13 Kleine und große Herzen
Der Morgen in der Uni vergeht schnell. Jedoch taucht Kiran nicht auf. Dafür nervt mich allein der Anblick von Jean-Paul. Überheblich schlendert er vor mir und Liandra her den Flur entlang und verkündet lautstark, für welchen Kalender er denn als nächstes vor der Kamera stehen würde.
Und nicht nur mich scheint sein übergroßes Ego anzukotzen.
"Boah! Was für ein Lackaffe!", stöhnt Liandra genervt und hält mich am Ärmel zurück, "Das ist ja nicht zum aushalten!"
Sie wirft mir einen Blick zu, der sie mir noch sympathischer macht und tut, als würde sie sich in den nächstbesten Blumenkübel übergeben.
"Und so was will Arzt werden! Wenn es ihm so toll gefällt sich auszuziehen, dann soll er doch Modell werden."
"Hat er vielleicht versucht. Aber...", schlage ich zwinkernd vor, doch unterbricht sie mich.
"Ja...genau... aber sein Ego stand immer vor der Linse. Oder seine Nase war zu schief. Hast du dir den Zinken mal angesehen?", lästert sie und beginnt schief zu grinsen. Ihr fallen noch so einige Dinge ein, weswegen seine Karriere als Profimodel misslungen sein könnte, doch ist eines abwegiger als das andere.
"Und deshalb will er Chirurg werden. Damit er alles an sich zu Recht schnippeln kann.", beendet sie ihre Tirade, während wir zur letzten Vorlesung gehen.
Plaudernd sitzen wir auf unseren Plätzen, als Kiran plötzlich doch noch auf taucht.
"Hey Baby!", grüßt er Liandra grinsend, doch wirkt er nicht so überschwänglich wie sonst. Auch seinen Augen fehlt das schalkhafte Glitzern, das noch gestern in ihnen zu sehen war.
"Alles klar?" fragt auch Liandra skeptisch, während er mir fest auf die Schulter schlägt und sich lässig auf einen freien Stuhl fallen lässt.
"Logo! Was soll schon sein!" Er zuckt gleichgültig mit den Achseln, wendet sich etwas von uns ab und richtet seinen Zopf. Er grinst in die Runde und fängt dann an seine üblichen Späße mit uns zu treiben, was meinen Eindruck, es wäre irgendwas vorgefallen, vertreibt.
Vielleicht hat er ja nur verpennt oder einen Kater, denke ich bei mir und hole aus meinem Rucksack eine Wasserflasche hervor. Lasse mich von Kiran in eine Fragerunde hineinziehen, mit der er sich nach meinem gestrigen Tag erkundigt.
Er scheint von meinem Job sehr angetan zu sein. Zumindest tönt er großspurig herum, wie gern er mal den Kopf zwischen die Beine einer Frau stecken würde.
"Ferkel!", schimpft Liandra und gibt ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, den er grinsend wegsteckt.
"Gib's doch zu Honey. Bist doch nur eifersüchtig, das ich meinen Kopf nicht zwischen deine Beine stecken will.", kontert er anzüglich und lehnt sich mit Knutschmund zu ihr hinüber. Mit dem Arm zieht er sie an sich und versucht sie zu Küssen. Lachend schiebt sie ihn von sich, wobei beide fast vom Stuhl kippen.
"IHH! Du bist so widerlich Kiran!", beschwert sie sich und wischt sich über die Wange, die der dunkelhaarige Casanova abgeleckt hat. Man könnte fast denken, die beiden kennen sich schon ewig. Kaum zu glauben, dass es erst drei Tage sind. Doch Kiran macht es einem leicht.
Er lacht eigentlich ständig. Hat immer einen lockeren Spruch auf Lager und ist absolut auf dem Teppich geblieben.
Ich mag ihn. Anders als das Sackgesicht, das gerade mit einem Stück Kreide auf Ricardo zielt.
