Kapitel 18

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DER ROTBRAUNE TISCH wurde von einer jungen Frau gedeckt, die streng blickte und entschlossene Handbewegungen vollzog. Ihre Augen schweiften zur Türe, als eine schmächtige Gestalt hindurchhuschte und ließ sie an etwas erinnern. Das Kind wusste, bevor seine Mutter den Mund auch nur einen Spalt breit geöffnet hatte, was sie wollte. Was sie vergessen hatte.

Die Kleine senkte ihren Blick und versuchte dennoch so zu tun, als ob sie nichts wusste. Mit pochendem Herzen lief sie an ihrem älteren Ebenbild vorbei, die Stufen hinauf zu ihrem Zimmer. Schritte hinter ihr machten ihr langsam aber sicher klar, dass es keinen Sinn hatte. Sie konnte es nicht verdrängen, denn, so hatte es ihre Mama gesagt, es musste einfach sein.

Mit schmollendem Mund und verschränkten Armen setzte sich das Mädchen auf ihr Bett. Sein Blick lag beabsichtigt nicht bei der Türe, wo seine Mutter gleich erscheinen würde. Es betrachtete das aufkommende Gewitter und begann es mit seiner eigenen Stimmung zu vergleichen. Seltsam, wie das Donnergrollen über dem Meer den Gedanken in seinem Köpfchen glich und, wie der Regen, der langsam aber sicher stärker wurde, ihren unterdrückten Frust symbolisierte.

Obwohl es sich nicht vom Fleck rührte, wusste das Kind genau, dass seine Mutter nun hinter ihm stand. Auch, als diese sich auf das Bett setzte, was durch ihren Körper eine Energie stoßen ließ, drehte sich die Trotzige nicht um. Sie wusste ohnehin, wie ihre Mama aussah und vor allem, was sie in den Händen hielt.

Die kleine, weiße Schatulle in ihren Händen war auch der Grund, warum die Braunhaarige so betrübt war. Mit einem stumpfen Klicken wurde die Box geöffnet und eines der kleinen Elemente wurde ihr entnommen. Wie immer sagte sie, dass es ihr danach besser gehen würde und wie immer, fühlte sie dieses negative Gefühl in ihrem Inneren, als ob ihr das Medikament nicht helfen könnte.

Doch so war es nicht, denn das war nur die Einbildung des kleinen Mädchens mit den schulterlangen, braunen Haaren. Es wusste genau, dass es ohnehin nicht Recht hatte, denn die Medizin hatte schließlich immer Recht.

Widerwillig nahm sie die Pille entgegen und würgte sie hinunter, in der Hoffnung, dass es irgendwann besser werden würde.

Stille erfüllte den Vorlesungssaal, der randvoll mit jungen Tracern war, während Nolan ihre Stimme erhob, oder auch einfach nur etwas mit Kreide an die Tafel schrieb, um sie über die Tracersoziologie zu belehren. Es sollte ein normaler Universitätstag und eine normale TS-Stunde sein, doch das war es nicht. Es lag einfach eine gewisse Spannung in der Luft. Die unausgesprochene Frage, wo denn Mina Montgomery blieb, die schließlich erst kürzlich und überraschend aufgetaucht war, hing wie eine Wolke über den Köpfen der Tracer.

Vielleicht war es auch einfach nur Angel, die viel zu abgelenkt war und das Verhalten der Tracer zu präzise beobachtete und analysierte, doch dieser Tag war definitiv kein Gewöhnlicher. Sie starrte Professor Nolan an, verfolgte mit ihren Augen ihre Gestiken und blickte doch in eine endlose Leere. War mit den Gedanken ganz wo anders, als in der Übung.

Angel sah zu Shell, neben dem sie saß und überlegte, worüber er gerade denken könnte. Seine neutrale, zufriedene Miene wurde von dunklen Haaren umrahmt, welche auf keine Spuren von Zweifel hindeutete. Am liebsten hätte sie theatralisch aufgeseufzt, doch alles was sie tat, war ihren Kopf auf ihre Hände sinken zu lassen und wieder motivationslos in Nolans Richtung zu blicken.

