Kapitel 12
ALS MI IN den noch leeren Saal eintrat, in welchem die Geographie-Vorlesung stattfinden würde, wusste sie endlich wieder, warum sie überhaupt dieses Fach gewählt hatte. Während sie auf dem Weg, beziehungsweise auf der Suche nach dem Vorlesungssaal gewesen war, hatte sie sich wieder in Erinnerung gerufen, wie sehr sie aus der IUU verschwinden wollte und wie müde - sowohl physisch als auch psychisch - sie von den beiden mit anstrengenden Ereignissen vollgestopften Tagen ihres Lebens war. Geographie würde ihr nicht nur verraten, wo sie sich, beziehungsweise die IUU befand, sondern vor allem, wo es zum Leben am besten geeignet war.
Gedankenverloren trat sie über die Treppen, bis zu den hintersten Reihen des eher kleineren Saals und schleppte sich zu einem der rechts liegenden Plätze. Sie ließ sich nieder und seufzte dabei unbeabsichtigt auf. Ihre Hände wanderten zu ihren sich schließenden Augen, welche sie schließlich rieb.
Sie war inzwischen so überanstrengt, dass sie es kaum mehr schaffte, an gewisse Dinge zu denken, welche sie eigentlich beschäftigen sollten. Kurz schwenkten ihre Gedanken ungewollt zur PK-Stunde. Die Challenge war zwar sehr stressig gewesen, hatte ihr jedoch in gewisser Weise auch Spaß gemacht. Trotzdem hatte sie im Moment viel anderes im Kopf und all ihre restliche Energie war letztendlich durch die adrenalinlastige Aktion aus ihr herausgesaugt worden. Die Frage, warum Professor Millstone so seltsam reagiert hatte, wollte sie sich gar nicht mehr stellen. Egal ob sie gut, oder schlecht abgeschnitten hatte - sie würde diese Ergebnisse des Leistungsdurchschnitts einfach so entgegennehmen, wie sie eben waren.
Stimmen, die lauter wurden, ließen Mi ihre Ohren spitzen und in Richtung Tür schauen. Als sie auch noch ein ihr seltsam bekannt vorkommendes Kichern vernahm, erschauderte sie. Lucette und ihre so genannten Freunde, traten durch die Tür und steuerten Plätze in einer der vorderen Reihen an. Sie lachten sarkastisch und zugleich teuflisch. Obwohl man die Lautstärke mehr oder weniger als normal bezeichnen konnte, kam es Mi dennoch laut vor, da die Stille so plötzlich durchbrochen worden war. Die ruhige Leere in ihrem Kopf, die sie mehr als genossen hatte, war nun wieder bis zum Rand gefüllt mit Gedanken und Eindrücken.
Lucette drehte sich langsam zu Mi und sah sie lange und eindringlich an, worauf sie ein mulmiges Gefühl im Bauch verspürte. Sie sah streng zurück und forschte in ihrem Blick nach etwas Sinnvollem nach, war jedoch restlos überfordert. Schließlich drehte sich ihre Zeichnerin ganz plötzlich weg von Mi, zur Tür. Scheinbar gab es dort etwas Interessanteres zu sehen, weswegen Mi ihrem Blick auch folgte.
Durch den Türrahmen schritt gerade die schwarzhaarige Brillenträgerin, die mit schnellen, leisen Schritten durch den Saal huschte und einen Platz aufsuchte, in einer der vielen leeren Reihen. Nun saß sie zwei Reihen hinter der Gruppe und etwa 4 Reihen vor Mi. Ihr Blick war durchgehend gesenkt und ihre Miene angespannt. Mi folgerte daraus, dass ihr offensichtliches Unwohlsein etwas mit Lucette zu tun haben könnte. Diese sah sie spöttisch an, ein ungezogenes Lächeln umspielte ihre Lippen und wurde von Sekunde zu Sekunde teuflischer.
Noch bevor Lucette etwas hätte sagen können, trat auch schon der Professor für Geographie in den Saal ein. Mi war sich sicher, dass Lucette eigentlich etwas hatte sagen wollte, da sich die Frage in ihrem Gesicht schon beinahe widergespiegelt hatte. Doch nun würde sie nie erfahren, was sie Ayame gesagt hätte.
Mi drückte ihre Hand gegen die Tischplatte, sog die Luft ein und versuchte sich auf die Vorlesung zu konzentrieren. Die Informationen in Geographie waren dennoch alles andere als unwichtig für ihr Vorhaben.
