15 Haufenweise hin und her gerenne

Nachdem ich zurück auf der Station bin schickt mich Bea auch schon wieder los.

"Die Radiologie hat gerade angerufen.", teilt sie mir mit, "Herr Gunter ist schon fertig und kann wieder abgeholt werden."

Sie sieht mich mit einem entschuldigenden Lächelnd an, dann fügt sie hinzu: "Tut mir leid, dass du hier den Laufburschen machen musst, aber dadurch das Christian schon wieder ausgefallen ist, haben wir alle Hände voll zu tun."

Sie seufzt gestresst und streicht sich eine ihrer langen, hellen Strähnen aus der Stirn, die sich aus ihrem verflochtenen Zopf gelöst hat.

"Das macht doch nichts.", versichere ich ihr gleichgültig, "So kann ich wenigstens etwas helfen."

Und mal ganz ehrlich...lieber schiebe ich die Patienten von einem zum anderen Ort, als laufend nur Bettpfannen zu leeren.

Und so kehre ich erneut in das Erdgeschoss zurück. Lasse unzählige Flure und Türen hinter mir und wäre dann beinahe an Herrn Gunter vorbeigelaufen, wenn er mich nicht so seltsam erleichtert angesehen hätte.

"Ach! Bringen sie mich wieder auf mein Zimmer?", fragt er mich erfreut und verzieht schmerzhaft das Gesicht, als er sich in seinem Bett etwas bewegt.

"Ja.", bestätige ich mit gerunzelter Stirn. Ich sollte mir die Menschen wirklich besser ansehen. Nicht, dass das hier nicht Herr Gunter ist. Deshalb spreche ich ihn doch einfach mal mit Namen an, mal sehen, wie er reagiert. "Haben sie denn auch ihre Akte Herr Gunter?"

"Die Schwester hat sie ans Fußende gesteckt.", erklärt er mir und deutet in diese Richtung, doch bevor ich umständlich die Bremsen vom Bett löse, werfe ich einen Blick darauf.

Gunter. Steht dort. Also nur für den Fall, dass ich noch einen weiteren Beweis gebraucht hätte. Brauch ich aber nicht. Dafür präge ich mir Name und Gesicht von diesem Patienten ein. Also nur für den Fall, dass ich ihn nochmal irgendwo hinbringen muss.

Auf dem Weg zur Station fragt mich Herr Gunter über das Studium aus und was mich denn darauf gebracht hätte.

Ich habe zwar meinen eigenen, ganz speziellen Grund, warum ich Arzt werden möchte, doch ist diese Tatsache so privat, dass ich bei der Kurzversion bleibe.

"Ich möchte einfach den Menschen helfen.", erkläre ich meine Beweggründe, die ja nicht gänzlich falsch sind. Dass ich einfach den Gedanken nicht ertrage, Menschen die ich liebe leiden zu sehen, ohne helfen zu können, sage ich nicht.

Muss ich auch nicht, denn scheinbar reicht dem älteren Herrn mit Halbglatze meine Antwort. Er findet meine Ambitionen sehr lobenswert und beginnt dann herablassend über seinen Sohn zu sprechen, von dem er sich einen Funken mehr Anstand wünscht.

Ich höre ihm einfach zu, gebe gelegentlich ein zustimmendes Brummen von mir und verabschiede mich schließlich höflich von ihm, als wir zurück in seinem Zimmer sind.

Seine Akte in der Hand trete ich erneut ins Schwesternzimmer.

"Hi." Eine recht korpulente Frau in Schwesterntracht wuselt auf mich zu und reicht mir die Hand, "Du bist Ian. Richtig? Bea hat schon gesagt, dass du uns heute aushilfst."

"Ja, der bin ich. Und sie sind?"

Ich sehe sie freundlich an und merke, wie sie kurz stutzt, dann lacht sie leise auf.

"Tut mir leid. Ich bin Monika." stellt sie sich vor. Und jetzt erinnere ich mich auch wieder an sie. In der Zeit, als Mia im Koma lag habe ich sie hin und wieder gesehen. Allerdings nicht allzu oft, "Wen hast du denn da?"

Sie deutet auf die Akte in meiner Hand und wirft einen Blick drauf, als ich sie ihr zeige.

"Ach Herrn Gunter. Warte ich zeig dir, wo die Akten einsortiert werden. Und dann könntest du Frau Wetrisch in den Verbandraum bringen. Der ist im ersten Stock.", erklärt sie mir in rasendem Tempo. Sie redet so schnell, dass ich kaum mitkomme, doch lehnt sie sich entspannt an einen Schreibtisch, während sie mir erklärt, wo genau das ist. Kurz bevor ich jedoch besagte Dame aus ihrem Zimmer hole, klingelt das Telefon.

