20 Kleine und große Mädchen

Doch so ruhig, wie der letzte Tag endete beginnt der nächste nicht. Schon als ich aus dem Badezimmer trete klingelt mein Handy Sturm. Und als ich es zur Hand nehme, sehe ich, das Mara mich schon zwei Mal angerufen hat und auch eine Nachricht von ihr eingegangen ist.

Da ich jedoch zu langsam war rufe ich sie zurück, wobei mich ein leichtes Unbehagen beschleicht. Wenn sie mich so früh am Tag anruft muss irgendwas passiert sein!

"Ian?! Gott sei Dank erreiche ich dich doch noch! Ich hatte schon befürchtet, ich bin zu spät!", empfängt mich Maras Stimme, kaum, dass sie abnimmt. Sie klingt wirklich erleichtert.

"Was ist denn passiert? Ist bei euch alles in Ordnung?", will ich besorgt wissen, doch beruhigt sie mich augenblicklich.

"Ja. Es ist alles gut. Nur...", sie stockt kurz, dann seufzt sie, bevor sie weiter spricht, "...ich brauche jemanden, der heute Nachmittag auf Charlie aufpasst. Ich habe einen Termin beim Arzt und möchte sie nur ungern mitnehmen.", erklärt sie mir ihr Problem.

"Was ist denn mit Pascal? Kann er nicht auf sie aufpassen?", frage ich unbehaglich.

"Er muss kurzfristig für einen Kollegen einspringen und Mia ist auch nicht da. Außerdem kann sie Charlie mit den Gehstützen ja auch nicht tragen. Du würdest mir einen wirklich großen Gefallen tun Ian."

"Wann denn? Bis um zwei bin ich noch in der Uni aber danach könnte ich kommen.", frage ich nach. Da Mia nicht da ist, spricht ja nichts dagegen. Auch wenn ich mir sicher bin, das ich nicht wissen will, wo sie ist. Seufzend fahre ich mir durch die noch feuchten Haare und gehe hinüber in mein Schlafzimmer.

"Das passt super! Mein Termin ist um drei. Wenn du bis um halb drei hier sein kannst, wäre das perfekt.", sagt sie erfreut und ich spüre förmlich die Erleichterung, die in ihrer Stimme mitschwingt. Und so kann ich gar nicht anders, als zuzusagen.

"Gut. Dann komme ich direkt nach der Uni zu euch."

"Du bist ein Schatz, Ian! Bis nachher dann!", beendet sie deutlich fröhlicher unser Telefonat, doch mich treibt es geradewegs in einen Zwiespalt. Mia ist nicht da. Gut? Schlecht? Ich weiß es nicht. Ich wollte sie abschreiben. Doch obwohl der Schmerz langsam etwas nachlässt, kann ich nicht verleugnen, dass es nicht noch immer weh tut, wenn ich an sie denke. An sie und Mike. Und daran, dass sie das erste Mädchen war, dass mir so viel bedeutete.

Nein! Eilig schiebe ich diesen Gedanken beiseite. Das zwischen uns ist Geschichte. Ich muss die Sache abhaken. Kann nicht ewig hinter ihr her trauern. So ist das nun mal. Sie will mich nicht. Das muss ich Akzeptiren! Punkt!

Angespannt schiebe ich die Gedanken an sie beiseite und konzentriere mich auf mein nächstes Ziel. Uni. Und tatsächlich gelingt es mir, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, bis es schließlich zwei ist. Kiran war heute nicht da. Warum? Das konnten mir auch Liandra und Ricardo nicht beantworten, dabei hat Liandra versucht ihn zu erreichen. Erfolglos.

"Wenn er das auch in den letzten Semestern so gemacht hat, verstehe ich warum er immer durchfällt." Sie verdreht die Augen, doch als sie mich später fragt, ob ich sie mit in die Uni nehmen kann, muss ich sie leider vertrösten.

"Tut mir leid. Ich muss erst Montag wieder hin."

"Kannst du uns nicht trotzdem fahren? Ist ja nicht so weit.", verführerisch blinzelt sie mir zu, bevor sie Rico einen auffordernden Blick zuwirft, der wohl so viel heißt, wie: "Los! Jetzt hilf mir doch mal!", doch muss ich sie leider Enttäuschen.

"Ich habe einer Freundin versprochen als Babysitter einzuspringen Liandra. Tut mir wirklich leid. Sonst würde ich euch fahren."

"DU?!", mit großen Augen sieht die dunkelhäutige mich an, wobei ihre Augenbrauen gefährlich weit nach Oben wandern, "Du und Babysitten?!"