"Was hat der eigentlich für ein Problem?!", knurre ich gereizt und nicke in seine Richtung. Jean-Paul sitzt etwa drei Reihen unter uns und nur zwei über dem "Kleinen". "Warum dürfen solche Idioten eigentlich überall frei herumlaufen?!"
Ricardo zuckt erschreckt zusammen, als ihn das Wurfgeschoss am Hinterkopf trifft, doch anstatt sich nach dem Schützen umzudrehen zieht er den Kopf ein und scheint auf seinem Stuhl zu schrumpfen. Anders als Kiran, der mit leicht zusammengekniffenen Augen aufsteht und locker die Stufen nach unten trabt.
Ich sehe, wie er ein fröhliches Grinsen aufsetzt, sich lasziv auf den Stuhl neben Rico fallen lässt und seinen Arm um den Jungen legt. Irgendwas scheint er ihm zu erzählen, was sein bleiches Gesicht in ein kräftiges Rot taucht. Kiran's Lachen ist durch den ganzen Saal zu hören und es kommt mir so vor, als würden aller Augen nur auf ihm liegen.
Doch täuscht das. Kiran sitzt noch eine Weile bei Ricardo, der einen eingeschüchterten Eindruck macht, doch bevor unser Dozent den Raum betritt kehrt er zu uns zurück.
Fragend sehen wir ihn an, doch schüttelt er grinsend den Kopf. Auch als Liandra versucht ihn auszuhorchen schweigt er.
Dafür betritt ein recht junger Mann den Raum, der sich uns als Jordan Rickling vorstellt und uns in die Mysterien der menschlichen Anatomie einführt. Ein für mich sehr spannendes Thema, dem ich nur zu gerne lausche.
Er hat seinen Vortrag jedoch kaum beendet, da springt Kiran auf. Packt seine Tasche und sprintet mit einem knappen: "Bye!", die Treppe hinunter und lässt uns mit verwirrten Gesichtern zurück.
"Der hat es aber eilig!", wundert sich Liandra mit erstauntem Gesicht. Streicht sich über den Nacken und sieht mich dann fragend an. Doch kann ich nur ratlos mit den Schultern zucken.
Keine Ahnung, was mit ihm los ist.
"Vielleicht geht's seiner Rosa noch immer nicht besser.", schlage ich vor, während wir nach draußen gehen.
"Rosa? Was ist denn mit der Klapperkiste?", fragt Liandra skeptisch, doch klingt sie nicht so, als würde es sie wirklich interessieren, weshalb ich knapp: "Schott!", sage.
Sie lacht leise auf und schüttelt mit verdrehten Augen den Kopf.
"Ich hoffe er beerdigt sie schnellstmöglich!", murmelt sie leise, was mich darauf bringt, sie zu fragen, ob ich sie mitnehmen soll, doch hat sie noch immer frei.
"Ich muss erst am Donnerstag in die Klinik. Dafür aber bis Samstag.", erklärt sie mir und verabschiedet sich dann Richtung Bushaltestelle und so fahre ich diesmal allein zur Uni. Ich sehe zwar einige aus meinem Semester an der Haltestelle stehen, nicht zuletzt Ricardo, doch wer weiß, ob er überhaupt zur Klinik fährt und nicht irgendwo anders hin.
Der Klinikparkplatz kommt mir mittlerweile schon wie ein zweites Zuhause vor, als ich aus meinem Auto steige und mich dieses mulmige Gefühl beschleicht.
Meine Gedanken beginnen zu kreisen und egal wie sehr ich auch versuche, diesen einen Punkt zu ignorieren, es gelingt mir nicht.
Immer wieder komme ich zu demselben Gedanken. Und das ist Mia.
Was sie wohl gerade macht? Schon drei Tage habe ich sie nicht gesehen. Ob sie wohl Fortschritte macht? Und wie wohl ihr Treffen mit Mel war? Haben sie sich überhaupt getroffen? Vielleicht hat Jason Mel ja gar nicht zu Mia gehen lassen?