"Warte mal schnell Ian.", hält Monika mich auf und legt schon nach wenigen Worten wieder auf. "Das war Brian. Frau Menderes ist fertig. Du könntest sie auf dem Rückweg schon wieder mit rauf bringen."

"Ist gut.", bestätige ich ihre Bitte und versuche das Kribbeln in meinem Magen zu Ignorieren. Schiebe es einfach beiseite und nehme mir die Akte von Frau Wetrisch.

Wieder laufe ich die langen Flure hin und her und befinde mich schließlich auf dem Weg zu IHR. Ich versuche mich nicht zu fragen, wie sie drauf sein wird. Wie sie mich ansehen wird und ob sie mich blöde anmachen wird. Ich versuche jeden Gedanken an sie zu verdrängen, doch jede dieser Anstrengungen verfliegt, als ich sie in ihrem Rollstuhl auf dem Flur warten sehe.

Gedankenverloren starrt sie aus einem der Fenster und bekommt gar nicht mit, wie ich mich ihr nähere. Nervös streiche ich mir durch die Haare und schaffe es doch nicht, mein Herz in Zaum zu halten.

Es spielt schon jetzt verrückt, dabei schaut sie mich noch nicht einmal an. Sie reibt sich den verspannten Nacken und wendet den Kopf hin und her. Schließt kurz die Augen und lässt dann den Kopf hängen.

Sie sieht aus, als würde sie irgendwo drüber nachdenken, doch worüber ist mir ein Rätsel. Auch als sich unsere Blicke plötzlich kreuzen, bin ich keinen Schritt weiter. Früher konnte ich manchmal ihre Gedanken lesen, doch seit einiger Zeit ist das vorbei.

Ihre Mine bleibt unbeweglich als ich mich ihr nähere, doch verfinstert sich ihr Blick wenigstens nicht. Anders als meiner. Denn dumm wie ich bin, hatte ich beinahe gehofft, sie würde sich freuen mich zu sehen. Tut sie nicht. Also nicht so zumindest.

"Na endlich!", grummelt sie leise, "Ich dachte schon, die da oben lassen mich hier versauern." Dabei deutet sie über sich auf die Decke und verdreht die Augen.

Auch ich verdrehe die Augen. Schlucke den unfreundlichen Kommentar, der mir im Halse steckt hinunter und greife nach dem Rollstuhl.

"Was?", will sie wissen, als ich Stumm bleibe, "Jetzt auch noch zu fein dafür, mit mir zu reden?"

"Keines Wegs.", antworte ich unfreundlich, "Doch sehe ich keinen Grund mich mit einer schlecht gelaunten Patientin herumzuärgern."

"Ich bin nicht schlecht gelaunt!", faucht sie mich an, was mich beinahe zum grinsen bringt. Immerhin schimpft sie nicht über mich.

"Nicht?! Was denn dann Frau Menderes? Genervt, weil sie nicht die einzige sind, um die wir uns kümmern müssen? Dass sie warten mussten?", werfe ich ihr vor, was sie ungehalten fluchen lässt.

"JA, Verdammt! Kann doch nicht sein, dass man hier Stundenlang im Flur stehen gelassen wird.", zetert sie vor sich hin, dann fügt sie grummelnd hinzu, "Und nenn mich nicht Frau Menderes! Du weißt doch genau, dass ich Marie heiße!"

"Sicher weiß ich das.", antworte ich abweisend, "Aber sie sind Patientin in diesem Krankenhaus und ich Medizinstudent, weshalb ich sie auch weiterhin Siezen werde, FRAU MENDERES.", sage ich betont und ignoriere ihren finsteren Blick, den sie mir über die Schulter zu wirft. Ich schaue einfach weiter über sie hinweg und genieße es einfach nur, ihre Stimme zu hören und mit ihr zu reden. Belanglosigkeiten hin oder her. Verschränkte Arme hin oder her. Angezogene Bremse hin...

"Hey!", sage ich empört und beuge mich über sie um die arretierten Griffe wieder zu lösen. Das sie mir dabei mehr als nah ist, versuche ich zu ignorieren, auch das ich es nicht verhindern kann die Augen zu schließen und tief ihren Duft in meine Lungen zu ziehen versuche ich nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ohne Erfolg! Muss ich gestehen, denn mein Herz beginnt recht energisch aus der Bahn zu stolpern, weshalb ich etwas atemlos: "Was soll denn das!", hinzufüge.