Im Laufe der Vorlesung war Mi von dem Vortrag mehr als nur verblüfft worden. Die IUU war an gar keinem Ort wie die Erde oder sonst einem Planeten unseres Sonnensystems gebunden.
"Die 'International University for Unique' ist überall, aber auch gleichzeitig nirgendwo", erklärte der Vorlesende. "Sie befindet sich in einem Zwischenraum, einer Art Spalt, sozusagen. In diesem winzigen Spalt ist ein Raum und dieser wurde mit der IUU ausgefüllt."
Wie bitte? Und wie konnte man dann auf die Erde gelangen? Mi presste ihr Kiefer fest aufeinander und zwang ihre Hand dazu, unten zu bleiben. Alles was sie wollte, war zu wissen, was das jetzt bedeutete, doch sie konnte nicht. Durfte nicht. Die Tracker würden sonst Verdacht schöpfen.
Ihre unterdrückten Gedanken schoben sich wieder in ihr Gedächtnis, der Drang nach draußen, nach Freiheit. Mi blendete den Vortrag plötzlich aus und ihre Augen blinzelten wie von selbst zu Lucette. Der Gedanke an Flucht verband sich mit Lucette' Erscheinen, fast automatisch kreisten ihre Gedanken nun wieder um ihr Angebot.
Den Rest der Vorlesung konnte sie den verlockenden Gedanken nach Flucht einfach nicht mehr verdrängen, weswegen sie außer dem Thema mit dem Zwischenraum, in welchem sich die IUU befand, nicht mehr viel mitbekam. Obwohl sich ihr Kopf beim Thema 'Erde' zuerst leer gefegt angefüllt hatte, traten nach und nach einige grundlegende Informationen wieder in ihr Gedächtnis. Aber das war auch schon das einzig Sinnvolle gewesen, was sie aus der Vorlesung noch mitnehmen konnte.
Nachdem sie beendet wurde, ignorierte Mi einfach die sechs Leute, welche sich außer ihr auch noch in dem Raum befanden. Vor allem Lucette verhielt sich wieder seltsam gegenüber Ayame, die verkrampft versuchte, Lucette' Blicke zu ignorieren, doch die Blonde mit den blauen Strähnchen presste einfach ihre Lippen aufeinander und verließ den Saal in schnellen Schritten. Während sie Richtung Lounge spazierte, widmete sie ihre Aufmerksamkeit ihrem Handy, da sich nun der Gedanke an ihre beiden Zimmernachbarinnen, welche sie in der letzten Stunde vernachlässigt hatte, endlich durchgesetzte. Tatsächlich hatte sie fünf Anrufe; drei von Rae und zwei von Angel. Was die beiden jetzt wohl dachten, schließlich war sie seit PK einfach verschwunden gewesen.
Dieser Gedanke trieb sie voran, weswegen sie auch relativ schnell wieder Angel und Rae auf ihren Lieblingsplätzen gefunden hatte und sich auf einem Sitz niedergelassen hatte.
"Mi? Wo warst du denn nach PK? Vor allem, was für Vorlesungen hast du denn besucht, da haben wir dich auch nicht ausmachen können", warf ihr Rae sofort vor. Ihr heller Zopf wirbelte hin und her, ohne auch nur um ein Haar unordentlicher zu werden. Angel schob sich gerade eine Gabel ihres curryartigen Gerichts in ihren Mund, nickte jedoch bekräftigend.
Obwohl Mi wirklich müde war und diese scharfen, nach der Wahrheit drängenden Fragen sie einfach nur unwohl fühlen ließen, raffte sie sich dazu auf, eine glaubhafte Antwort zu liefern. Ihre graublauen Augen hoben sich an und blickten Rae und Angel ruhig an.
"Dass ich nach PK so plötzlich verschwunden bin, tut mir echt leid, aber Professor Millstone hatte mir schon etwas früher freigegeben, da ich ja noch neu bin und alles. Ich wollte in der ersten Vorlesung wirklich in eine kommen, in der ich euch antreffen würde, aber Professor Pond hat mich zu ihr ins Büro bestellt um zu fragen, wie ich zurechtkam und so weiter. Bei der zweiten Vorlesung war ich in die für Geographie gegangen, da mich dieses Thema wirklich interessiert. Stellt euch vor, Ayame Sato und Lucette Vermont waren auch dort!"
Geschickt wechselte sie das Thema, worauf die Beiden, die während Mis Aufklärung die ganze Zeit über verständnisvoll genickt hatten, sofort ansprachen. Rae blickte Mi sofort geschockt an.
