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„Hast du auch was gegen Übelkeit eingepackt?" So ging es schon seit etlichen Minuten. Meine Mutter schaffte es meinen gesamten Kofferinhalt aufzuzählen.
„Warum machst du das? Eine Frau, alleine auf einem Schiff voller Männer."
Mein Vater und seine alten Ansichten... Er schenkte bisher allen männlichen Passagieren mordende Blicke.
„Es ist mein Traum, Babi", versuchte ich ihn mit der albanischen Bezeichnung für Papà milde zu stimmen. Alles, was ihn in seine Heimat zurückversetzte, schätzte er.

„Wir vertrauen dir, aber wenn irgendwas schief laufen sollte, dann stehen dir die Türen des Restaurants immer offen. Es gehört dir und Ardian, das weißt du", erinnerte mich Mamma an die Bestimmung, die sie für mich vorgesehen hatten. Ich sah mich in der Zukunft nur nicht jeden Tag an der selben Stelle, mit den selben Klienten und den sich ständig wiederholenden Tätigkeiten.
Da gab es mehr, vor allem in den Schatten dieser Welt. Meine Finger und Fußzehen kribbelten vor Verlangen dieses riesige Schiff zu erklimmen.

„Kujdesu per veten, dashuria ime", flüsterte mein Vater mir ins Ohr, in einer Umarmung, die drohte meine Organe platzen zu lassen. „Pass auf dich auf, unsere Liebe", übersetzte meine Mutter und drückte darauf ihre Lippen gegen meine Stirn. Sie wusste, dass ich kaum noch ein Wort auf der Sprache meines Vaters verstand. Wer konnte es mir auch verübeln? Wir waren aus Albanien ausgewandert, da hatte ich noch Windeln getragen.
„Ich werde euch vermissen." Darauf packte ich die Koffer bei den Griffen und rollte sie hinter mir her auf den Steg in mein neues Leben.

Nun trennte uns das Wasser von einander. Es schmerzte, sie dort stehen zu sehen, Mamma, wie sie Halt an Papàs Arm suchte. Sie bedeuteten Zuhause für mich und dieses verließ ich nun für ganze sechs Wochen. Angst und Unsicherheit erschwerten meine Flügel, die mich eben noch auf diese Reise gezwungen hatten. Wir sahen uns durchgängig einfach nur an, bis sich die 'Arielle Adventure' in Bewegung setzte. Je kleiner meine Eltern wurden, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich jetzt auf eigenen Beinen stehen musste. Es lag nun daran, zu beweisen, ob ich meinen eigenen Wünschen gewachsen war. Ich atmete tief durch, in der Hoffnung, die Vorfreude siegte über die Ängste eines kleinen Mädchens.

Die Krämpfe in meinen Händen siegten. Koffer, die für sechs Wochen gepackt waren, wogen viel, stellte ich fest. Nummer 510 rief ich in meinen Gedanken ab. Erstmal musste ich mein Gepäck loswerden und ein Blick in meine vorläufige Unterkunft zu werfen, konnte auch nicht schaden.
Ich folgte den Schildern zu den Kabinen und kam dabei nicht aus dem Staunen heraus. Vermutlich verlief ich mich deswegen ganze drei Mal, um am Ende auch noch mit Krämpfen in den Waden zu kämpfen. Im inneren des Dampfers, zählte ich fünf Modeboutiquen, einen Friseur, zwei Parfümerien und unzählige Cafés, bis ich in den Gang zu den privaten Zimmern einbog.
Für Antonella wäre es das Paradies gewesen und bei dem Gedanken, vermisste ich meine beste Freundin jetzt schon.

Der prunkvolle Kronleuchter des Foyers, fand sich auch in dem schmalen Gang wieder, nur in kleiner. Meine Chucks wirkten fehl am Platz über dem roten Teppich. Er glänzte wie Samt. Nicht einen Krümel entdeckte ich auf dem Weg zu meinem Zimmer.

"510", murmelte ich zu mir selbst, als die goldene Nummer direkt vor meinem Gesicht erschien.
Ich steckte meine Karte ein und öffnete die Tür.

Es erschlug mich beinahe. Die Wände und der Boden waren mit dunklem Holz verkleidet.
Durch die schmalen Luken, am oberen Rand des Raumes, zwängten sich nur ein paar Sonnenstrahlen. Nach nur einem Schritt, den ich zögerlich tätigte, stand ich bereits zwischen Bett, Schrank und Schminktisch. Ich streichelte kurz über die braunen Sterne der Bettwäsche.
Dann erblickte ich mich und schob mir schnell die Haare streng hinter die Ohren, um wenigstens ein bisschen Ernsthaftigkeit zu bewahren. Es fühlte sich nur alles so befremdlich an. Zuhause besaß ich ein größeres Zimmer mit großem Fenster, eingerichtet in hellen Farben.

Nach einem weiteren Schritt, stand ich bereits im Badezimmer, welches keinen großen Unterschied machte. Das selbe Holz und kaum Beinfreiheit. Für viele bestand daraus wohl der Charme einer Kreuzfahrt, doch mich engten diese massiven Wände ein.