"Ja? Darf ich das nicht?", frage ich belustigt und greife nach meiner Tasche. Einträchtig machen wir uns auf den Weg nach draußen, wobei Ricardo mir Liandras Verwunderung erklärt. Also, nicht, das mir das nicht auch ohne seine Übersetzung klar gewesen wäre, aber so ist er halt.

"Sie kann sich nur nicht vorstellen, dass du auf ein Baby aufpassen kannst.", mischt er sich ein und erntet von Liandra ein zustimmendes: "Du und Kinder? Das passt doch nicht!"

"Ach? Und warum nicht?", will ich erstaunt, aber nicht verärgert wissen, bevor ich achselzuckend hinzufüge, "Ich mag Kinder."

"Dann solltest du mal bei mir auf der Kinderstation vorbeikommen. Da gibt es eine ganze Menge davon.", sagt sie scherzend und zwinkert mir zu, weshalb ich nur schief zu Grinsen beginne.

"Vielleicht mache ich das sogar mal. Aber für heute reicht mir dieser eine Zwerg."

Inzwischen sind wir an meinem Auto angekommen, wo ich meine Tasche auf den Beifahrersitz schmeiße und mich von den Beiden verabschiede, die sich gemeinsam Richtung Bushaltestelle aufmachen.

"Bis Montag!", ruft Liandra mir noch zu, "Und viel Spaß mit der Kleinen!"

Wortlos winke ich ihnen zu und fahre schließlich los. Mit gemischten Gefühlen. Ich freue mich Charlie mal wieder zu sehen. Viel zu lange ist es inzwischen wieder her, dass ich bei ihr war. Dabei sind es gerade mal ein paar Tage. Zwei um genau zu sein, doch kommt es mir viel länger vor. Was vielleicht damit zu tun hat, dass mir die Tage so viel länger vorkommen.

Bisher zehrten die Angst und die Hoffnung an mir, ich könnte Mia auf der Station begegnen, dabei hatte ich in der letzten Woche wieder Dienst auf der Entbindungsstation. Trotzdem bestand ja noch die Möglichkeit Mia über den Weg zu laufen. Und genau das war es, was mich fertig machte. Ich wollte sie ja sehen und doch hatte ich genau davor Angst.

Eine Angst, die jetzt auch da war, dabei wusste ich, dass sie nicht im Haus sein würde. Ich klingelte nicht, sondern schob leise die Tür auf, die nur angelehnt war.

"Hey!", begrüßt Mara mich erfreut. Sie ist schon fertig angezogen und greift sich jetzt nur schnell ihre Handtasche, nachdem sie mich flüchtig in den Arm genommen hat.

"Schläft Charlie noch?", frage ich nach und Mara nickt.

"Sie müsste aber bald aufwachen. Wenn nicht, weck sie bitte spätestens um halb vier, sonst schläft sie heute Nacht nicht. Und ihr Essen steht im Schrank. Du kannst ihr ein Obstgläschen geben oder eine Banane musen. Die mag sie in letzter Zeit so gerne oder..."

"Mara.", tadele ich sie belustigt, "Ich kenne mich aus. Also geh du zu deinem Termin und ich mach es mir hier mit Charlie gemütlich. Was machen eigentlich die Zähne? Noch immer so schlimm?"

"Nein. Seit zwei Tagen ist es besser mit ihr.", sie verstummt. Wirft einen lauschenden Blick zur Treppe, bevor sie mich seufzend anlächelt, "Danke, das du einspringst, Ian. Ich weiß ja, wie schwer es dir im Moment fällt hier zu sein."

"Ist schon gut. Und jetzt zisch ab. Wir packen das schon.", scheuche ich sie fort, bevor sie noch mehr in dieser Richtung sagen kann. Sie Lächelt mich noch mal warmherzig an und ist dann fort. Ich gehe ins Wohnzimmer, wo das Babyfon auf dem Tisch steht. Wie immer. Es rührt sich nicht und so setze ich mich auf die Couch und hole mein Anatomielehrbuch aus der Tasche um mir die Zeit zu vertreiben. Doch bin ich noch nicht weit gekommen, als ich aus dem Obergeschoss ein Geräusch vernehme.

Ein sanftes Lächeln tritt auf mein Gesicht, als ich mein Buch zuklappe und darauf warte, dass das Überwachungsgerät mir Charlies Stimme offenbart, doch bleibt alles Still. Anders als die Laute, die sich der Treppe zu nähern scheinen. Verwundert stehe ich auf. Gehe in den Flur und bleibe erstaunt stehen, als ich Mia auf der Treppe erblicke.