Ach was! Mel hätte sich niemals von jemandem abhalten lassen zu ihrer besten Freundin zu gehen. Oder ob Mia sie auch zurückgewiesen hat? Möglich wäre es, doch hätte ich das sicher gemerkt, als Mel und Jason am Montag bei mir waren.
Nein. Ich hoffe, das Mia sie ebenso akzeptiert hat wie...wie...ich mag den Namen nicht mal denken! Mit zur Faust geballten Hand und energischen Schritten betrete ich das Gebäude. Ich achte kaum darauf, wo ich hin gehe. Sehe nicht, was um mich herum geschieht. Nur diese aufwühlenden Gedanken beherrschen mich.
Bis von irgendwoher ein Geräusch an mein Ohr dringt, dass mich innehalten lässt. Es klingt wie ein Lachen. Glockenhell und klar. Fröhlich und mir so vertraut, dass es nur von ihr kommen kann. Wie erstarrt stehe ich mitten im Raum. Links die Info. Rechts die Fahrstühle. Vor mir den Gang entlang liegen eine Apotheke und der Kiosk. Doch wo das Geräusch her kommt kann ich nicht sagen. Vielleicht auch deshalb, weil ich es nicht mehr höre.
Blinzelnd, mit heftigem Herzklopfen stehe ich da und lausche angespannt. Sehe in alle Richtungen und sehe...nichts. Nichts, was Mias Lachen in meinen Ohren erklären könnte.
Ich sollte mich echt zusammenreißen! Sonst werde ich noch verrückt, wenn das die nächsten Wochen so weiter geht.
Ich sollte sie einfach vergessen. Aufhören, darauf zu hoffen, sie zu sehen. Ihre Stimme oder auch ihr Lachen zu hören.
Tief atme ich durch, dann mache ich mich endgültig auf den Weg in den dritten Stock und somit an die Arbeit.
Heute schickt mich Schwester Nicole postwendend rüber auf die Neugeborenenstation, wo ich mit einer der Schwestern durch die Zimmer gehe um Windeln, Strampler, Babyöl und was sonst noch alles aufzufüllen.
Es ist eine einfache Sache, ohne jeden medizinischen Hintergrund. Ich bin dennoch nicht abgeneigt auch diesen Teil der Arbeit zu übernehmen. Als wir anschließend ins Säuglingszimmer zurückkehren, steht Dr. Drea mit einem Säugling am Wickeltisch und horcht ihn ab. Sein Blick ist konzentriert nach innen gerichtet, doch als er fertig ist und mich bemerkt, winkt er mich zu sich.
"Sie sind doch der neue Medizinstudent? Erstsemester? Richtig?", will er wissen und hält mir das Stethoskop hin, als ich nicke.
"Na, dann zeigen sie mal, was sie können." Er grinst mich vergnügt an und tritt zur Seite. "Wollen sie etwa nicht?", scheinbar erstaunt sieht er mich an, als ich nicht reagiere. Nur weiß ich gar nicht, was er von mir erwartet.
"Nun kommen sie schon. Hören sie einfach hin." Er drückt mir das Stethoskop in die Hand und deutet auf den kleinen Jungen. Zögerlich stecke ich mir die Stöpsel in die Ohren und lege den runden Metallkopf dorthin, wohin Dr. Drea deutet.
"Hören sie ganz genau hin. Was hören sie?", fragt er mich. Ich beginne angestrengt zu lauschen, doch weiß ich nicht, was er meint.
"Es rauscht ziemlich.", sage ich nachdenklich, "Und das Herz schlägt schneller als ich dachte. Und irgendwie...also ich weiß nicht, da ist so ein...so ein...ich kann es nicht beschreiben."