" Du bist so bescheuert!", schimpft sie laut, "Du kannst doch nicht so tun, als würdest du mich nicht kennen!"

"Ach? Nicht?!", sage ich betont erstaunt, "Warum denn nicht? Du kennst mich doch auch nicht. Also warum sollte ich so tun, als wäre es anders?", sage ich inzwischen mal wieder gereizt. Ihre Worte schmerzen, doch finde ich es auch lustig mit ihr zu streiten. Irgendwie zumindest.

"Weil du mich kennst!", faucht sie mich an und zieht die Bremsen wieder an, als ich sie weiterschieben will.

"Frau Menderes!", knurre ich dunkel. Genieße es mich erneut über sie zu beugen um die Bremsen wieder zu lösen und bleibe länger als nötig über sie gebeugt. "Wenn sie das noch ein Mal machen, dann lasse ich sie hier in diesem Gang stehen!", warne ich sie drohend und richte mich dann wieder auf um sie weiter zu schieben. Weit kommen wir jedoch nicht.

"Dann lass mich doch hier stehen! Ist mir doch egal!", fährt sie mich an und sieht zu mir auf. Ihre angriffslustig funkelnden Augen graben sich in meine, doch halte ich ihrem Blick ungerührt stand. Und verzehre mich nach ihrer Nähe. Ich bin sicher, dass sie meine Gefühle in meinen Augen sehen kann, doch werde ich einen Teufel tun, sie vor ihr zu verbergen.

Stattdessen stelle ich mich vor sie. Lege meine Hände auf die Armlehnen ihres Stuhls und sehe ihr fest in die Augen. Mein Blick huscht für den Bruchteil einer Sekunde zu ihren Lippen, die leicht geöffnet sind und berühre wie zufällig ihren Arm mit den Daumen. Sie entzieht sich mir, doch sehe ich die Gänsehaut, die sich über ihre Arme zieht und auch ihren Hals an der Seite, wo mein Atem diesen streicht.

"Ich warne dich Engelchen!", sage ich mit leiser Stimme. Nur Zentimeter von ihrem Ohr entfernt. "Ich meine es ernst. Und es ist mir vollkommen egal, ob du dich bei Schwester Bea über mich beschwerst."

Langsam richte ich mich wieder auf. Vergrabe unbeugsam den Blick in ihren weichen, braunen Augen und löse erneut die Bremsen. Ich sehe, wie sie schluckt. Sehe, wie sie versucht ihren zu schnellen Atem zu verbergen und kann nicht anders als ein Grinsen zu verbergen.

Dieses Spiel gefällt mir äußerst gut. Und was auch immer ich bei ihr bewirke kann nur besser sein als alles, was ich bisher in ihr ausgelöst habe, denn die Röte, die ihre Wangen färbt ist hoffentlich kein Zeichen von Wut. Von Verlegenheit vielleicht auch nicht, doch verschränkt sie schließlich bockig die Arme vor der Brust und funkelt mich mit zusammengekniffenen Augen an.

"Nenn mich wenigstens Mia, wenn es denn sein muss. Aber Engelchen?! Ich bitte dich! Was ist das denn für ein scheiß!"

Ihre harten Worte versetzen mir einen schmerzhaften Stich, doch erinnern sie mich auch daran, wie sie sich schon damals immer gegen diesen Spitznamen gewehrt hat. Und lassen mich innerlich schmunzeln.

"Nein.", weigere ich mich schlicht und schiebe sie weiter. Ich gehe recht langsam. Will den Moment, an dem ich sie in ihr Zimmer zurückbringe so lange wie möglich hinauszögern. Allerdings kommt der Moment, wo wir in den Fahrstuhl stiegen unweigerlich näher.

Könnte jetzt nicht einfach der Lift kaputt gehen? Oder keine Ahnung irgendwer hier in der Lobby zusammenbrechen oder so? Oder...Ist das nicht Ricardo da vorne?

Mit gerunzelter Stirn bleibe ich stehen und sehe den sich hecktisch umschauenden Jungen an. Seine wässrigen Augen huschen von links nach rechts und scheinen etwas zu suchen.

Ich weiß nicht was, doch alles, was mich vom Fahrstuhl wegführt, ist gut. Sehr gut sogar!

"Hey! Zur Station geht's da lang!", meckert Mia und deutet auf den Fahrstuhl, doch gebe ich nur ein gelangweiltes "Ich weiß.", von mir und gehe auf Ricardo zu. Vielleicht kann ich ihm ja helfen. Oder er mir, in dem er einfach meine Zeit in Anspruch nimmt.

