Kapitel 13
ANGEL BETRACHTETE MIS entspannten Gesichtsausdruck und ließ sich mit einem Glas Wasser in ihren Händen auf einen Stuhl nieder. Sie legte ihren Kopf schief und kniff die Augen zusammen, doch das Mädchen mit den blonden Haaren und den blauen Strähnchen sah tatsächlich so beruhigt und sorgenfrei aus, wie sie es noch gar nie erlebt hatte. Es war für Angel wirklich ungewöhnlich, sie so zu sehen, was ihrer Meinung nach kein gutes Zeichen war. Mi war einfach durchgehend gestresst gewesen und das, obwohl sie erst seit zwei Tagen hier war.
Ihre graublauen Augen waren nicht zu sehen, da ihre Lider sie verdeckten. Ihre dunklen Wimpern umrahmten sie auch noch zusätzlich, sie zuckten immer wieder ein wenig, so wie es jeder tat, der schlief.
Angel konnte nicht anders, als zu seufzen. Spontan beschloss sie Rae auf das Ganze mit Mi anzusprechen, nachdem sie noch einige Minuten gewartet hatte, bis sie sicher war, dass der junge Tracer auch wirklich schlief.
"Rae? Kann ich ... kann ich dich etwas fragen?"
Sie war viel zu unsicher, um einen normalen Satz rauszubringen. Das lag daran, dass sich Angel und Rae gar nicht so oft unter vier Augen unterhielten, da sie komplett unterschiedliche Freundeskreise hatten. In Wirklichkeit waren sie sogar ziemlich verschieden, denn Angel vergrub sich meist in Lektüren, oder unterhielt sich mit ihrem besten Freund Shell über Mathematik, während Rae fast durchgehend mit ihren vielen Freunden skypte, simste oder eine volle Make-Up-Session durchzog. Doch seit Mi hier war, waren die drei in einer gewissen Weise miteinander verbunden, auch wenn es Rae bestimmt nicht so ganz passte, dass sie nun folglich weniger mit ihren eigentlichen Freunden machte.
Rae lag auf ihrem Bett und war in ihr Smartphone vertieft, als sie von Angels Stimme unterbrochen wurde. Sie sah überrascht, beinahe erschrocken auf, lächelte jedoch einen Moment später wiederum. Wenigstens war sie nicht die Einzige, die das Gefühl hatte, als ob sich diese Situation ein wenig seltsam anfühlte.
"Klar. Was gibt's denn?", fragte Rae und legte ihr Handy ab, da sie gemerkt hatte, dass Angel nicht nur eine einzige Frage stellen wollte, sondern ein Gespräch zu beginnen versuchte.
"Es geht, naja, um Mi. Ich hab das Gefühl, als ob sie ... als ob sie irgendwie gestresst wäre. Also nicht nur gestresst, sondern auch gereizt, überanstrengt und müde. Ich finde, dass sie sich ... dass sie sich seltsam verhält", erklärte Angel, die nicht ganz die richtigen Worte fand, um das zu beschreiben, was sie fühlte und meinte. Folglich war Rae natürlich auch nicht so ganz überzeugt, von ihren Worten.
"Seltsam? Kann sein, dass sie bisschen müde ist, aber ehrlich? Du findest, sie verhält sich wie ein Freak?", fragte Rae nun beinahe belustigt, was Angel fast die Augen verdrehen ließ. Doch sie wollte keinesfalls einen Streit anfangen, sie wollte Rae einfach nur davon überzeugen, dass mit Mi etwas nicht stimmte.
"Nein, das habe ich doch gar nicht gemeint. Ich finde bloß, dass es so aussieht, als ob es ihr nicht gut gehen würde. Weißt du, als ob sie unter Druck gesetzt worden wäre. Denkst du, es könnte etwas mit ... Lucette zu tun haben?", stotterte Angel, die nun selbst zweifelnd ihre Augenbrauen zusammenzog. Trotzdem war sie froh, dass sie endlich diesen Namen ausgesprochen hatte, auch wenn Rae sie nun wahrlich verdutzt anblickte.