"Ayame und Lucette? Ich sag's dir, die beiden sind die absolut schrägsten Tracer in der IUU", erzählte sie Mi, während sie sich zu ihr vorgebeugt hatte.
"Wenn man vom Teufel spricht", fügte Angel leise hinzu, ihre Lippen bewegten sich kaum. In Mis Bauch machte sich augenblicklich wieder dieses seltsame Gefühl breit, ein Gefühl der Sehnsucht und des schlechten Gewissens.
Mi musste an die seltsame Tatsache denken, dass sie hier raus wollte, dies aber eigentlich nicht wollen sollte, da es gegen das Verhalten der Tracer sprach. Lucette wusste einen Weg nach draußen, nein, den sagenumwobenen Ausgang aus der IUU. Ihr war egal, ob sie jemanden zur Strecke gebracht hatte, sie sehnte sich einfach nach der unendlichen Weite dort draußen, außerhalb der IUU.
Gab es denn irgendeinen Weg, Lucette' Erpressungen zu umgehen? Schließlich war alles, was sie brauchte schlicht und einfach eine Information, welche sich im Gehirn der mageren Schwarzhaarigen mit den blutroten Strähnen befand. Verzweifelt durchkämmte Mi ihren Verstand nach Ideen und Lösungen für all diese Probleme. Als sie sich durch ihre Haare fuhr und nervös auf die Seite zu Lucette sah, blickte Angel wieder auf. Etwas zu schnell und hektisch lächelte sie den klugen Tracer an und versuchte zuversichtlich zu wirken. Auch wenn ihre Augen kein bisschen mit lächelten, nahm Angel die Geste zu Kenntnis.
Plötzlich kam Mi eine Idee, die ihren Kopf auffüllte und ihn gleichzeitig zum hoffnungsbedingten Heben brachte. Die Verbindung - sie hatte ihr bereits eine wichtige Information vermittelt. Wenn sie sie kontrollieren konnte, war sie doch theoretisch im Stande, alle Informationen zu erhalten. Die Frage war bloß, wie man sie kontrollieren konnte, oder ob es überhaupt möglich war.
Mi biss sich auf die Lippen und überlegte, wie sie das herausfinden konnte. Mit aller Kraft versuchte sie irgendwas zu erreichen. Lucette' Körper und Kopf war in Mis Gedächtnis und füllte ihn zur Gänze aus. Sie konzentrierte sich, wie sie es den ganzen Tag noch nicht gemacht hatte, was etwas heißen mochte. Sie stellte sich alles haargenau vor und versuchte sich krampfhaft vorzustellen, wie sie diese Person war. Wie sie Lucette Vermont war. Wie ihr die roten Strähnen in ihr Gesicht fielen und sie diese mit ihren Händen nach hinten strich.
Es brachte nichts, rein gar nichts. Verzweifelt versuchte sie es wieder und wieder, kniff einmal sogar ihre Augenlider fest aufeinander, wodurch sie bestimmt schräge Blicke geerntet hätte, wären ihre beiden Zimmernachbarinnen nicht so konzentriert auf ihr Essen gewesen. Als ihr dies klar wurde, hörte sie gänzlich auf und stellte sich der Wahrheit. Sie konnte die Verbindung nicht willentlich steuern, keine Chance.
Sie wäre sowieso von einer der Angestellten unterbrochen worden, da nun auch ihr Essen gebracht wurde, welches sie noch bevor sie in die Lounge eingetroffen war per Smartphone bestellt hatte. Appetit hatte sie kaum, zwang sich jedoch das Tikka Masala mehr oder weniger vollständig zu essen.
Die gesättigten Tracer begaben sich in ihr Zimmer, wobei sich Mi einfach nur noch frustriert auf ihr Bett fallen ließ und beinahe augenblicklich eingeschlafen war. Dabei bekam sie auch nicht im geringsten mit, wie Angel mit Rae über sie diskutierte und ihr Verhalten hinterfragte.
Nun hatte sich in Angel etwas grundlegend verändert, möglicherweise war ihr eine Art Licht aufgegangen. Doch dieses Ereignis, dieser Widerspruch in der Psychologie der Tracer, war bereits der Achte, welcher sich in einem Kopf eines noch nicht ausgereiften Jugendlichen der Rasse der Tracker gebildet hatte.
Eine der vielen Anomalien der Rasse Tracker hatte begonnen, sich auszubreiten.
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