"Hallo Ricardo? Brauchst du Hilfe?", will ich wissen, als wir bei ihm ankommen. Sein Blick streift den meinen. Bleibt dann für den Bruchteil einer Sekunde an Mia hängen und werden unter der Brille kreisrund. Ich will nicht wissen, was er denkt, oder was er sich gerade zusammenreimt, doch zähle ich eins und eins zusammen. Was bei mir drei ergibt und so versuche ich das Schmunzeln gar nicht erst zu verbergen, als mir der Gedanke kommt, das er sich wohl fragt, welche Mutti ich hier durch die Gegend schiebe.

"Ich...nein...du...", stammelt er und holt dann tief Luft, "Ich soll ins Labor und diese Blutprobe abgeben. Es ist eilig, aber ich weiß nicht wo ich hin soll!", rattert er dann in einem Anfall von Redewahn herunter, was sich mein Lächeln vertiefen lässt.

"Ich weiß, wo das ist. Wenn du willst, dann bring ich dich hin.", biete ich fröhlich lächelnd an.

Ricardo sieht mich mit großen Augen an. Keine Ahnung, was in seinem Kopf vor geht, oder woran er denkt, doch scheint er schließlich zu dem Schluss zu kommen, das ihm keine Andere Wahl bleibt. Zumindest nickt er flüchtig, bevor er unsicher sagt: "Aber muss die Patientin denn nicht in den Kreissaal?"

Ich kann Mias Gesicht nicht sehen, doch kann ich nicht verhindern in ein Lachen auszubrechen. Als ich mich wieder etwas beruhigt habe, kläre ich ihn teilweise auf.

"Nein. Muss sie nicht. Und Zeit habe ich auch. Komm." Ich deute zu den Fahrstühlen und steige mit ihm ein. Mias Protest, dass sie keine Lust hat, übergehe ich mit einem "Jetzt stell dich nicht so an Engelchen. Oder hast du noch was besseres vor als dir das Krankenhaus anzusehen."

Ricardo sieht mich erstaunt an, dann richtet er den Blick stur auf die Fahrstuhltüren und schweigt. Zumindest so lange, bis ich ihn nach seinem Praktikum frage. Mia hingegen verschränkt mal wieder bockig die Arme vor der Brust und grummelt in sich hinein.

"Idiot!", kann ich ihren Worten entnehmen und ignoriere sie dann einfach. Frage Rico interessiert aus und staune nicht schlecht, als er mir erzählt, dass er gestern bei einer Op dabei sein durfte.

"Nichts schlimmes, nur ein Appendix.", erzählt er begeistert, aber auch zurückhaltend. Seltsam, wie er diese Mischung hinbekommt, doch bin ich fast ein bisschen neidisch. Aber nur fast, denn mein Erlebnis vom ersten Tag möchte ich unter keinen Umständen missen.

Im Keller eilen wir im Laufschritt den Flur entlang, bis wir am Labor ankommen. Ich warte mit Mia vor der Tür, während Ricardo seine dringende Blutprobe, an die Labortechniker übergibt.

Als er wieder raus kommt sieht er geradezu erleichtert aus.

"Danke!", seufzend stößt er die Luft aus und wird dann leicht rot im Gesicht, als er uns ansieht, "Tut mir leid, dass ich dich von der Arbeit abgehalten habe.", entschuldigt er sich, doch winke ich gleichgültig ab.

"Kein Problem. Ich hatte gerade eh nichts Besseres zu tun."

Mia stößt gereizt die Luft aus, was Ricardo unbehaglich den Blick senken lässt. Dennoch beschleunige ich meinen Schritt nicht, als wir jetzt zu den Fahrstühlen zurückkehren.

"Ignorier sie einfach.", übersetzte ich Mias schlechte Laune, "Sie kommt gerade mit niemandem klar. posttraumatische Belastungsstörung oder so etwas.", sage ich scherzend, was mir von ihr ein..."Ich geb dir gleich Posttraumatische Belastungsstörung!"...einbringt, dass mich grinsen lässt.

"Ähm...", sagt Rico verwirrt und lässt seinen Blick von ihr zu mir schweifen, was mich nur noch mehr erheitert.

"Denk nicht drüber nach Ricardo. Frau Menderes hat einen auf den Deckel bekommen und ist nicht mehr ganz zurechnungsfähig.", ärgere ich sie weiter, weshalb sie aufgebracht "IAN!", ausstößt.

Ich genieße dieses Geplänkel, doch wirft Ricardo unsicher ein: "Du weißt aber schon, dass das unter die Schweigepflicht fällt oder? Wir dürfen nicht über die Krankheiten der Patienten sprechen."