Ratlos breche ich ab und als ich in das Gesicht des Arztes sehe, überkommt mich ein Gefühl, als hätte ich gerade einen Haufen Müll von mir gegeben. Unbehaglich reiche ich ihm das Stethoskop zurück.
"Gab es überhaupt etwas zu hören?", will ich wissen und fühle mich regelrecht vorgeführt, als Arzt und Schwester einen belustigten Blick tauschen.
"Natürlich.", versichert mir der Doc und überlässt den Säugling der Schwester, die ihn wieder anzieht und in sein Bettchen legt. "Sie wurden gerade Zeuge eines atemberaubenden Phänomens.", sagt er bestimmt. Sieht mich an, als müsste ich wissen, wovon er redet, doch habe ich keinen Schimmer.
"Leben.", klärt er mich schließlich lachend auf, "Sie haben ein junges, gesundes Herz gehört, Herr...?"
Er sieht mich fragend an, weshalb ich leicht brummig: "Jähn.", sage. "Ian Jähn."
Ich wusste, er hat mich vorgeführt. Zumindest hatte ich so einen Verdacht, der sich etwas Abschwächt, als er mir zu erklären beginnt, was ich gehört zu haben meinte.
Irgendwie muss ich wohl verrutscht sein und das, was ich zu hören geglaubt habe, war das Rauschen der Luft in den Lungen. Nicht schlimm für den Anfang, doch solle ich beginnen, mich mit den Geräuschen vertraut zu machen, die Herzen so von sich geben.
Als er nach längeren Erklärungen an mich das Zimmer verlässt, bin ich regelrecht in Gedanken vertieft, was nicht damit zusammenhängt, was er mir erklärt hat, sondern mit dem Thema, über das wir geredet haben.
Herzen.
Ich solle anfangen auf sie zu hören. Doch wenn ich auf meines hören würde, würde ich wohl augenblicklich diese Station verlassen und einige Stockwerke nach oben fahren, nur um zu erfahren, ob Mias Herz nicht doch noch mit meinem im Gleichtakt schlägt. Oder wenigstens parallel zueinander. Vielleicht treffen sie ja auch nur 1x alle paar Minuten zur selben Zeit aufeinander. Das alleine würde mir ja schon reichen. Oder sie bleiben gleichzeitig stehen. Vielleicht, wenn wir uns ansehen. Wie damals. Nach der eiskalten Nacht, als ich sie auf der Treppe vom Internat gefunden habe. Da hat mir der Arzt gesagt, sollte ihr Herz jemals vergessen zu schlagen, sollte ich sie nur ansehen, dann würde es schon wieder den richtigen Rhythmus finden. Oder auf jeden Fall einen kleinen Spurt einlegen. Er hatte es mir zugeflüstert, so das Mia es nicht hörte, doch das verlegene Lächeln, dass sie mir schenkte, als ich den Raum betrat, ließ auch mein Herz ins Stocken geraten.
Noch immer in Gedanken versunken kehre ich ins Schwesternzimmer zurück, wo ich prompt ins Visiert von Oberdrache Fröhlich gerate, die mich mit verkniffenem Gesichtsausdruck fixiert.
"Du.", winkt sie mich in den Raum, "Du siehst aus, als hättest du nichts zu tun. IST das SO?", fragt sie scharf. Im Grunde hat sie zwar recht, aber nur, weil mir niemand etwas gesagt hat.
"Ich...", beginne ich noch immer nicht ganz anwesend, doch ist es ihr wohl sowieso egal, was ich sagen wollte, denn sie fällt mir resolut ins Wort.
"Gut, dann gehen sie jetzt mit Frau Petersen zur Frühgeborenenintensiv. Sie WISSEN doch wo das ist!", Ihre letzten Worte Klingen nicht wie eine Frage. Eher wie eine Drohung, doch weiß ich tatsächlich, wo die Intensivstation ist und so nicke ich zustimmend, was das Monster vor mir mit einem skeptischen Blick zur Kenntnis nimmt.