"Was machst du denn hier?", fragen wir zeitgleich und verfallen dann in Schweigen.

"Ich wohne hier.", erkläre sie mir mit gerunzelter Stirn, während ich ebenso sage: "Ich passe auf Charlie auf." Wir sehen uns an. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Hat Mara mich angelogen, als sie gesagt hat, dass Mia nicht da sein würde? Oder ist Mia gerade erst auf dem Weg zu gehen? Danach aussehen tut sie allerdings nicht, als sie sich jetzt wieder in Bewegung setzt. Langsam, eine Krücke unter dem Arm, auf mich zugehumpelt kommt. In Jogginghosen und Top. Doch geht es jetzt schon deutlich besser als noch vor eineinhalb Wochen.

"Darf ich mal vorbei?", will sie wissen und sieht mich fragend an. Sie steht auf der untersten Stufe, direkt vor mir, wobei ich die Hand auf dem Geländer liegen habe.

Ich spüre die Sehnsucht, die mich so ungebeten überkommt und schiebe sie schnell in den hintersten Winkel meiner Brust zurück von wo sie gekommen ist. Mein wild schlagendes Herz kann ich hingegen nur schwer besänftigen. Versuche es dennoch und ziehe meinen Fuß zurück, um ihr den Weg freizumachen.

"Sicher.", sage ich lahm und werfe der Treppe einen hilflosen Blick zu. Mir wäre es gerade nicht unrecht, wenn Charlie in genau diesem Moment nach mir rufen würde, leider bleibt es jedoch still. Und so folge ich Mia mit Blicken hinüber ins Wohnzimmer, von wo aus sie weiter in die Küche humpelt.

"Willst du was trinken?", ruft sie mir zu und stürzt mich damit nur noch tiefer in Verwunderung. Sie scheint so entspannt zu sein und klingt sogar so, als wäre es ihr recht, das ich hier wäre. Und sie scheint sich auch nicht zu fragen, was ich hier zu suchen habe. Was vielleicht auch damit zu tun hat, dass ich es ihr gerade gesagt habe.

"Ian?! Möchtest du etwas trinken?", ihr Kopf taucht wieder in der Tür auf und sie sieht mich abwartend an. Eilig reiße ich mich aus meiner Starre und gehe ihr nach.

"Nur ein Wasser. Danke.", sage ich verwirrt und nehme ihr die kleine Flasche ab, die sie mir hinhält. Dann sehe ich ihr zu, wie sie unsicher auf der Stelle balancierend beginnt einen Kaffee aufzusetzen.

"Brauchst du Hilfe?", biete ich ihr schließlich an, wobei ich versuche sie nicht zu sehnsüchtig anzustarren. Immer wieder frage ich mich, was sie hier tut und warum sie nicht geht. Warum sie einen Kaffee aufsetzt, obwohl sie doch eigentlich gar nicht hier sein sollte.

"Nein. Danke. Ich schaff das schon.", lehnt sie meine Hilfe ab und so lehne ich mich schließlich an den kleinen Tresen, der das Wohnzimmer von der Küche trennt und sehe ihr zu, wie sie Kaffeepulver in den Filter gibt.

"Das mit dem Stehen geht ja schon gut.", breche ich schließlich die Stille, was mir von ihr ein erfreutes Lächeln einbringt.

"Ja. Es klappt jeden Tag besser. Und Brian meint, dass, wenn ich viel übe, ich die Krücken in einem halben Jahr oder so gar nicht mehr brauche!", freut sie sich sichtlich. Sie wendet ihre Aufmerksamkeit von der Kaffeemaschine ab und mir zu. Sieht mich so voller Freude an, dass mir das Herz aufgeht. Und es mir schwer fällt, sie nicht in den Arm zu nehmen.

"Klingt toll!", versichere ich ihr ehrlich, mit belegter Stimme, bevor ich mich von ihr abwende und ins Wohnzimmer zurückgehe, wo ich mich dem Babyfon zuwende. So tue, als hätte ich etwas gehört. Was natürlich nicht der Fall war, doch weiß ich einfach nicht, worüber ich mit ihr reden soll. Außerdem weiß ich nicht, was ich von ihrer Anwesenheit erwarte. Oder zu erwarten habe. Ich will einfach nicht von Dingen anfangen, die vor ihrem Unfall passiert sind, oder von den Dingen, die am vorletzten Wochenende, meinen Sonntag in einen Trauertag verwandelt haben. Sie scheint damit jedoch keine Probleme zu haben. Ich spüre, wie sie hinter mir vorbeihumpelt, bevor sie sich auf das Sofa fallen lässt.