"Sicher.", stimme ich grinsend zu, "Aber diese Krankheit steht in keiner Akte. Das ist meine eigene Diagnose."

Der Blick, den mir Ricardo zuwirft, lässt mich nicht daran zweifeln, was er von mir denkt. Und als Mia dann auch noch was von "Größenwahn und Selbstüberschätzung!", zum Besten gibt, kann ich nicht anders als zu lachen.

Und dieses Lachen fühlt sich so befreiend an, dass es mir vollkommen egal ist, was Ricardo denkt. Soll er mich doch für verrückt halten. Mir doch egal. Ich bin einfach nur glücklich mit Mia hier zu sein. Zeit mit ihr zu verbringen, auch wenn sie es im Grunde nicht will. So regt sie sich wenigstens nicht darüber auf, das ich bei ihr bin, mur darüber, dass ich sie ärgere und das finde ich gar nicht mal schlecht.

In der Vierten steigt Ricardo aus. Wirft mir noch einen warnenden Blick zu den ich zwinkernd erwidere und lehne mich dann mit leichtem Herzen an die Fahrstuhlwand.

Mias Duft erfüllt die Luft. Füllt jeden Winkel des Fahrstuhls und auch meiner Lungen und ich lasse mich nur zu gern von ihm betören. Ihr ruhiger Atem. Ihr gereiztes Schweigen, mit dem sie mich seit dem Ricardo ausgestiegen ist straft, stören mich seltsamerweise nicht. Viel mehr genieße ich ihre ruhige Nähe. Schiebe sie im siebten Stock aus dem Fahrstuhl und dann in ihr Zimmer.

Vor ihrem Bett bin ich diesmal derjenige, der die Bremsen anzieht, bevor ich mich mit einem knappen: "Man sieht sich Engelchen!", von ihr verabschiede.

Ihr genervtes: "Ich heiße Marie!", nehme ich mit einem Lachen zur Kenntnis und antworte ein leises: "Ich weiß.", von dem ich nicht weiß, ob sie es gehört hat.

Dann bin ich weg. Trennt uns diese Tür, die ich vor Tagen mit einem brennen in der Brust hinter mir geschlossen habe, doch diesmal tänzelt es leicht an der Stelle, wo einst mein Herz gesessen hat. Ich weiß nicht, ob ich aus diesem heutigen Tag Hoffnung schöpfen sollte, aber ich tue es und das lässt mich für den Moment die Welt umarmen.

"Hey Bea!", ich beinahe ins Schwesternzimmer, was mir von ihr einen erstaunten Blick einbringt, der schnell von einem Lächeln erhellt wird.

"Na. Dir scheint die Arbeit aber gut zu bekommen!", lacht sie gut gelaunt und trägt mir dann auf Monika beim verteilen des Essens zu helfen. Ich komme zwar nicht in die Verlegenheit schon wieder bei Mia vorbeizuschauen, doch ist das wohl auch besser so. Ich will ja nicht, dass sie denkt, ich würde sie absichtlich nerven.

Sollte ich noch mal zu ihr gehen müssen werde ich mich sicher nicht beschweren, aber ich werde es auch nicht provozieren.

Ich bin mal gespannt, wo mich das ganze hinbringt.

Als ich an diesem Abend das Krankenhaus verlasse bin ich geradezu guter Laune. Doch fällt dieses Gefühl fast augenblicklich in sich zusammen, als mir Mike mit einer roten Rose entgegen kommt.

Das herablassendes Grinsen, das auf sein Gesicht tritt, als er meine noch immer leicht verfärbte Wange mustert, wird womöglich noch breiter, als er lässig mit der Blume spielend an mir vorbeigeht.

"Na? Mal wieder abgeblitzt?", bellt er mir nebenbei zu, doch versuche ich diesen Hieb von der Seite locker zu parieren.

"Ganz im Gegenteil!", sage ich lässig, "Wir waren spazieren und haben uns blendend unterhalten."

Okay. Das entspricht zwar nicht der Wahrheit, aber wirklich gelogen ist es auch nicht. Zumindest ich habe mich blendend unterhalten und spazieren waren wir auch. Oder etwa nicht?!

Mikes Blick verdunkelt sich etwas, doch fasst er sich schnell wieder und fährt sich wuschelnd durch die Haare, bevor er auf den Fahrstuhl zusteuert.

"Wenn du meinst dir selbst in die Tasche lügen zu müssen...viel Erfolg!", ruft er noch im letzten Moment, doch bin ich mir nicht sicher, ob er meine Lüge wirklich durchschaut hat, oder ob mich nur ärgern wollte. Aber wie auch immer er seine Worte gemeint hat, bei mir hinterlassen sie ihre Spuren.