"Lucette Vermont?", fragte sie erstaunt. "Nur weil Mi ihren ersten Universitätstag hinter sich hat, glaubst du gleich, dass sie sich mit Lucette angelegt hat? Das ist doch wirklich zu weit hergeholt. Kannst du dich denn nicht mehr erinnern, wie es war, als wir das erste Mal den TS-Saal betreten haben? Komm schon, gerade du warst bestimmt gestresst, oder etwa nicht?", erkläre Rae überzeugt von ihren eigenen Worten, während sie am Ende leicht auflachte.
"Oh, Tracker, ja, wie ich nervös war. Ich wollte einfach nur im Erdboden verschwinden, mir war das einfach zu viel", lachte nun Angel nervös, während sie sich im Inneren in Wirklichkeit darüber ärgerte, dass Angel sie einfach nicht verstand. Einfach nicht sah, was sie sah.
"Siehst du? Ist doch ganz normal, da braucht nicht gleich irgendeine Verrückte wie Lucette im Spiel sein, nur weil man mal gestresst ist", meinte Rae bekräftigend, worauf Angel nichts Besseres einfiel, als leicht zu nicken.
Eigentlich fühlte sich Angel nun noch viel unwohler, sie war mit den Ausgang dieses Gesprächs nicht wirklich zufrieden. In Wirklichkeit hatte sie vor gehabt, Rae die Augen zu öffnen, war sich allerdings nicht mehr sicher, ob es überhaupt einen Sinn machte. Sie hatte das Gefühl, als ob sie ihr sowieso nie glauben würde, was Angel wagte zu vermuten.
Ein Klingeln unterbrach Angels verärgertes Denken, worauf Rae von ihrem Bett sofort aufschnellte.
"Ich gehe! Das sind bestimmt Mis Sachen", rief sie beinahe hektisch, während sie lächelnd zur Tür lief, als hätte das Gespräch von gerade eben gar nie existiert.
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Mi zupfte an ihrem türkisblauen Oberteil herum, während sie versuchte, über den Boden vor ihr nicht zu stolpern. Sie mochte die Farbe von ihrem neuen Kleidungsstück wirklich sehr, doch es hatte nicht diesen kräftigen, einzigartigen Ausdruck wie die Nuance ihrer Haarsträhnen. Als die drei für Mi Sachen bestellt hatten, hatte sie förmlich nach diesem bestimmten Farbton gesucht, welcher nicht mal einen Namen trug. Die Farbe ihrer außergewöhnlichen Strähnen war wunderschön, im Moment hatte sie sogar das Gefühl, als ob sie ihr Kraft geben würden.
Tatsächlich war Mi gut ausgeschlafen, denn sie hatte weder seltsame Träume von Lucette gehabt, noch war sie geweckt worden. Als sie ganz von selbst erwacht war, hatte sie sich wie neugeboren gefühlt. Sie hatte sich ausgiebig gestreckt und als Krönung hatte Angel auch noch vorgeschlagen, dass Rae und sie ihr das Einkaufzentrum und das Fitnessstudio der IUU zeigen könnten. Enthusiastisch hatte sie ihren Vorschlag bejaht, worauf Angel sie nicht gerade wenig überrascht angegafft hatte. Bestimmt hatte sie sich über ihre gute Laune gewundert, was Mi auch keineswegs überraschte, so wie sie sich heute aufgeführt hatte.
Nun hatten die drei schon eine kleine Shoppingtour hinter sich und waren gerade auf dem Weg zu einem Café, von welchem Rae mehr als nur begeistert war. Außerdem hatte Mi endlich eine gröbere Ahnung, wie groß die IUU nun tatsächlich war. Im Erdgeschoss hatte sie sich noch am besten ausgekannt, da sich hier im vorderen Bereich die Lounge befand und im hinteren Teil, welcher mit dem Vorderen durch den Durchgang verbunden war, sich die ganzen Vorlesungssäle befanden. Im ersten Stock, in welchem sie gerade waren, befand sich außer dem Mädchentrakt eben dieses Shoppingcenter, in welchem Kleider- Drogerie- bis hin zu Möbelgeschäfte zu finden waren. Im zweiten Stock befand sich einerseits der Jungentrakt und andererseits der lange Gang mit den Arenen. Der dritte Stock war etwas kleiner, hier war der Trakt der Angestellten untergebracht, das Fitnessstudio, welches sie lange und ausgiebig benutzt hatten und das Lieblingscafé von Rae, welches laut ihr ein absoluter Geheimtipp war.
