Kapitel 14
MIS HAARE STANDEN ihr zu Berge, als sie diese Stimme wahrnahm. Ihr Kopf fühlte sich einfach noch immer schummrig an, sie konnte nicht wirklich realisieren, dass Lucette wirklich hinter ihr stand. Worüber sie ebenfalls nicht nachdenken konnte, waren sämtliche Fragen. Wie war Lucette in diese Arena eingedrungen? Warum griff sie Mi an?
Doch kaum hatte sie auch nur einen derartigen Gedankenansatz bearbeitet, wurde sie auch schon wieder quer durch den Wald geschleudert. Knochige Hände ergriffen sie, hielten sie für einen kurzen Augenblick fest und warfen sie schließlich in eine Richtung. Alles ging so schnell, sie konnte einfach nicht reagieren. Der dünne Baum vor ihr kam immer näher, bis sie mit ihm zusammenprallte und schließlich auf dem moosigen Waldboden aufkam.
"Es war recht amüsant, der erste Tracer zu sein, der einen Menschen gezeichnet hat, das muss ich zugeben", sagte Lucette in einem viel zu ruhigen Ton. Mi drehte sich zu ihr und sah, wie sie anfing zu grinsen, als sie Mis geschockte Miene erkannte. Während sie sich aufrichtete, nutzte Lucette diese Chance, um auf sie zuzulaufen. Doch diesmal reagierte Mi schneller, als sie die Schwarzhaarige mit den roten Strähnen aus dem Blickwinkel auf sie zurennen sah. Lucette bewegte sich flinker und präziser als sonst, ähnlich wie eine Schlange. Mi jedoch versuchte sich panisch an diesen Moment zu erinnern, in welchem sie sich in der Challenge auf dem schwarzen Marmor nach oben gebeamt hatte. Lucette war beinahe bei ihr angekommen, ihre Miene war bitterernst und kalt wie der Tod höchstpersönlich. Mis Blick schnellte in Gedanken zu dem Ast über ihr, doch ihre Augen fixierten Lucette.
Als Mis Sichtfeld verschwand und nur eine Millisekunde später wieder auftauchte, tanzten schwarze Punkte um ihre Augen herum. Fast wäre sie von diesem dünnen Ast gefallen, wenn sich ihr Kreislauf nicht so schnell wieder erholt hätte. Unter ihr hörte sie Lucette tatsächlich fluchen und überrascht um sich her blicken. Rasch hatte sie gemerkt, dass sich Mi über ihrem Haupt befand, was sie zu ärgern schien. Mis Herzschlag hatte sich nur noch nicht beruhigt, weil sie den Blick von Lucette, mit dem sie Mi vor einigen Sekunden noch angestarrt hatte, nicht aus ihren Kopf bannen konnte.
Sie krallte ihre Fingernägel in die raue Baumrinde und versuchte diesen Gesichtsausdruck zu verdrängen, doch sie schaffte es einfach nicht. Lucette hatte sie nicht feindselig angesehen, sie hatte Mi auch nicht wütend angeblickt. Sie hatte sie angestarrt, als ob Mi gar nicht mehr lebendig wäre. Hatte sie etwa vorgehabt, Mi zur Strecke zu bringen?
Als Mi diese Erkenntnis überkam, wusste sie sofort, dass sie eigentlich hätte schnellstens aus der Arena verschwinden sollen. Natürlich hätte sie die Möglichkeit gehabt, den Spawner herzuschicken und die Arena so zu verlassen, doch Mi tat dies ganz bewusst nicht. Es war nicht ihre Art, wegzulaufen und sich von anderen unterdrücken zu lassen. Nicht, dass sie absichtlich Risiken eingehen wollte, doch in einer gewissen Weise glaubte sie, Mut in sich selbst wiedergefunden zu haben. Sie biss ihre Zähne zusammen und suchte alles zusammen, was gegen Lucette Vermont sprach und das war nicht gerade wenig, wenn sie bedachte, dass sie gerade eben etwas Ausschlaggebendes zugegeben hatte.
'Es war recht amüsant, der erste Tracer zu sein, der einen Menschen zeichnet, das muss ich zugeben.'
Lucette hatte bestätigt, dass sie Mis Zeichner war, hatte damit aber auch gleichzeitig viele andere Dinge bestätigt. Wenn sie wirklich ihr Zeichner war, wusste sie auch wirklich, wo der Ausgang der IUU war. Hoffnung keimte in ihr auf, sie verstärkte ihren Mut um so vieles mehr. Lucette unter ihr wusste absolut nicht, was sie nun sagen sollte, als Mi plötzlich das Wort ergriff.