Regelrecht wütend stürme ich aus dem Gebäude und zu meinem Auto, mit dem ich in recht rasantem Tempo nach Hause fahre.

Unter der Dusche versuche ich mich abzukühlen, doch gelingt es mir nicht wirklich, dafür klingelt es gerade an meiner Wohnungstür, als ich mir die Haare abtrockne.

Noch immer von Mikes Worten aufgebracht drücke ich auf den Summer und öffne meine Wohnungstür. Bis meine Besucher hier oben sind, bleibt mir Zeit genug mich anzuziehen, doch...

"Ähm...machst du immer halb nackt die Tür auf?", will meine Nachbarin wissen und lässt grinsend ihren Blick an mir auf und ab gleiten, bevor sie mir doch noch in die Augen schaut.

Kurz werfe ich dem Handtuch um meine Hüften einen Blick zu, bevor ich gleichgültig mit den Achseln zucke.

"Normalerweise nicht.", sage ich im gehen und rufe ihr zu, als ich in meinem Schlafzimmer verschwinde: "Setzt dich doch. Bin gleich wieder da!"

"Meinetwegen musst du dir nichts anziehen!", ruft sie lachend zurück, was meine unterirdische Stimmung leicht anhebt. Aber wirklich nur leicht.

Fünf Minuten Später stehe ich in T-Shirt und Cargohose wieder in meinem Wohnzimmer. Lässig an den Türrahmen gelehnt sehe ich sie an.

"Hi.", gebe ich mich locker und krame in meinem Oberstübchen nach ihrem Namen, "Bella.", füge ich dann gerade noch rechtzeitig hinzu, bevor es zu auffällig wird.

"Hi.", erwidert sie grinsend und mustert mich erneut. Ihre grünen Augen funkeln entspannt, während sie ihre Beine entknotet und von der Couch hüpft.

"Wollen wir los?", will sie wissen, doch kann ich sie nur verständnislos ansehen.

"Los?", verwirrt runzele ich die Stirn und sehe sie fragend an.

"Ja. Zum Sport. Schon vergessen? Wir haben uns doch verabredet!", sie lacht fröhlich auf, doch bei mir fällt langsam wieder der Groschen. Stimmt ja.

Der Zusammenstoß im Flur. An dem Morgen, nachdem Ozzi mir das Veilchen verpasst hat. Hatte sie nicht was von 19 Uhr gefaselt? Flüchtig schweift mein Blick zur Uhr und tatsächlich ist es kurz vor sieben.

"Ich...also eigentlich...", beginne ich stockend. Lust auf irgendeinen dämlichen Sack einzudonnern habe ich jetzt nicht gerade. Oder womöglich doch Bauchtanzen zu gehen, oder Steppen...nein danke!

"Was?! Du wirfst jetzt schon die Flinte ins Korn? Oder hast du etwa schiss, ich würde dich auf die Matte schicken?", will sie grinsend wissen. Ihre Worte lassen mich erleichtert aufatmen. Denn auf die 'Matte' schicken wird sie mich beim Bauchtanzen ganz sicher nicht.

"Was genau für Sport meinst du denn überhaupt?", frage ich nach, "Auf diese Mädchensachen stehe ich nämlich nicht so. Also Zumba oder Stepp Arobic und son scheiß!", sage ich mit verzogenem Gesicht, was sie noch immer die grinsend die Augen verdrehen lässt.

"Lass dich überraschen! Und ich verspreche, es ist kein Mädchenkram. Okay?!"

Leicht genervt gebe ich mich geschlagen. Jetzt ins Bett gehen zu wollen wäre ohnehin vergebliche Liebesmüh, nach der Begegnung mit Mike. Und auch zum Fernsehen oder Lernen bin ich viel zu aufgekratzt, weshalb Sport...welcher auch immer... sicher eine gute Alternative ist.

"Na gut!", ergeben stoße ich die Luft aus und bitte sie um ein paar Minuten um meine Sachen zu packen, dann stehe ich schließlich startbereit vor ihr.

Im Hausflur schnappt sie sich ihre Sporttasche und tänzelt hopsend vor mir die Treppe hinunter. Ich folge ihr langsamer und zwänge mich dann in ihren kleinen Golf. Keine Ahnung, wer vor mir auf dem Beifahrersitz gesessen hat, doch viel größer als ne Zweijährige kann der Mensch nicht gewesen sein.