Sie konnte einfach nicht aufhören, an Mi zu denken. Vor ihren Augen spielten sich immer wieder die Bilder und Eindrücke der gestrigen Nacht ab, sie konnte diese nicht abschalten. Sorgen um ihr Wohlergehen trieben sie an den Rande der Verzweiflung. Ob Mi wieder aufgewacht war? Warum sollte sie überhaupt so lange bewusstlos sein, wenn Tracer, beziehungsweise Tracker theoretisch immer gesund und vollkommen funktionsfähig waren? Aber warum war sie dann gestern schon so ungewöhnlich lange nicht bei Bewusstsein gewesen?

Es stimmte etwas ganz und gar nicht, da war sich Angel ganz sicher. Jeder andere Tracer hätte Mi für vollkommen durchgedreht gehalten, wenn er diese Behauptungen, die Mi gestern von sich gegeben hatte, gehört hätte. Tracer die Menschen zeichnen - einfach nur lachhaft. Genau wie die Unsichtbarkeit, kam es gar nicht in Frage, dass Tracer dies konnten. Nur ein vollständig ausgereifter Tracker konnte das schließlich. Dass die Verbindung länger als vierundzwandzig Stunden hielt und die Behauptung, dass sie oder Lucette wisse, wo die Türe sei, war ebenso vollkommener Schwachsinn, das war keine Frage.

Doch das Bild von Mis überzeugtem Blick, ihren leuchtenden, grauen Augen und ihrer aufgeregten Miene, ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Es war ihrer Meinung nach keine Spur von Wahnsinn oder Verrücktheit darin zu sehen gewesen. Doch wie konnte es nur sein, dass sie sich so in ihr getäuscht hatte?

Dann war da ja noch diese Sache mit der Anomalie, die sich bei Mi anscheinend ausgeweitet hatte. Mis blauen Haare. An sich waren die Farben in den Mähnen der Tracer nichts Ungewöhnliches. In TS hatten sie im ersten Semester gelernt, dass sogar vierundneunzig Prozent der Gezeichneten diese Mutation aufwiesen. Aber das erfolgte nur einmal, nämlich im Stadium, in dem ein Mensch gezeichnet wurde, nicht wenn er als Tracer schon einige Zeit herumgelaufen war, so wie Mi. Das, was sie gesehen hatte, war praktisch unmöglich. Aus diesem Grund hatte sie Rae, die das sich ausbreitende Blau scheinbar nicht bemerkt hatte, auch nichts erzählt, nachdem sie aus dem Krankentrakt gegangen waren. Ein jeder würde Angel für komplett durchgeknallt halten, wenn sie das nicht beweisen können würde. Umso neugieriger war sie eben darauf, Mi zu sehen, da sie sich relativ sicher war, dass sie sich das alles nicht eingebildet hatte.

Was Professor Nolan laberte, konnte sie im Moment einfach nicht aufnehmen. Alles was sie hörte, waren die Stimmen in ihrem Kopf, die wirre Wortfetzen von sich gaben. Ihre Hände wanderten zu ihrem Kopf und versuchten all diese Gedanken durch festes Reiben ihrer Schläfen zu vertreiben. Kurz blickte sie zu Shell, der noch immer wie gebannt an Nolans Lippen hing und wandte sich schließlich nach links, wo Rae und ihre Freunde wenige Reihen und einige Sitze entfernt von ihr saßen. Das Glitzern in ihren braunen Augen, das entstand, während sie leise mit Cindy tratschte, ließ Angel vermuten, dass sie die Sache mit Mi nicht so sehr beunruhigte, wie sie selbst. Trotzdem wusste Angel genau, dass sie sich ebenfalls Sorgen machte und dass ihr an Mi sogar sehr viel lag. Es war nur so, dass Angel einfach diejenige war, die sich mehr hineinsteigerte.

Bevor die beiden gestern wieder zu Bett gegangen waren, hatten sie sich noch lange und ausgiebig über Mis Person unterhalten. Ein solches ernsthaftes Gespräch führten die beiden gar nicht so oft, doch seitdem Mi hier gewesen war, hatte es eine Art Verbindung, eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen gegeben. Trotz ihrer unterschiedlichen Charakterzüge und Interessen hatte sie das Gefühl gehabt, als ob sich zwischen ihnen eine Freundschaft gebildet hatte. Leider begann sich diese bereits jetzt, wo Mi nicht da war, wieder aufzulösen. Doch als die beiden über Mis Verhaltensumschwung diskutiert hatten, hatte Rae offen und ehrlich kundgegeben, wie sie das Ganze um Mi herum empfand.

