erst jetzt, wo sie ihr in die Augen sah, kam die Erinnerung an sie zurück. Verwirrt griff sie sich an den Kopf. Sie musste sich anstrengen. Irgendwas mit einer Blase hatte sie zutun. Sie wusste es nicht mehr genau. Es war schmerzhaft und schwierig, in ihren Gedanken herumzugraben. Ihr Schädel schien sie andauernd hinauswerfen zu wollen. Er streikte. Was stimmte nicht mehr mit ihrem Gedächtnis?

Der Schmerz verstärkte sich nun um ein Vielfaches. Der Boden griff nach Mi und ließ ihren Beinen keine Chance, das Gleichgewicht zu behalten. Der Aufprall verzehnfachte den Schmerz, der von ihrem Kopf ausgegangen war und alle ihre Gliedmaßen befallen hatte.

Ihr fiel wieder ein, dass sie nach dem Ausgang gesucht hatte. Sie erblickte ihn, als sie ihren Kopf vor Schmerz nach hinten gereckt hatte. Langsam drehte sie sich auf ihren Bauch und robbte in Richtung der offenen Tür. Jede ihrer zitternden Bewegungen bereitete ihr unglaubliches Leid.

Als sie wenige, armselige Zentimeter hinter sich gelegt hatte, fiel ihr noch etwas ein. Es war etwas Wichtiges, aber sie erinnerte sich nicht an genug. Es fehlte ein wesentlicher Teil dieser Erinnerung. Sie sah zwar ein Gesicht hinter ihren Augen, konnte es aber nirgendwo einordnen. Sie sah bloß eine braunhaarige, junge Frau, die aus der vor ihr liegenden Tür rannte. Mi musste stoppen und massierte sich mit ihren zitternden Händen ihre Schläfen. Sie biss die Zähne zusammen und robbte rascher zur Tür. Allerdings kam sie zu langsam voran. Diese andere Frau - sie hatte sie schon wieder vergessen -, war schneller bei der Tür und schlug sie eiskalt zu. Der Knall verursachte quälende Kopfschmerzen. Wer war sie überhaupt? Warum tat sie das?

Viel zu viele Fragen durchlöcherten ihren Kopf. Sie wünschte sich, ihre schwindenden Erinnerungen wiederzuerlangen. Als Mi von ihr wegrücken wollte, fiel ihr wenigstens ein, warum sie überhaupt zum Ausgang wollte. Sie wollte zu diesem braunhaarigen Mädchen, das aus der Wohnung gerannt war. Sie wusste nicht, wer sie war, aber diese Person war im Moment das Wichtigste auf der Welt. Sie musste sie unbedingt in ihrem Kopf behalten. Wie eine Blinde hielt sie an dem Bild fest. Sie umklammerte es fest, damit es ihr nicht entrissen werden konnte.

Erinnerungen über Erinnerungen sah sie vor ihrem inneren Auge, allesamt unbeschriftete Bilder. Sie erschienen vor ihr und im nächsten Moment verschwanden sie in einem finsteren Loch. Als wären sie aus Papier, wurden sie einfach zerrissen, während die einzelnen Teile in der Dunkelheit ihres Gedächtnisses verschluckt wurden.

Mittlerweile hatte sie erkannt, dass ihr tatsächlich eine erschreckende Menge an Erinnerungen fehlen mussten. Sie konnte sich weder an ihre Familie erinnern, noch an irgendwelche anderen Personen. Sie wusste nicht mehr, was ihre Lieblingsfarbe, ihr Lieblingsessen oder ihre Lieblingsmusik war. So sehr sie sich auch anstrengte, da war nichts mehr in ihrem Kopf. Gar nichts. Nach dieser Erkenntnis konzentrierte sie sich nur noch auf das braunhaarige Mädchen. Das war die einzige Erinnerung, die ihr geblieben war. Sie musste wichtig sein.

Während sie sich die schulterlangen, braunen Haare fest einprägte und sich an das Gesicht der Frau zu erinnern versuchte, kam die Schwarzhaarige zu ihr und beugte sich über sie. Mi legte sich auf ihren Rücken und stöhnte auf, da ihr jede kleinste Bewegung fatale Schmerzen bereitete. Sie war ihr gefährlich nahe gekommen. Mi rührte sich kein bisschen. Sie ließ alles geschehen.

Mi konnte kaum noch ihre Augen offen halten, vermutete aber ein gefährliches Grinsen auf den Lippen der Frau. Auch, wenn sie es niemals erfahren würde, war ihre Vermutung bestimmt richtig gewesen.

"Denk nicht, du hast das Schlimmste schon hinter dir, kleines naives Menschenmädchen. Die Sache mit den Erinnerungen ist nur der Anfang", zischte sie, während sie Mis Kinn grob packte und zu sich her drehte. Obwohl die plötzliche Bewegung einen starken Schwindel in Mis Kopf verursachte, verspürte sie keine Furcht mehr vor ihr. Sie widmete ihr nicht mal den geringsten Hauch eines Gefühls. Aber ihre Worte bereiteten ihr eine furchterregende, sie zu verzehren drohende Angst.

Inzwischen waren ihre Augen verschlossen und ihr Bewusstsein drohte, sie im Stich zu lassen. Bevor sie in einen tiefen Schlaf fiel, öffnete die andere noch ein letztes Mal den Mund. Sie hatte sich zu ihrem Ohr vorgebeugt.

"Das, was jetzt kommt", hauchte sie mit ihrer rauen Stimme, "wird dich nicht umbringen", sie neigte sich noch ein Stück weiter nach vorne, "es wird dich in den Wahnsinn treiben."

Hilflos musste Mi zulassen, wie ihr die allerletzte Erinnerung an ihr Leben gewaltsam aus dem Gedächtnis gerissen wurde. Ein letztes Mal wollte sie nach der braunhaarigen Frau rufen. Doch bevor sie ihre Stimme wiederfand, erschlaffte ihr Kopf und fiel zur Seite.

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