Wie ein Affe auf dem Schleifstein sitze ich eingepfercht auf dem Sitz und schaffe es nicht, ihn nach hinten zu schieben.

Bella sieht mir eine Weile dabei zu, wie ich mich abmühe, bis sie schließlich Mitleid mit mir hat und mir hilft.

Dicht beugt sie sich über meine Beine und fummelt suchend unter dem Sitz herum, bis sie schließlich den Griff gefunden hat.

"Danke!", sage ich dankbar und atme befreit durch, als ich endlich die Beine ausstrecken kann.

Sie lächelt mich leicht verlegen an und streicht sich ihr blonden Haare aus der Stirn, bevor sie los fährt.

Auf der Fahrt...wohin auch immer...kommen wir uns etwas näher. Sie erzählt von ihren drei Brüdern, dem Studio ihres Vaters und auch davon, dass ihre Mutter schon recht früh verschwunden ist, weshalb sie sich auch nicht mehr an sie erinnern kann.

"Aber mein Dad ist Super!", versichert sie mir locker, "Er hat sich immer Mühe gegeben sie zu ersetzten. Und was soll ich sagen...ich finde, er hat seine Sache gut gemacht.", sie zwinkert mir zu und schlängelt sich durch eine enge Einbahnstraße, wo sie schließlich auf einen kleinen Hinterhof fährt.

"Sieht bescheidener aus als es ist.", sagt sie etwas verlegen als sie meinen skeptischen Blick bemerkt und so versuche ich mich an einer lässigen Geste.

"Keine Angst. Ich verrate es keinem.", scherze ich, dabei ist mir noch immer nicht wirklich zum Lachen zu mute. Immer wieder kommt mir Mikes grinsendes Gesicht in den Sinn und auch seine dämlichen Worte, die mich innerhalb kürzester Zeit auf die Palme bringen.

Mit mühsam beherrschter Wut folge ich Bella in den kleinen Club, der von innen tatsächlich weitaus größer ist, als er von außen gewirkt hat.

Im Raum verteilt hängen drei große Sandsäcke. Dazu einige kleine. In der Mitte befindet sich ein nicht zu verachtender Ring, in dem sich zwei Kontrahenten gegenüber stehen.

"Oh" Schnell! Das will ich sehen!", ruft sie aus und eilt zu den Menschen, die mit lauten Rufen die Kämpfer anfeuern. Auch Bellas Stimme mischt sich im nächsten Moment unter die Rufe.

"Komm schon Krümel! Zeigs dem Dicken mal so richtig!"

Ich habe keine Ahnung wer von den beiden wer ist, doch dauert es nicht lange und einer der Beiden schlägt hart auf dem Boden auf.

"UHHH!", ertönt es gleich von mehreren Seiten erstickt und auch mir zieht sich bei dem Geräusch, dass der nackte Fuß, den der Verlierer in sein Geschützes Gesicht bekommen hat die Eingeweide zusammen.

"Man Lusche! Den hättest du kommen sehen müssen!", ertönt die einzige weibliche Stimme im Raum, als sich die männlichen Zuschauer wieder zerstreuen. Lange hat der Kampf ja nicht gedauert denke ich bei mir. Oder er war eh fast entscheiden. Auch das wäre möglich.

Bella klettert in den Ring und hilft dem Verlierer auf. Nimmt dann aber auch den Gewinner in den Arm, der sich locker den Schutz vom Kopf zieht.

"Wen hast du denn da mitgebracht?", will der Typ wissen und deutet mit dem Kinn in meine Richtung.

"Frischfleisch!", sagt Bella grinsend und winkt mich zu sich, "Das ist Ian.", stellt sie mich vor, "Und das sind Kuddel und Muddel."

"Ich geb dir gleich 'Kuddel und Muddel' du Zierfisch!", knurrt der größere der Beiden und reicht mir die Hand.

"Kannst Krümel zu mir sagen.", stellt er sich vor. Doch ist der Name wohl kaum besser als der, den Bella ihm gegeben hat. "Und das ist mein Bruder. Tiger."

Kurz frage ich mich, ob das wohl auch nur ein Spitzname ist, doch könnte der Name durchaus zu ihm passen. Zudem ist er eher schweigsam, als er mir die Hand reicht und sich dann von uns entfernt. Er klettert aus dem Ring und verschwindet in einem Nebenraum. Durch eine Scheibe kann man in den Raum sehen, doch scheint sie verspiegelt zu sein. Oder es ist einfach ein Spiegel.

"Mach dir nichts draus. Tiger spricht nie nicht viel.", sagt Bella erklärend, bevor sie Krümel den Arm um die Taille legt und ihm etwas ins Ohr flüstert.