"Dieses Mädchen, mit dem du letzten Sonntag getanzt hast. Sie scheint nett zu sein.", sagt sie während sie ihre Krücken am Sofa drapiert, "Kennt ihr euch schon lange?"

"Bella? Nein. Erst seit dem ich dort wohne. Sie ist meine Nachbarin.", sage ich lahm und lasse mich langsam auf einen Stuhl am Tisch sinken. Mustere Mia eingehend, während ich mich frage, was ihr wohl durch den Kopf geht. Auch frage ich mich, was sie mit ihrer so plötzlichen Freundlichkeit eigentlich bezweckt.

"Magst du sie?", will Mia wissen, was mir einen Stich verpasst. Was soll diese Fragerei? Sie weiß doch ganz genau, WEN ich mag! Meine Laune sinkt. Langsam zwar, aber ich spüre, wie es mir immer schwerer fällt meinen Blick nicht zu dunkel werden zu lassen.

"Sie ist nett. Also ja.", beginne ich abgehakt, weshalb sie meinem Blick ausweicht. Eingehend ihre Fingernägel betrachtet, die in einem grellen rot leuchten.

"Sie kann wirklich gut tanzen.", fährt sie fort, bevor sie hinzufügt, "Ich würde auch gerne so tanzen wie sie. Die Jungs haben sie alle angestarrt. Vor allem dieser...wie hieß er noch? Kim? Cris? Na...dieser Mann, der mich die Treppe raufgetragen hat.", sagt sie mit vor Anstrengung gerunzelter Stirn, weshalb ich ihr verstimmt auf die Sprünge helfe.

"Was? Kiran?", frage ich nach, "Und wenn schon. Soll er doch." Aber bei ihren Worten fällt es mir schwer, ihr nicht zu sagen, dass sie früher auch so getanzt hat. Sogar noch viel besser. Und das ich mir wünschen würde wieder so mit ihr zu tanzen. Mein Herz macht einen Satz, als ich sie vor mir sehe. Ihren schlanken Körper. Vom Alkohol berauscht. Sich rhythmisch hin und her bewegend. Ihren warmen Rücken dicht an meine Brust geschmiegt. Damals im Wald an ihrem Geburtstag. Doch während diese Bilder durch meinen Kopf ziehen und mir ein verträumtes Lächeln auf die Lippen legt, bekomme ich ihre nächste Frage kaum mit.

"Hat er eine Freundin?"

Verwirrt runzele ich die Stirn. Sehe sie irritiert an. "Warum?", frage ich schließlich, "Willst du was von ihm?", ich klinge beinahe hoffnungsvoll. Nicht, weil Mia sich für ihn interessiert, sondern weil, wenn sie sich für Kiran interessiert, sie sich nicht für Mike interessiert. Und das wäre mir allemal Lieber! Dass sie sich dann zwar auch nicht für mich interessiert, darüber denke ich jetzt mal lieber nicht nach, doch schüttelt sie grinsend den Kopf, was mich erleichtert aufatmen lässt.

"Nein!", stößt sie Lachend aus, "Aber da war ein Mädchen, das mich danach gefragt hat."

"Ach so? Wer denn?", frage ich erleichtert. Zumindest ein wenig.

"Ich weiß nicht wie sie hieß. Nur, dass sie rote Haare hatte und grüne Augen. Sie war etwas rundlich um die Taille und hatte eine schwarze Jeans an.", zählt sie auf, doch kenne ich das Mädchen nicht, von dem sie spricht. Ratlos zucke ich mit den Schultern.

"Ich weiß nicht, wen du meinst. Es waren viele da, die ich nicht kannte. Kiran hat Freunde angeschleppt. Und die Freunde haben wieder Freunde angeschleppt. Wie das halt so ist.", erkläre ich gleichgültig. Drehe den Deckel meiner Wasserflasche auf und nehme einen Schluck. Dann einen weiteren, wobei ich nicht versuche sie anzusehen. Eine Frage brennt mir aber doch auf der Seele. Bevor ich jedoch dazu komme diese mehr als dämliche Frage zu stellen, erwacht das Babyfon zum Leben. Und so schlucke ich meine Frage, ob sie denn einen Freund hat herunter und stehe auf. Zumal ich die Antwort vermutlich eh nicht hören will!

Die Flasche stelle ich auf den Tisch und wende mich dem Ausgang zu.

"Ich hol mal die Maus aus dem Bett.", sage ich erleichtert von hier fort zu kommen und bekomme nur am Rande mit, wie Mia: "Mach das.", sagt.