"Es stimmt also. Du bist wirklich mein Zeichner", erklang ihre kräftige Stimme, worauf Lucette' Kopf nach oben schnellte und sie genauestens musterte. "Es war ein Fehler von dir, das zugegeben. Du warst wohl schon sicher, dass heute mein Ende sein wird, hm?"
Mis Ton nahm einen vertrauten sarkastischen Klang an, doch sie war keinesfalls unvorsichtig. In ihrem Inneren blieb auch stets das Gefühl der stillen Warnung, dass Lucette wieder zuschlagen könnte. Während sie mit dem Rücken am Baumstamm lehnte und geschickt auf dem Ast balancierte, blieben ihre Finger auf ihrer schwarzen Sportuhr, immerzu bereit, den Knopf zu aktivieren, welcher Mi in den Spawner retten würde. Lucette' Blick lag auf ihrem Handgelenk, was bedeutete, das genau dieser Gedanke auch in ihrem Kopf umherschwirrte. Sie sagte seltsamerweise noch immer kein Wort, scheinbar ging sie gerade die Möglichkeiten durch, die sie hatte. Umbringen konnte sie Mi in diesem Augenblick schließlich nicht.
"Glaub mir, so einfach ist es gar nicht, mich zur Strecke zu bringen. Aber dir Probleme an den Hals zu werfen, ist gerade viel zu einfach geworden. Ich hoffe du weißt das", warnte nun Mi, deren Mut sie noch immer voran trieb. Sie wusste genau, dass sie jetzt nicht nachgeben durfte, denn das wäre bei Menschen wie Lucette ihr Ende. Nur jetzt konnte sie sie erpressen, nur jetzt konnte sie ihren Plan, aus der IUU zu verschwinden, verwirklichen.
"Ich frage mich, was Pond dazu sagen würde. Bestimmt wäre sie nicht so begeistert, wenn sie erfahren würde, dass du gleich mehrfach gegen sämtliche Regeln verstoßen hast", provozierte Mi den ganz in schwarz eingekleideten Tracer, setzte noch einen oben drauf, indem sie bei den letzten Worten anfing, verschmitzt zu grinsen. "Aber, wenn du mir diese ominöse Tür zeigst, die der einzige Weg aus der IUU ist, muss sie es ja nicht unbedingt erfahren."
Als Mi den Erpressungsversuch wiedergegeben hatte, war sie sich nicht sicher, ob sich Lucette das gefallen lassen würde. Ihre Finger umklammerten das schwarze Band stärker denn je, denn irgendwo in ihr drinnen wütete noch immer diese unangenehme Unruhe, welche sie vor allem am heutigen Tag dermaßen geprägt hatte. Außerdem war Lucette ja anscheinend diejenige, die sich mit dem Manipulieren von Menschen bestens auskannte. Doch alles was die Schwarzhaarige im Moment tat, war herumstehen und ausdruckslos umher zublicken. Mi betrachtete sie kritisch und beobachtete jedes kleinste Detail, jede auch allerkleinste Regung.
Warum sagte sie noch immer nichts?
Als Mi fast, um Nummer sicher zu gehen, den Knopf auf ihrem Band betätigt hatte, hob Lucette schließlich doch ihren Kopf an. Ihr blasses Gesicht und ihre dunklen Augen jagten ihr trotz allem einen Schrecken ein, aber das würde es jedem, der dieses Mädchen erblickte. Sie blickte in Mis Augen, während sich ihr monotoner Gesichtsausdruck zu einem verwirrenden, verrückten Grinsen verzog. Geschockt blickte Mi nun, denn diese Reaktion verstand sie einfach nicht. Sie passte einfach nicht in den Kontext.
Lucettes Grinsen verzog sich wieder langsam und sie ging einige Schritte zurück, ließ Mi jedoch mit ihrem alles in den Bann ziehenden Blick nicht los.
"Du willst also tatsächlich hier raus, Montgomery?", fragte sie schließlich in einem ähnlich provokanten Ton, doch dieser Unterton ließ das Ganze nicht so spöttisch erscheinen, wie es Mis provozierender Ton bewirkt hatte.
"Vergiss nicht, dass ich die einzige Person bin, die dir eine Flucht ermöglichen könnte. Gehst du zu Pond und erzählst ihr, was auch immer, wirst du hier vielleicht sogar nie wieder raus kommen. Aber wie das mit der Zeremonie abläuft, wirst du noch genau lernen, da will ich dich jetzt nicht weiter beunruhigen", sagte sie, genoss dabei sichtlich Mis geschockten Ausdruck. All ihr Mut war nun wieder zunichte gemacht worden, mit ihrem einzigen Gegenschlag.