"Gut. Worauf warten sie dann noch?!" Sie deutet Richtung Tür, so dass ich auf dem Absatz kehrt mache und ins Vorzimmer zurückkehre. Auf der Tafel, wo die Patientennamen und die Zimmer vermerkt sind schaue ich nach, wo ich Frau Petersen finde und gehe dann in Zimmer 309 um sie abzuholen.
Leise Klopfe ich und trete dann ein.
"Frau Petersen?"
Rücksichtsvoll betrete ich das Zimmer und sehe, wie sie mir aufmerksam den Blick zuwendet. "Ich soll sie auf die Intensivstation begleiten.", erkläre ich auf ihren fragenden Blick hin, was sie mich unsicher anlächeln lässt.
Sie steht sehr vorsichtig auf und hält sich den Bauch. Nachdem sie sich in einen Rollstuhl gesetzt hat schiebe ich sie nach draußen. Sie wirkt traurig. Redet nur wenig auf dem Weg in den sechsten Stock, was es mir nicht gerade erleichtert nicht an Mia zu denken. Unaufhaltsam bringt uns der Fahrstuhl immer näher an sie heran. Vierter Stock. Fünfter Stock. Jetzt sind es nur noch zwei Stockwerke bis zu ihr... Im sechsten Stock hält der Fahrstuhl und ich muss mich geradezu dazu zwingen auszusteigen. Wie gerne würde ich einfach weiter fahren.
Ganz gleich, ob Mia mich sehen will oder nicht. Ich könnte ja einfach so tun als ob...
"Würden sie wohl mal...?", reißt mich die heisere Stimme von frau Petersen aus meinem Inneren Zwiespalt und deutet auf einen Knopf, der gleich neben einer Milchglastür an der Wand hängt. Meine Füße haben mich ganz ohne mein Zutun bis hier her getragen. Hin zur Intensivstation.
"Natürlich.", versichere ich schnell und betätige die Klingel.
Es dauert nicht lange und wir werden eingelassen. Nachdem wir uns sterile Kleidung übergezogen haben; Ich wundere mich etwas, dass ich jetzt nicht gehen muss; betreten wir die Station.
In dem Raum, in den uns die Schwester führt, stehen sechs gläserne Bettchen. Nicht alle sind komplett verschlossen und auch nicht alle sind belegt, doch das Bett, zu dem wir geführt werden, ist vollkommen aus durchsichtigem Material gefertigt. Es gibt auf beiden Seiten kleine verschlossene Luken durch die man die Hände schieben kann.
"Hier ist ihre kleine Maus.", sagt die Intensivschwester freundlich. Sie lächelt uns aufmunternd an, doch hat Frau Petersen keinen Blick für sie übrig.
"Atmet sie noch?", will sie mit brüchiger Stimme wissen und ringt die Hände in ihrem Schoß.
"Natürlich. Sie braucht noch Unterstützung, aber in der letzten Nacht hatte sie nicht einen Atemaussetzer.", versichert sie ihr aufmunternd und streicht ihr mitfühlend über die Schulter.
Frau Petersen wagt nicht den Blick von dem Mädchen zu wenden, das mit allerlei Kabeln und Schläuchen behängt ist. Auch ich kann nur staunen, was mit der heutigen Technik alles möglich ist. Ich habe keine Ahnung, wie alt das Baby ist, doch ist ihre Haut so durchscheinend wie Pergamentpapier. Ihr Kopf im Vergleich zu meinem Handteller winzig. Hände und Füße sehen so zerbrechlich aus, als wären sie aus Glas.
Ein unbehagliches Gefühl macht sich in mir breit. Es fühlt sich beklemmend an dieses kleine Wesen, so ungeschützt in diesem Bettchen liegen zu sehen. Und doch fasziniert es mich auch. Die Kleine Schläft und doch bewegt sie sich. Ihre Arme zucken ab und an. Sie öffnet und schließt ihre winzigen Finger und zieht die spindeldürren Beinchen an, bevor sie sich gähnend streckt.