Mit jedem Schritt, mit dem ich mich von ihr entferne, wird mir leichter ums Herz. Und als ich in Charlies abgedunkeltes Zimmer komme geht mir das Herz auf, als die kleine mich mit strahlenden Augen anhimmelt.

"Hey!", grüße ich sie mit weicher, leiser Stimme und trete zu ihr ans Bett, "Na mein Engel, gut geschlafen?"

Fröhlich strampelt sie mit den Beinen in der Luft herum und gibt gurrende Laute von sich, allerdings weht mir ein süßlicher Duft entgegen, der mir den Atem raubt.

"Ich glaube, da braucht jemand eine frische Windel.", sage ich lachend und wedel mir mit der Hand vor der Nase herum, bevor ich sie aus ihrem Bettchen hebe. Den stinkenden Haufen entsorge ich kurzerhand im Mülleimer, wobei ich mich angeregt mit ihr unterhalte, bevor ich mit Charlie nach unten gehe.

Allerdings ist von Mia auf den ersten Blick nichts zu sehen. Auf den zweiten jedoch sehe ich sie in der Küche an der Kaffeemaschine hantieren. Sie füllt Kaffee in eine Tasse und sieht dann etwas ratlos aus. Letzten Endes lehnt sie sich an die Theke und beginnt zu trinken.

Ich biete nicht an ihr zu helfen. Warum auch? Immerhin hat sie sich ja beschwert, ich würde sie bemuttern und so konzentriere ich mich wieder auf das Mädchen auf meinem Arm und lege sie auf ihre Krabbeldecke. Setzte mich neben sie auf den Boden und halte ihr ein Spielzeug hin oder kitzele sie an den Füßen.

Ich gehe ganz in dieser Beschäftigung auf und so bekomme ich es fast nicht mit, wie Mia plötzlich hinter mir steht und auf uns hinunter sieht.

"Sie mag dich.", sagt sie seufzend und ich wende mich ihr mir angespannter Mine zu.

"Warum sollte sie auch nicht?", will ich brummig wissen, "Wir haben viel Zeit miteinander verbracht."

"Mich mag sie nicht.", verkündet sie traurig, "Immer wenn Mara sie mir auf den Arm legt, fängt sie an zu schreien."

"Das ist doch Quatsch! Sie muss dich nur besser kennenlernen.", wiederspreche ich energisch und bedeute ihr, sich zu uns zu setzten, doch schüttelt sie abweisend den Kopf.

"Ich komm nicht runter. Und ich kann auch nicht wieder aufstehen.", erklärt sie bedrückt, weshalb ich ohne nachzudenken reagiere. Plötzlich, ich weiß nicht, wie genau es geschehen ist, stehe ich dicht vor ihr. Die Krücken neben uns auf dem Boden, bevor ich meine Arme um sie lege. Mir stockt das Herz, als sie mich mit geweiteten Augen ansieht, weshalb ich ihr schnell helfe sich hinzusetzten, damit ich sie wieder loslassen kann. Dabei würde ich sie am liebsten nie wieder loslassen. Ich weiß jedoch, dass das wohl nicht in Mias Sinne ist, weshalb ich eilig wieder Abstand zwischen uns bringe, bevor sie die Schläge meines Herzens bemerkt, das sich gerade alle Mühe gibt aus meiner Brust zu entkommen.

Angespannt schlucke ich den Kloß in meinem Hals herunter und fahre mir dann durch die Haare.

"Siehst du? war doch gar nicht so schwer.", sage ich bemüht locker ohne sie anzusehen, dann halte ich ihr Charlies Lieblingsspielzeug hin. Einen kleinen Affen, dessen Arme und Beine unterschiedliche Geräusche machen, wenn man sie drückt oder bewegt. Charlie sieht Mia tatsächlich etwas erstaunt an bevor sie sich von ihr weg auf den Bauch rollt.

"Siehst du! Hab ich doch gesagt! Sie mag mich nicht!", sagt Mia enttäuscht und drückt das Stofftier in den Händen zusammen, so dass es ein lautes quietschen von sich gibt, "Das macht sie immer. Dreht sich weg, fängt an zu weinen oder schaut mich nicht an. Drückt sogar ihren Kopf in Maras Schulter. Nur, damit sie mich nicht sieht.", fährt sie seufzend fort und reicht mir das Stofftier zurück.

"Du darfst einfach nicht aufgeben, Mia. Charlie ist einfach in einer schwierigen Phase. Sie wird sich schon an dich gewöhnen, wenn du dich mit ihr beschäftigst. Du bist doch ihre Schwerster.", versuche ich sie aufzumuntern, was mir nicht gerade gut gelingt.