"Ich sag's euch, der Latte Macchiato dort ist einfach nicht von dieser Welt!", schwor Rae, während sie den Liftknopf betätigte.
"Okay, Rae, wir haben es verstanden", meinte Angel, die nun ihre Augen verdrehte. Tatsächlich hatte Rae in ihrem Redeschwall diesen Latte Macchiato schon mehrmals erwähnt. Wie gut er wirklich war, würde sich allerdings noch herausstellen.
Die Lifttüre öffnete sich und obwohl sich schon zwei andere Tracer in dem Fahrstuhl befanden, gab es noch mehr als genug Platz, so groß war der Lift. Ohne zu zögern traten die drei in den Lift.
Als die zwei anderen Tracer den Liftknopf für den zweiten Stock betätigten, vergaß Mi augenblicklich den Latte Macchiato. Ihre Gedanken kreisten um die PK-Übung, die ihr eigentlich besser gefallen hatte, als sie sich vorher eingestanden hatte. Die Arenen waren für sie das Spannendste gewesen, was sie bis jetzt erlebt hatte. Fast sehnte sie sich danach, nochmal das Adrenalin in ihrem Blut spüren zu können.
Die Lifttüre schnellte viel zu rasch auf, worauf die beiden ihr fremden Jugendlichen den Lift verließen und in einen der Gänge verschwanden. Mi stellte sich beinahe instinktiv in die Türe, sodass sie sich nicht schließen konnte. Mit großen Augen und einem Lächeln, welches sie erfolglos zu unterdrücken versuchte, blickte sie ihre beiden Zimmernachbarinnen an. Tatsächlich spürte sie Aufregung in sich aufkeimen.
"Mi? Was wird das?", fragte Rae verwirrt, die von Mis Lächeln jedoch seltsamerweise angesteckt wurde. Angel begann zu vermuten, dass sie wohl ein Fan von den Arenen war, denn sie gab nun eine verständnisvolle Erwiderung von sich, worauf sich Mi nicht mehr halten konnte und schließlich anfing zu grinsen.
In kürzester Zeit hatte selbst Rae ihr liebstes Café vergessen, als die drei gerade an dem würfelförmigen Hologramm herum tippten. Die Arenen waren bei Tracern allgemein beliebt, weswegen sie auch die Arena 7 belegten, die etwas weiter im Gang drinnen lag. Die Arenen von 1 bis 6 waren tatsächlich alle besetzt.
"Mi, du kennst bis jetzt nur die Challenges, die in PK sowieso fast immer durchgeführt werden. Allerdings gibt es außer den vorgefertigten Maps und Regeln auch die Möglichkeit, selbst eine zu erstellen", erklärte Angel gerade, die von den dreien am meisten an dem Würfel herum tippte und hin und her wischte.
"Das Lustige an der Sache ist, dass man in der Arena auch einfach gar nichts tun könnte", lachte Rae verschmitzt.
Angel jedoch war auf das blaue Feld konzentriert und ließ sich nicht aus ihrer Gedankenwelt rausbringen.
"Ich schlage vor, wir lassen Mi entscheiden", meinte Angel schließlich, die von dem Hologramm aufsah und Mi anlächelte.