Ich bin so von diesem Winzling gefesselt, dass ich kaum mitbekomme, wie Frau Petersen zu schluchzen beginnt. Hilflos schaue ich mich nach der Schwester um, die aber nicht mehr da ist, dafür steht in der Nähe eine Packung Tücher, die ich der jungen Mutter reiche.
"Sie sieht so schwach aus.", flüstert sie mit zitternder Stimme und wirft mir einen verzweifelten Blick zu, dann will sie von mir wissen: "Wofür sind nochmal die Schläuche, da in der Nase?"
"Tut mir leid. Das kann ich ihnen nicht sagen. Ich habe erst diese Woche mit meinem Studium begonnen.", sage ich entschuldigend, biete ihr dann aber an, die Schwester zu hohlen. Doch lehnt Frau Petersen ab.
Bestimmt eine halbe Stunde stehen wir einfach nur da und sehen der Kleinen beim Schlafen zu. Lauschen dem gleichmäßigen auf und ab der Beatmungsanlage und dem leisen piepen des Monitors.
Das Herz des Mädchens schlägt ziemlich schnell, doch wie Dr. Drea mich vorhin aufgeklärt hat ist das für ein Baby ganz normal und so beruhige ich Frau Petersen, als auch sie dies bemerkt.
Meine Schicht ist inzwischen schon um, doch selbst wenn ich wollte, ich könnte die verzweifelte Mutter nicht von ihrem Kind trennen. Doch muss ich das auch nicht, denn nach weiteren zehn Minuten bittet sie mich sie wieder zurück zu bringen. Sie hat das Mädchen nicht ein Mal berührt. Hat sich nicht einmal getraut das Bettchen anzufassen und selbst als die Schwester ihr angeboten hat, die Kleine auf den Arm zu nehmen, lehnte sie ab.
Als wir auf dem Weg zurück zum Fahrstuhl sind, weint sie Still. Die Packung Tücher hat sie noch auf dem Schoß. Schweigend stehen wir vor dem Fahrstuhl und warten, dass er uns wieder nach unten fährt, als sie nach meiner Hand greift und sie krampfhaft festhält.
Bitterlich beginnt sie zu weinen, so dass ich mich vor sie knie und versuche ihr Mut zuzusprechen: "Das wird schon. Larissa ist stark. Sie schafft das schon.", sage ich zuversichtlicher als ich mich fühle. Doch auch die Schwester hat ihr versucht Mut zu machen.
Hinter mir kommt der Fahrstuhl zum Stehen und mit einem Läuten öffnen sich die Türen. "Sie werden sehen. In ein paar Tagen geht es ihr bestimmt schon besser."
Frau Petersen versucht sich an einem tapferen Lächeln: "Bestimmt haben sie recht."
Sie gibt sich wirklich mühe sich zusammenzureißen und so richte ich mich auf und schiebe sie in den Lift, doch als ich den Blick hebe, diesen Duft wahrnehme, der plötzlich die Luft im Fahrstuhl in eine sengende Wüste verwandelt, bleibt nicht das Herz des Babys stehen, sondern meines.
In einer Ecke des Fahrstuhls steht, wie sollte es anders sein Mia und starrt mich ungläubig an. Ich wage kaum zu atmen. Habe das Gefühl hier, mit ihr, so dicht bei mir, zu ersticken. Meine Finger beginnen zu kribbeln, und ich weiß, dass ich viel zu flach atme. Mein Herz rast inzwischen, nachdem es den ersten Schock verkraftet hat. Und ich kann nicht anders als sie anzustarren.
"Würden sie wohl mal auf die drei drücken.", bittet Frau Petersen sie. Mia steht mit ihrem Rollstuhl direkt neben dem Bedienfeld und ich müsste mich über sie lehnen, wenn ich selbst den Knopf betätigen wollte.
