35 - scotch blend
Thomas
Ich wollte nicht runter zum Abendessen. Ich hatte den gesamten Tag noch nichts gegessen. Zu sehr lag mir das mit meinem Vater im Magen. Wieso hatte er sich jetzt wieder 'gemeldet? Und vor allem wie? Ich mein' es war ja nicht normal, dass plötzlich jemand in meinem Kopf mit mir reden konnte. Ich begann wieder über meine Familie nachzudenken: Was wohl mit Ava war, wie es ihr ging. Was mit meiner Mutter war, ob sie wieder einen Mann gefunden hatte, ob es ihr gut ging, ob sie... Ich schluckte. Ob sie noch lebte.
Irgendwann seufzte ich auf, entschloss mich dazu, zu duschen, weil ich keine Ahnung hatte, was ich tun sollte, aber ich brauchte unbedingt Ablenkung. Ich begann mir die Hose vom Leib zu streifen, versank erneut in Gedanken während ich mich auszog. Die letzten Tage hatten wir ja immer frei. Die anderen hatten sich in der Zeit bestimmt mächtig amüsiert. KiHong und Kaya werden ein wenig die Zweisamkeit genossen oder mit Dexter, Will und Jacob Zeit verbracht haben. Die beiden waren schon echt ein nettes Paar. Was Rosa in letzter Zeit gemacht hatte, konnte ich mir ja schon vorstellen. Ich schluckte erneut schwer, zog mir mein Shirt über den Kopf und stellte mich unter die Dusche.
Ich trat aus der Duschkabine, schnappte mir ein Handtuch, band es mir um. Ich sah in den Spiegel über dem Waschbecken. Meine Haare waren noch tropfnass und trieften förmlich. Die Tropfen landeten in meinem Gesicht, das einen ernsten Ausdruck spiegelte und würden sich schon bald mit Tränen vermischen, da meine Augen wieder anfingen diese zu bilden. Ich schüttelte schnell den Kopf, blinzelte die Tränen weg. Ich wollte nicht weinen. Nicht wegen Dylan, nicht wegen meinem Vater, nicht wegen meiner Mutter, wegen nichts. Ich wollte nicht aufgeben. Ich begann mich an KiHongs Bitte vor ein paar Tagen zu erinnern: "Thomas, bitte sag mir, dass du weiterhin niemals aufgibst!" Ich musste milde, aber traurig lächeln, als ich daran dachte. 'weiterhin'. Also dachte er, ich wäre niemals schwach gewesen, niemals am Boden und niemals kaputt? Oder dachte er ich wäre all das gewesen, aber immer wieder stark geworden, aufgestanden und hätte mich selbst wieder zusammen geklebt? Wäre ich niemals schwach gewesen, hätte ich nicht angefangen den Dreck mit den Drogen meinem Vater gleich zutun. Wäre ich niemals am Boden gewesen, hätte ich nicht wieder aufstehen und meine Ziele verfolgen können, weil ich dann niemals gewusst hätte, was es hieß, kaputt zu sein und wie ein Scherbenhaufen am Boden zu liegen. Was es hieß, das Beste aus allem zu machen. Dann hätte ich es niemals geschafft, die ganzen Scherben aus dem Splitterhaufen zu nehmen, zwischen jede kleine Lücke meine Kraft zu setzten, um das alles zusammen zu halten und immer höher zu bauen. Und ich hätte es auch niemals geschafft, die ganzen Scherben, Splitter und Bruchteile so hoch zu kleben, dass sie mich dorthin tragen konnten, wo ich jetzt gerade stand. Vor dem Spiegel und wieder kurz davor, die ganzen kaputten Teile, in sich zusammen fallen zu lassen, weil die Kraft, die ihre Lücken füllte und sie zusammen hielt, fehlte wie damals, als sie entstanden. Ein Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken und ließ mich aufseufzen. Ich wendete den Blick vom Spiegel ab, verließ das Bad, machte mich auf dem Weg zu meinem Bett, auf dem mein Handy lag. Ich schaltete es ein, sah zuerst auf die Uhr '11:42 pm'. War es wirklich schon so spät?! Wie lange war ich denn bitte im Bad? Mein Blick wanderte zu der eigentlichen Benachrichtigung, die von Kaya kam. Ich entsperrte mein Handy, klickte die Nachricht an.