"Eben!", sagt sie brummig, "Ich bin ihre Schwerster und trotzdem mag sie mich nicht. Sie kennt mich nicht. Ebenso wenig wie ich sie. Und wie mir scheint, will sie mich nicht mal kennenlernen."

"Da kenne ich noch jemanden.", rutscht es mir heraus, was sie mich mit dunklem Blick anschauen lässt.

"Das ist doch was ganz anderes!", fährt sie mich aufgebracht an. "Ich erinnere mich einfach nicht! Aber Charlie ist ein Baby! Sie kennt niemanden! Muss sich an niemanden erinnern und lernt jeden neu kennen. Also? Warum will sie mich nicht kennenlernen?!"

"Das fragt gerade die richtige!", sage ich selbst ziemlich sauer, "Scheinbar seid ihr euch ähnlicher als dir lieb ist."

"Blödsinn!", facht sie laut, was Charlie jetzt auch noch zum Weinen bringt, weshalb ich sie auf den Arm nehme und ihr beruhigend über den Kopf streiche. Keine Ahnung, wie die Stimmung so schnell kippen konnte, doch so ist es jetzt und so frage ich sarkastisch: "Nicht?!", und sehe sie verletzt an, "Du gehst also offen auf jeden zu und lernst ihn kennen, bevor du ihn vor den Kopf stößt ja? Gibst jedem eine Chance? Oder! Und da ist es auch ganz egal, ob du denjenigen vorher kanntest oder nicht? Oder?!", rede ich mich selbst immer mehr in Rage, was Charlies Laune jetzt auch nicht gerade besser macht.

"Natürlich!", stimmt Mia mir dann auch noch zu, was mich nur noch wütender macht.

"Ja! Klar!", knurre ich drohend und stehe vom Boden auf. Schaue auf Mia hinunter und wiege Charlie beruhigend hin und her. "Hab ich gemerkt!"

Wütend wende ich mich von ihr ab. Halte es einfach nicht aus, in ihre braunen Augen zu sehen. Dieses Funkeln, dieses Leben zu sehen, das mir aus ihnen entgegenspringt, ohne sie berühren zu können, dabei wäre jede Berührung derzeit sicher Tödlich! Nur zu gerne, würde ich sie gerade erwürgen. Für ihre Worte, mit denen sie mich zu verhöhnen scheint. Jedem scheint sie eine Chance zu geben! Jedem! NUR MIR NICHT!

Wutentbrannt gehe ich im Wohnzimmer auf und ab. Stoße beinahe schnaubend wie ein Stier die Luft aus und versuche mich wieder zu beruhigen und damit auch Charlie zu beruhigen, die noch immer leise wimmert.

"Ist schon gut, Kleine. Tut mir leid, das ich dir Angst gemacht habe.", versuche ich sie zu besänftigen und auch mich runterzuholen. Gelingen tut es mir jedoch nicht so gut, weshalb ich mich schließlich ans Klavier setzte und eine einfache Melodie zu spielen beginne.

Mia schweigt gottseidank. Dass sie alles gesagt hat, was sie sagen wollte, glaube ich hingegen nicht. Vielmehr scheint sie wohl ein einsehen zu haben, das die Kleine auf einen ausgewachsenen Streit wohl nicht gut zu sprechen sein dürfte.

Langsam lasse ich meine Finger über die Tasten gleiten und werde mit jedem Ton ruhiger. Auch das Mädchen auf meinem Arm entspannt sich langsam wieder und so setzte ich sie auf meinen Schoß und spiele ein etwas schwereres Stück. Na, ja. Zumindest so gut es eben geht, wenn man ein rund acht Monate altes Baby auf den Knien sitzen hat. Und so klingt der eine oder andere falsche Ton durch das Zimmer, während ich Mias Anwesenheit gekonnt aus meinen Gedanken vertreibe. Schließlich höre ich aber doch wieder zu spielen auf und sitze bewegungslos da, während Charlie auf meinem Finger herumlutscht.

"Woher kannst du das?", durchbricht Mia schließlich die Stille. Ich bilde mir ein, einen Hauch Ehrfurcht zu hören, doch spiegelt ihr Blick wenn überhaupt Verwirrung wieder, als ich mich ihr seufzend zuwende.

"Kann man lernen. Man muss nur fleißig üben. Wobei manche mehr Talent haben als andere.", sage ich leise und sehe sie einfach nur an. Ich fühle mich erschöpft. Traurig und irgendwie Müde. Es ist anstrengend mit Mia hier zu sein. Sie zu sehen. Ihre Stimme zu hören und auch ihren Duft einzuatmen. Zwar ist sie mir gerade jetzt nicht nah genug dafür, aber dafür erinnere ich mich noch sehr gut an den Moment, an dem ich ihr auf den Boden geholfen habe, wo sie noch immer hockt.