Sie hatte so Recht, Lucette war ihre einzige Chance und diese Tatsache machte sie schlicht und einfach abhängig von ihr. Doch hatte sie richtig gehört? Die Zeremonie, Übergang von Tracer zu Tracker, würde ihr noch ein Problem werden? Alles was sie für den Moment tun konnte, war beim Gedanken an etwas wie diese Zeremonie zu schlucken und das Herausfinden von Informationen, die sie zu diesem Thema unbedingt brauchte, auf später zu verschieben. Viel wichtiger war jetzt die Frage, was sie nur tun sollte. Sie wollte hier raus, doch außer Lucette konnte ihr scheinbar niemand helfen.
Lucette betrachtete Mi und amüsierte sich, als sie die Qual und das Ringen um Entscheidungen in ihrem Gesichtsausdruck wiederfinden konnte. Das Grinsen konnte dieses psychopathische Mädchen einfach nicht unterdrücken. Doch die Worte, welche sie nun aussprach und einfach so in der Arena verhallen ließ, waren mit Bedacht gewählt und mehr als nur gut durchdacht. Sie wusste genau, dass diese Worte Mi noch in zwei Hälften spalten würden.
"Samstag, drei Uhr, unter der Kuppel. Das ist die einzige Chance für dich, jemals den Ausgang der IUU zu Gesicht zu bekommen."
Mi öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, doch es kam einfach nichts raus. Lucette, jedoch, fing wieder an zu grinsen, was einfach nur ein furchterregendes Gefühl in Mi verursachte. Mi wollte hier raus, so sehr, dass sie einfach nur den Drang verspürte, ja zu sagen. Doch gleichzeitig wollte sie auch das Richtige tun. Warum fühlte sich das Ganze mit Lucette und der Türe so falsch an? Die IUU und die Tracker und Tracer sollten doch das sein, was sie als nicht richtig empfand. Warum verschwand dann dieses irritierende Gefühl in ihrem Bauch nicht, welches ihr davon abriet, auch nur an Lucette' Angebot zu denken? Der Wille in ihrem Verstand, aus der IUU auszubrechen, rang mit diesem Bauchgefühl, worauf Mi folglich ihre Augen schloss und versuchte dieses Gefühlschaos in ihr wieder in Ordnung zu bringen.
Als sie einige Male tief durchgeatmet hatte und all die unterschiedlichen Stimmen und Meinungen in ihrem Kopf etwas schwächer geworden waren, schaute sie wieder nach unten, auf die Stelle, wo Lucette gestanden war. Ihre Augen weiteten sich, als sie merkte, dass sie spurlos verschwunden war. Sie war einfach weg, das stellte sie auch fest, als sie den Ast schließlich verlassen hatte und ihr Umfeld abgesucht hatte. Mi hatte absolut keinen Plan, wie Lucette das gemacht hatte. Hatte sie das System überlistet? Wie war sie überhaupt hier hineingekommen? Der Gedanke daran, dass sie derartige Sachen machen konnte, war angsteinflößend.
Trotz allem steckte tief in ihrem Inneren dieser Wille, die große weite Welt kennen zu lernen. Alle auch verrücktesten Möglichkeiten würde Mi nutzen, um einfach diesem Willen nachgehen zu können.
Ihre Schuhe knirschten unter den Blättern, die das dunkelgrüne Moos bedeckten. Der dünne, elastische Stoff, welcher sich an ihre Körperform anpasste, war kaum zu spüren. Dennoch konnte die kühle Waldluft nicht zu ihrer Haut durchdringen. Nur ihre Haare konnten von dem leichten Wind erfasst werden. Ihre blauen Strähnen nahmen in dem durch die Blätter der hoch gewachsenen Bäume glitzernden Licht, verschiedenste Farben an. Mi sog den Geruch des Waldes ein und schloss langsam ihre Augen.
Das alles wirkte so echt, doch das war es nicht. Das hier war eine Kopie von einem echten Wald, wobei sie traurigerweise Wälder aus der Realität nicht mal kannte. Kopien waren meist nur eine abgeschwächte Form des echten Exemplars. Wie mochte dann wohl ein richtiger Wald in der richtigen Welt sein?
Mi verspannte sich viel zu schnell, als ihre Gedanken wieder zu Lucette' Angebot überwechselten. Es tat weh, den traumhaften Wald mit einer derart schrecklichen Persönlichkeit assoziieren zu müssen.
Doch es war nun eben der Zeitpunkt gekommen, an dem sich Mi entscheiden musste. Freiheit und die Risiken dafür in Kauf nehmen? Oder vier Jahre Gefangenschaft und eine ungewisse Zukunft, die sie für immer plagen würde?
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