'Hey Tom, wir haben morgen nochmal frei, im Kino in das wir morgen sollten, gibt es ein paar Probleme.'
'Okay. Danke für's Bescheidgeben.', antwortete ich.
'Kein Problem. Wir haben dich heute echt vermisst, was war denn los?' Ich seufzte, antwortete mit einem trockenen: 'Egal, will nicht drüber reden.' Und schaltete mein Smartphone aus. Ich entschied mich dazu, mich anzuziehen und frische Luft schnappen zu gehen. Das war jetzt genau das, was ich brauchte.
Ich hatte mir eine lässige Jogginghose, meine schwarzen Sneaker, ein weißes Shirt und meine Jacke geschnappt und hatte mich auf die Straße begeben. Ohne Ziel verfolgte ich den Bürgersteig, einfach immer drauf los. Mal bog ich dort ab, mal hier, dann wieder dort. Ich hatte meine Hände in meinen Hosentaschen, atmete ruhig und gleichmäßig, konnte meinen Atem in gasförmigem Zustand zusehen, wie er in der klaren, kühlen Nachtluft verschwand. Ich versuchte nicht allzu viel nachzudenken. Was aber auch nicht sonderlich schwer war, weil mein Kopf momentan fast restlos leer war. Irgendwann hielt ich an und fragte mich, wo ich überhaupt war. Ich sah mich um, bemerkte erst jetzt, dass ich eigentlich gar keine Ahnung gehabt hatte, wo ich lang gelaufen war. Ich seufzte kurz, ging dann wieder weiter. Irgendwie würde ich ja doch wieder zurück finden. Nach einer Weile stand ich vor einer Bar, die allem Anschein nach, noch offen hatte und entschied mich, ihr mal einen Besuch abzustatten. Ein wenig Betäubung durch Alkohol konnte grade echt nicht schaden. Ich atmete noch einmal tief aus, öffnete dann die Tür. Sofort stieg mir der Geruch von Bier, Rauch und Schnaps in die Nase, der mir so vertraut war. Es war aber auch noch ein anderer, bekannter Geruch dabei. Woher ich ihn kannte, wollte mir nicht einfallen, aber ich fühlte mich sofort seltsam zu Hause. Besonders viel los war nicht. Es war mehr eine Kneipe, als eine edle Bar. An einem Stammtisch wurden Kippen geraucht und Karten gespielt. An der Bar auf einem Hocker saß ein junger Mann, der ungefähr in meinem Alter sein musste, vor einem leeren Glas und hinter dem Tresen stand ein mürrisch wirkender, etwas breiterer Kellner, in blauem Shirt und weißer Schürze, der mich schlecht gelaunt musterte, während er ein Bierglas polierte. Ich setzte mich neben den Mann an der Bar und seufzte kurz. Der vertraute Geruch, den ich nicht wirklich identifizieren konnte, stieg mir wieder in die Nase und hinterließ eine kleine Gänsehaut auf meinem Rücken. Ich lehnte meine Arme leicht verschränkt auf den Tresen und überlegte was ich wohl trinken sollte. Der Kellner schien sich nicht sonderlich für mich zu interessieren, stand nur da und polierte weiter Gläser. Der junge Mann neben mir schien mich aus dem Augenwinkel zu beobachten, dann leicht zu grinsen. Ich vernahm ein Räuspern aus der Richtung, wollte mich der Person aber nicht zuwenden. Kurz darauf hörte ich ihn bei dem Kellner bestellen: "Zwei Whisky- Scotch Blend bitte." Während er bestellte, wechselte sein Zeigefinger zwischen mir und ihm, als Andeutung für den Kellner, dass er sie vor mich und ihn stellen sollte. Ich war wie gelähmt. Die Stimme, die eben bestellt hatte, kannte ich nur allzu gut. Und was die Stimme bestellt hatte, eben so gut. Scotch Blend hatte ich das erste Mal mit jemandem getrunken, mit dem ich heute Abend, hier und jetzt, niemals gerechnet hätte. Scotch Blend war quasi unser 'Stammgetränk' geworden. Jedes Mal wenn wir trinken waren, hatte er mir einen ausgegeben. "Du trinkst das doch noch oder Tommy?", fragte Dylan, als uns der Whisky hingestellt wurde.
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