"Soll ich dir aufhelfen?", frage ich schließlich beherrscht und setzte Charlie kurzfristig auf der Decke neben Mia ab, als sie zögerlich nickt.

So wie Brian es mir gezeigt hat helfe ich Mia hoch und reiche ihr dann ihre Stützen, mit denen sie zum Sofa geht und sich dort hinsetzt. Sie ist recht schweigsam. Anders als Charlie, die immer lauter wird, weshalb ich ihr etwas zu Essen hole. In der Dröhnenden Stille, die auf ihre lauten Protestschreie folgt, kann ich Mias leises Atmen hören. Immer wieder holt sie tief Luft, als würde sie etwas sagen wollen, doch tut sie es nicht. Schließlich steht sie auf und geht.

"Ich geh nach oben.", teilt sie mir mit, weshalb ich ein enttäuschtes, zugleich aber auch erleichtertes: "Mach das.", von mir gebe.

Mit ihr zusammenzusein ist nicht einfach. Viel zu sehr ist die Spannung zwischen uns zu spüren. Das Knistern in der Luft viel zu deutlich. Doch rührt es leider nicht daher, dass wir uns zueinander hingezogen fühlen. Vielmehr ist es eine elektrische Spannung, die jederzeit explodieren kann. Und beinahe fürchte ich den Moment, an dem es soweit ist. Denn was auch immer dann passiert, ich fürchte es wird nichts Gutes sein.

Als Mara schließlich von ihrem Arzttermin wiederkommt, bin ich beinahe erleichtert. Irgendwie aber auch traurig, dass ich jetzt gehen muss.

"Danke, dass du auf die Kleine aufgepasst hast, Ian. Und war sie artig?", will sie wissen, doch bin ich mir nicht sicher, ob sie wirklich Charlie meint, weshalb ich mit erhobener Augenbraue nachfrage: " Die große oder die Kleine?"

"Wieso die Große?", fragt Mara erstaunt, "Ist Mia etwa schon wieder da?"

"Sie war gar nicht weg!", kläre ich sie, selbst nicht wenig erstaunt, auf. Doch sieht Mara tatsächlich so aus, als hätte ich ihr gerade erzählt, ich wäre in die Sahara gefahren um dort nach Schnee zu graben.

"Ian ich...tut mir leid, das wusste ich nicht.", versucht Mara sich zerknirscht zu entschuldigen, bevor sie wissen will, "Ich hoffe, sie war nicht zu garstig zu dir." Leicht legt sie ihre Hand auf meinen Unterarm und schaut mich entschuldigend an, doch schüttele ich verneinend den Kopf.

"Ich glaube, Charlie hat ihr mehr zugesetzt, als sie mir. Also, ich denke, wir sind Quitt." Ich versuche mich an einem zuversichtlichen Lächeln, doch Mara sieht erstaunt von mir zu Charlie, die noch immer friedlich auf ihrer Decke liegt und auf ihrem Affen herum kaut.

"Was hat Charlie denn gemacht?", will sie verwundert wissen und zieht die Augenbrauen hoch.

"Nicht viel. Nur gequakt. Aber ich denke Mia glaubt, dass Charlie sie nicht leiden kann."

"Ach! Das ist doch Quatsch! Charlie fremdelt doch nur. Das gibt sich bald. Mia ist ja erst seit gestern wieder hier. Was erwartet sie denn?", seufzend schüttelt Mara den Kopf, dann bittet sie mich noch kurz zu bleiben und verschwindet nach oben, wo sie wohl ein Wörtchen mit Mia zu reden hat. Worum es genau geht bekomme ich nicht mit, doch als Mara schließlich wieder runter kommt sieht sie irgendwie verstört aus.

"Was ist denn?", frage ich besorgt, "Geht's dir nicht gut?" Ich setzte mich zu ihr auf das Sofa und wende mich ihr zu, doch klingt sie absolut nicht überzeugend, als sie mir versichern will, dass alles okay ist.

"Soll ich noch bleiben?", biete ich ihr an, doch schüttelt sie mit gerunzelter Stirn den Kopf.