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Der Spawner in welchem sich Mi befand, fuhr an die Oberfläche und ermöglichte den ersten Blick auf die Arena, welche Mi erstellt hatte. Sie war nicht besonders kreativ gewesen, eigentlich war die Arena sehr simpel. Ein durchschnittlicher Wald mit dünnen, hohen Bäumen umgab sie und als sie aus dem Spawner stieg, der ohne ein Geräusch zu produzieren verschwand, erfüllten alle möglichen Waldtiere die Umgebung mit Klängen. Die Luft war kühl und feucht, der Boden von Moos bedeckt und die Atmosphäre einfach wunderbar entspannt. Mi wusste selbst nicht, warum sie sich nach einem einfachen Wald gesehnt hatte, vielleicht war einer der Gründe der, dass sie einen Ausgleich zu der trockenen, roten Wüste am Vormittag in PK brauchte, aber andererseits zog sie dieser Wald einfach auf eine natürliche Art und Weise an.
"Gut und was machen wir jetzt?", fragte eine Stimme, die zu Angel gehören musste. Mis Kopf schnellte in die Richtung, aus der die Stimme gehallt war und Mi erblickte zwei Glaszylinder und die beiden zugehörigen Tracer, die aus ihm gerade herausgestiegen waren.
"Stimmt, eigentlich war das mit dem in-die-Arena-gehen-und-gar-nichts-tun nur ein Witz gewesen", meinte der Ombré-Schopf nachdenklich, aber auch gleichzeitig sarkastisch. Mi ging auf die beiden zu, die sich gerade um ihre eigene Achse drehten und ihr Umfeld begutachteten. Sie war im Moment einfach viel zu gut gelaunt, weswegen sie anfing zu grinsen und spontan antwortete.
"Wir spielen verstecken!"
Angel und Rae betrachteten Mi genauestens, bevor sie feststellten, dass Mi dies wirklich ernst gemeint hatte. Rae war die Erste, die sich aus ihrem verwirrten Zustand wieder gefangen hatte und etwas auf Mis Vorschlag erwiderte.
"Okay", meinte sie, während sie ihr Gesicht zu einer gar-nicht-schlecht Mimik verzog. "Aber du zählst!", rief sie ihr noch nach, da sie sich schon umgedreht hatte und in den Wald hineingelaufen war. Auch Angel zuckte nun ihre Schultern und lief ebenfalls in irgendeine Richtung.
"Dann beginne ich jetzt zu zählen!", rief Mi etwas lauter, damit es die beiden anderen Tracer auch ja hören konnten. Als sie den Waldgeräuschen lauschte und keine Schritte oder sonstige Erwiderungen hören konnte, legte sie langsam ihre Hände auf ihre Augen. Sie unterbrach die friedliche Stille des Waldlebens nur ungern.
"Eins, zwei, drei ...", begann sie laut zu zählen, doch ihre anfangs kräftige Stimme wurde schnell leiser, da es keinen Sinn machte, herumzuschreien. Es war fast so, als ob sie für sich selbst zählte, denn es hörte ja niemand zu.
"Neun, zehn, elf ..."
Langsam nahm sie ihre Hände von ihren Augen, kniff sie jedoch zusammen, da sie an das Licht gar nicht mehr gewohnt war. Das Grün der Pflanzen blendete sie, weswegen sie schützend eine Hand über ihre Stirn hielt.
"Einundzwanzig, zweiundzwanzig ..."
Sie ließ ihre Hand schließlich sinken, da sie keine Verwendung für sie mehr hatte. Ihre Augen hatten sich an das Licht gewöhnt und dennoch drehte sie sich nicht um, ging lediglich langsam einige Schritte rückwärts.
"Neunundzwanzig, drei-"
Übernatürlich stark wurde Mi geschubst und krachte mit voller Wucht in einen Baum. Das Wort wurde ihr so plötzlich abgeschnitten, sie merkte gar nicht, dass sie das Wort nicht zu Ende ausgesprochen hatte. Auch wenn die Knochen eines Tracers so hart waren, wie Diamant, überfiel ein Schwindel ihren Kopf. Die Bewegung hallte in ihrem Gehirn nach. Ließ nicht zu, dass sie reagierte.
"Dreißig", zischte Lucette in ihr Ohr.
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