Angespannt schlucke ich. Ich kann einfach nicht den Blick von ihr wenden und zusätzlich hat es mir die Sprache verschlagen. Sie sieht einfach umwerfend aus.
Ihre schmalen Beine und Hüfte stecken in einer engen Jogginghose. Ihren Oberkörper verdeckt nur ein hautenges Top. Ihre Lippen sind leicht geöffnet und ihre Wangen schimmern rosig. Unfähig mich zu bewegen schaue ich ihr in die Augen, die voller Lebendigkeit funkeln. Wie Flüssige Schokolade glänzend, graben sie sich angriffslustig in meine, was mich wieder ins hier und jetzt zurückkatapultiert.
Mit einem Ruck, den ich versuche so natürlich wie möglich erscheinen zu lassen wende ich mich von ihr ab. Ich grüße sie nicht. Spreche sie auch nicht an. Ich tue einfach so, als wäre sie nicht da und lege sattdessen meine Hand auf Frau Petersens Schulter und streichele sie aufmunternd, als sie erneut zu weinen beginnt.
Meine Starre hat nur wenige Sekunden gedauert, doch kam sie mir vor wie eine Ewigkeit. Obwohl ich Mia jetzt nicht mehr ansehe. Eher mit dem Rücken zu ihr stehe, sehe ich sie noch immer gestochen scharf vor meinen Augen. Ihr verführerischer Duft, den ich so lange vermisst habe raubt mir den Verstand und ihre verschlossene Mine macht mich wütend.
Ich hatte so gehofft, die drei Tage ohne mich hätten auch nur irgendwas geändert aber anscheinend...
Voller Schmerz schließe ich die Augen und versuche zumindest Äußerlich unbeteiligt zu wirken. Ich rede in ruhigem Ton mit der weinenden Frau und spreche ihr Mut zu. Schaffe es sogar, dass sie ein ersticktes Lachen von sich gibt, bevor wir im dritten Stock ankommen.
Die Türen öffnen sich. Wir steigen aus. Ich gehe ohne mich umzusehen einfach los. Mein Herz schreit. Meine Seele zerreißt und eigentlich müsste Mia meinen verzweifelten Kampf hören. Den Schrei hören, mit dem ich sie anflehe, mich aufzuhalten. Doch schließen sich die Aufzugstüren, ohne dass auch nur ein Laut über ihre Lippen gekommen ist.
Dafür sacke ich im Umkleideraum kraftlos auf der Bank zusammen, nachdem ich Frau Petersen in ihr Zimmer zurückgebracht habe.
Vom "fröhlichen" Teufel durfte ich mir noch eine Predigt anhören, warum wir so lange weg waren, doch perlen ihre Worte an der Eisschicht ab, die Mias stille Zurückweisung um mein Herz gelegt haben.
Und jetzt sitze ich hier. Innerlich von der Verzweiflung verschluckt, die mich zu ersticken droht.
Einige Augenblicke lasse ich sie zu. Lasse ich zu, zu ersticken. Zu ertrinken. Erdrückt zu werden. Doch dann fahre ich mir resolut durch die Haare. Schmeiße meine Arbeitssachen in den dafür vorgesehenen Sack und ziehe mich an. Auf dem Weg nach unten halte ich mich aufrecht. Ich werde mich von einem beschissenen Liebeskummer verdammt noch mal nicht um den Verstand bringen lassen!
Was ist Mia schon?!
Sie ist doch einfach nur ein Mädchen! Wie jedes andere auch! NUR ein Mädchen! Verdammt noch mal! Davon gibt es Millionen auf der Welt!
Rede ich mir ein.
Doch schaffe ich es nicht endgültig, diese Stimme zum Schweigen zu bringen, die mir versucht weiß zu machen, dass es aber nur dieses eine Mädchen gibt das ich liebe.
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3650 Worte
3.7.17
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