Rae glaubte, Mi wäre einfach paranoid gewesen und hätte sich das alles mit Lucette nur eingebildet, da sie - so wie schließlich jeder Tracer - Angst vor ihr gehabt hätte. Mi habe aufgrund ihrer Paranoia das Bedürfnis gehabt, wegzurennen, was letztendlich dazu geführt hätte, dass sie zusammengebrochen sei. Ihre Theorie war - wenn man außer Acht ließ, dass Tracer auch keine psychischen Krankheiten bekommen konnten - zumindest nachvollziehbarer als ihre eigenen Überlegungen. Angel konnte absolut verstehen, dass Rae etwas dieser Art zu glauben versuchte. Dennoch blieben sowohl die blauen Haare, als auch Mis Worte in ihrem Hinterkopf.

Das lang ersehnte Läuten unterbrach Angels Gedankengang und ließ eine Art Hoffnung in ihr aufkeimen, da sie sich vorgenommen hatte, direkt nach TS Nolan zu fragen, wie es Mi ging. Sie hatte eigentlich vor gehabt, gleich in der Früh in den Krankentrakt zu gehen, doch die Türen, die in diesen Gang führten und normal immer offenstehen mussten, waren seltsamerweise am heutigen Tage verschlossen gewesen. Deswegen wusste sie über Mi auch noch nicht Bescheid und wartete schon die ganze Übung lang, bis diese endlich vorbei war und sie Nolan nach ihr fragen konnte.

Angel blickte zu Shell und stellte fest, dass er sie verwundert ansah, da sie zwar aufgestanden war, jedoch einfach stehen blieb und ihm nicht folgte, obwohl er gerade dabei war rauszugehen. Eigentlich hatte sie vorgehabt zu warten, bis alle anderen Tracer aus dem Saal gegangen waren, doch er wartete geduldig auf eine Reaktion ihrerseits.

"Du kannst schon vorgehen, ich muss Professor Nolan noch etwas fragen. Wir sehen uns dann in PK, oder?", erklärte sie und setzte ein Lächeln auf, das ihre Augen leider nicht erreichen wollte. Um ein besseres Wohlergehen vorzutäuschen, war sie einfach viel zu müde.

Shell, der trotz seiner intellektuellen Charaktereigenschaften relativ leichtgläubig war, schien dies nicht aufzufallen, da er einfach nur bestätigend lächelte, ihr zustimmte und sich dann dem Strom an Tracern, die aus dem Saal gingen, anschloss. Kurz wartete Angel noch, bis der Großteil der Jugendlichen gegangen war und steuerte dann schließlich den Lehrerpult an. Als sie ein Räuspern hinter sich vernahm, drehte sich ihr Kopf reflexartig nach hinten, in die Richtung aus der das Geräusch kam. Sie erblickte Raes Person, die anscheinend ebenfalls vorgehabt hatte, sich bei der Universitätsprofessorin nach Mis Gesundheitsstand zu erkundigen.

Angel war erleichtert, dass Rae Interesse an Mi zeigte und, dass sie Nolan nicht alleine fragen musste, da sie das alles ziemlich nervös machte. Dennoch war sie inzwischen so ungeduldig, dass sie sich einfach konsequent vor Nolan stellte und sie offen und direkt fragte.

"Entschuldigen Sie, Professor, ich würde sie gerne etwas fragen", begann sie mit fester Stimme und beobachtete, wie Nolan von ihren Unterlagen aufsah und ihre Aufmerksamkeit den Tacern schenkte. Rae schritt zu ihnen herüber und blieb schließlich links von Angel stehen.

"Ja, bitte."

Unsicher sah die Blondine nun doch zu Rae, die ihren Blick sofort verstanden hatte und das Reden übernahm.

"Letzte Nacht ist Mina Montgomery zusammengebrochen, weswegen wir sie in die Krankenstation gebracht haben, weil sie einfach nicht mehr aufgewacht ist. Wissen Sie vielleicht, etwas darüber, wie es ihr geht?"

Neugierige und zugleich angespannte Augenpaare lagen auf der Trackerin, die nach dem Nennen dieses Namens einen Hauch zu lange überlegte, bevor sie antwortete. Nolan wusste bestimmt, was sie nun zu den Tracern sagen sollte. Wahrscheinlich fiel es ihr nur schwer, gewisse Wahrheiten im Bezug auf diese Sache zu umgehen.

"Montgomery ist nicht aufgewacht. Sie befindet sich in einem komaartigen Zustand."

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