Der junge Mann nickt in eben die Richtung, wo Tiger verschwunden ist und klettert dann wieder aus dem Ring.

"Komm mit!", fordert sie mich auf und folgt Tiger. Auf dem Weg grüßt sie alle möglichen Leute. Schlägt mit etlichen ein und tauscht auch die eine oder andere Umarmung, bis wir schließlich in einer Art Büro stehen.

"Hi Paps!", grüßt sie locker einen bulligen, in die Jahre gekommenen Mann, der mich mit skeptischen Blick mustert.

"Hi Zierfisch. Kommst ja nicht gerade pünktlich heute.", sagt er in tadelndem Ton und wirft einen Blick zur Wand, an der eine Uhr mit zwei Boxern als Zeiger hängt. Und tatsächlich ist es schon nach sieben. Was auch kein Wunder ist. Immerhin stand ich ja beinahe nackt in meiner Wohnung, als sie rein geschneit kam. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass sie die Story auch gleich mal zum Besten gibt.

Ob das ihrem Vater gegenüber jetzt mal so schlau war, wage ich zu bezweifeln. Erschwerend kommt noch das missbilligende Knurren von Tiger, der in einer der Ecken auf einem Stuhl sitzt, hinzu.

"Ach ruhe da hinten!", faucht Bella ihn an, "Ist ja nicht so, als würde ich ständig nackte Männer sehen!"

Sie geht um den Schreibtisch herum und legt ihrem Vater die Arme um den Hals. Gibt ihm einen Kuss auf die Wange und kommt dann wieder auf mich zu.

"Wir ziehen uns dann mal um!", ruft sie den beiden über die Schulter zu, während sie mich schon aus dem Raum schleift.

Zielstrebig steuert sie auf eine weitere Tür zu, hinter der sich ein Umkleideraum befindet. Doch wenn ich gedacht hatte, sie würde jetzt wieder gehen, so habe ich mich geirrt.

"Du kannst deine Sachen hier rein tun." Sie deutet auf einen Spind, der leer ist und zieht sich schon im Nächsten Moment ihr Top über den Kopf und steht nur noch im BH vor mir. Ungläubig starre ich sie an, als sie auch noch ihre knappe Hot Pants einfach auszieht.

Okay! Denke ich nur und wende den Blick jetzt doch von ihr ab. Scheinbar denkt sie sich so gar nichts dabei sich einfach vor mir auszuziehen. Ich werfe ihr gerade noch einen flüchtigen Blick zu, als die Tür aufgeht.

"Hey!", fange ich mir einen aggressiven Tadel von Tiger ein, "Glotz wo anders hin!"

"Tiger!", gibt Bella genervt wieder, "Stell dich nicht so an! Alle anderen haben mich auch schon nackt gesehen!" Sie zieht einen Sport BH an und dreht sich dann zu mir um, während sie ein frischen Top anzieht, erst dann weiten sich erstaunt ihre Augen, als sie sieht, das ich noch nicht umgezogen bin.

"Worauf wartest du?", fragt sie erstaunt bevor sie zu lachen beginnt, "Angst, das ich dir was abgucke?"

Eher, das er mir was einschlägt. Denke ich bei mir und mustere Tigers abweisende Haltung, doch sage ich das nicht. Stattdessen ziehe ich mir mein Shirt über den Kopf und spüre beinahe Tigers forschenden Blick auf mir. Und nicht nur seinen. Doch als er merkt, wie interessiert die Blonde mich betrachtet packt er sie am Arm und schleift sie aus dem Raum.

"Abmarsch Zierfisch! Genug gesabbert!", kann ich ihn noch hören, doch auch Bellas herablassendes: "Musst doch nicht Eifersüchtig sein Ti. Dich kann sowieso keiner ersetzten."

Ich weiß nicht, ob er noch etwas erwidert, doch wenn kann ich es nicht mehr hören, da sich die Türe hinter den Beiden schließt.

Na, das fängt ja gut an. Echt toller Start hier. Oder auch Ende des Tages. Sicher habe ich morgen nicht nur ein Blaues Auge, sondern zwei. Oder drei.

Eines von ihrem Vater. Eines von Tiger; dem Bodyguard und eines von diesem Krümel, den ich für ihren Freund halte. Wobei, vielleicht irre ich mich ja auch.

Sicher werde ich es gleich erfahren, denn inzwischen habe ich mich auch fertig umgezogen und folge den beiden in den Trainingsraum, wo Bella schon auf mich wartet.

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4992 Worte
19.07.17

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