"Ist schon gut Ian. Es ist nichts.", versichert sie mir, "Mia ist nur irgendwie sonderbar. Liegt auf ihrem Bett und starrt an die Decke. Meinte nur, das Mike sie versetzt hat und sie etwas allein sein möchte.", fährt sie in Gedanken versunken fort. Doch den kurzen Schmerz, der mich bei Mikes Namen durchzuckt, lässt sich nicht leugnen. Froh bin ich aber auch. Irgendwie zumindest. Immerhin hat er sie versetzt und nur deswegen bin ich in diesem Schlamassel gelandet. Oder in ihre teuflische Gesellschaft, die ich jederzeit wieder aufsuchen würde. Doch erklärt sich mir damit noch immer nicht Maras in Gedanken versunkene Stimmung, aus der sie gerade wieder auftaucht, als Charlie ein klägliches Wimmern ausstößt.

"Ach! Die fängt sich schon wieder.", sagt Mara zuversichtlich und steht auf. Geht zu Charlie hinüber um sie vom Boden aufzuheben. "Oder meine Süße?", säuselt sie der Kleinen zu und pustet ihr in die Halsbeuge, was das Mädchen zum Kichern bringt. "Ja, du bist ein Schätzchen. Nicht wahr. Ein kleiner Hase. Und bald müssen wir uns was einfallen lassen, damit du nicht die ganze Wohnung auseinander nimmst.", schäkert sie mit ihr, während sie zu mir zurückkommt und sich wieder neben mich auf das Sofa setzt.

"Magst du uns noch etwas vorspielen, Ian?", fragt sie mich bittend. der Blick, den sie mir dabei schenkt ist so voller Hingabe, Wärme und stummem Flehen, das ich ihr diesen Wunsch einfach nicht abschlagen kann.

"Sicher.", sage ich schmunzelnd. Stehe auf und sehe auf die beiden hinunter, "Was willst du denn hören?"

"Spiel doch das Lied, das Mia dir zum Geburtstag geschenkt hat. Das hast du schon so lange nicht mehr gespielt."

"Oh...", beginne ich unbehaglich, das sie ausgerechnet das hören mag hätte ich jetzt nicht erwartet. Und ich fühle mich auch nicht ganz wohl bei dem Gedanken es zu spielen, weshalb ich angespannt den Kopf schüttele, "Also, ich glaube nicht, dass ich das jetzt...so ohne Noten... du verstehst, also...ich könnte aber was von Beethoven spielen. Oder ein Stück von Chopin. Den Spring Walts? Den magst du doch auch oder?", sage ich leicht stammelnd. Und vor allem Lügend, denn Mias Lied könnte ich wohl mit geschlossenen Augen und gefesselten Händen spielen. Auf gar keinen Fall würde ich jedoch auch nur eine Note brauchen um mich an diese zu erinnern. Was Mara natürlich weiß, doch drängt sie mich nicht und lächelt mich nur liebevoll an.

"Das wäre schön.", stimmt sie dem Lied zu, das ich vorgeschlagen habe und lehnt sich in die Polster zurück, während ich mich zum zweiten Mal an diesem Tag an das kleine, schwarze Klavier setzte und zu spielen beginne. Dieses Mal habe ich jedoch die Hände dabei frei und so weht, ohne Charlies künstlerisches Können, bald die ruhige, aber auch heitere Melodie der leichten Weise durch den Raum und lassen mich für einen Moment in die Stille der Töne tauchen. Als ich mit diesem Stück fertig bin, spiele ich noch eines, das meine Mutter komponiert hat, doch dann höre ich auf. Es ist schon spät geworden, außerdem wollte ich heute noch eine Runde durch den Park joggen.

"Vielen Dank Ian. Es war wundervoll!", versichert Mara mir lächelnd. Nimmt mich zum Abschied in den Arm und legt Charlie zum Spielen auf ihre Decke. Doch ich verlasse das Wohnzimmer und sehe gerade noch, wie Mia oben an der Treppe ankommt.

"Ciao Engelchen.", sage ich feixend. Kann ein kleines Grinsen aber nicht verbergen. Ich bin mir fast sicher, dass sie gelauscht hat, doch ernte ich von ihr nur ein stummes Nicken, mit dem sie meine Worte zur Kenntnis nimmt. Und so geht auch dieser Tag zu Ende. Wie so viele andere. Nur das dieser mal wieder so ganz anders war als der Letzte, an dem ich sie getroffen habe. Und wieder spiele ich mit dem Gedanken, vielleicht doch hin und wieder mal herzukommen.

Auch auf die Gefahr hin, dass sie mich beim nächsten Mal erneut in den Wahnsinn treibt. Oder an den Rand eines Selbstmordes, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich noch oft ertrage, mich mit ihren Stimmungsschwankungen herumzuschlagen.

--------------
5032 Worte
12.08.2017

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top