Ich ließ mich mit meiner Tasche auf das Bett fallen. Was mir in solchen Situationen meistens half, war Struktur. Also notierte ich mir einen Tagesplan. Heute stand nichts seitens des Organisators Herrn Ogliastra an, erst am nächsten Morgen wieder.
Saal 2 aufsuchen, Eiskaffee trinken, Aussicht genießen, schrieb ich auf, als könnte ich es mir anders nicht merken.

Saal 2 befand sich ein Stockwerk tiefer. Ich umfasste das verzierte Geländer aus glatt lackiertem Holz und ging die Treppe hinab. Sie führte direkt vor mein Ziel, einfach zu finden, die Klapptüren waren allerdings verschlossen. Gut, ich wollte ihn ja nur finden, um ihn am nächsten Tag möglichst schnell zu erreichen. Wäre ja peinlich, wenn ich gleich zur ersten ach so wichtigen Rede, wie Yvette sie nannte, zu spät kommen würde.

Ich wanderte wieder Schiff aufwärts, betrachtete dabei die LEDs unter den Stufen, welche die Farbe wechselten, sobald sie betreten wurden. Mein nächstes Ziel sollte ein Café sein und bei meinem kleinen Glück, hatte ich einen kleinen Stand auf dem Hinweg bemerkt. Ganz spontan beschloss ich den Eiskaffee und die Aussicht zu verbinden. Die nette asiatische Frau bereitete mir einen großen Becher mit hübschem Sahnekrönchen zu.

Ich war erstaunt, wie schnell ich mich auf diesem Schiff auskannte, denn ich fand auch den Weg zum Deck recht schnell. Entweder der schlechte Orientierungssinn reichte doch, oder die Beschilderung der Crew tat gute Dienste.

Das Deck bestand aus einer Bar, die leise Musik spielte, einem Pool und ganz vielen weißen Sitzbänken. Ich drehte mich. Wir schwebten mitten im Mittelmeer. Ich verliebte mich sofort in diesen Ort, der mir pure Freiheit schenkte. Der raue Wind zerrte an meinem Rock und meine offenen Haare flogen in alle Richtungen. Es störte mich nicht im geringsten, ich genoss es. Einmal meinte ich sogar, mich kurz auflachen gehört zu haben. Kayden rückte in die Ferne, mein Bruder, diese Nacht...

Ich stoppte abrupt und merkte erst jetzt, wie schwindelig mir durch mein umher Wirbeln wurde.
Alles drehte sich, nur dieser Mann, den ich zufällig entdeckte, stand still.
Seine sehnigen Hände umgriffen die Rehling. Waren seine Haare grau? Nein, sie glänzten in der untergehenden Sonne, wie geschmolzenes Silber. Es handelte sich hier wohl um seine Lieblingsfarbe. Das Kettchen und die extravaganten Ohrringe ließen es vermuten. Der graue Anzug saß wie maßgeschneidert.
Die straffe Muskulatur vollendete das Bild des stählernen Mannes, an dem ich mich nicht satt sehen konnte.

Er kam mir näher, nein Halt, ich schlich mich an ihn heran. Ich stoppte mich selbst, als wäre ich gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.

„Hallo." Die Worte hüpften zwischen meinen Lippen hervor, ohne meine bewusste Zustimmung. Vor Schreck klatschte ich mir noch die Hände vor den Mund. Mein Handeln ähnelte mir nicht, es ähnelte gar keinem gesellschaftstauglichem Wesen. Wenn mich hier jemand sah, dann würde Yvette gleich die Nachricht erhalten, dass sie eine Geistesgestörte ausgebildet hatte. Nein, sie kannten mich doch noch gar nicht. Noch nicht.

Ich ließ meine Sicht vorsichtig nach links und rechts schweifen. Jeder war mit sich beschäftigt, außer er. Seine grauen Augen trafen mich mit der Wucht einer steinernen Lawine.
Sein abschätziger Blick scannte mich von oben bis unten. Endlich sanken meine Arme und doch stand ich seltsam gebückt da. Seine Lider zuckten kurz zusammen und ich glaubte, dass er seinen Kopf ein ganz wenig schüttelte.

In mir stieg Ärger auf. Einmal darüber, dass ich die Kontrolle verloren hatte und mich gegen meiner Natur benahm. Aber auch, weil er sich einfach wieder umdrehte, als sei ich nichts wert. Als sei ich Müll, der kurz seinen Aufenthalt auf diesem Schiff verschmutzte.

Diesmal ging ich entschlossen auf ihn zu und tippte ihm gegen die Schulter. Ich traf gegen eisernes Gewebe unter diesem teuren Stoff des Jacketts.
„Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, höflich zu grüßen", wollte ich wissen, dabei kam meine Tonart einem verbalen Angriff gleich.

Der unverschämte Typ wandte sich in Zeitlupe wieder an mich. Seine dichten Augenbrauen warfen Schatten, so dass das helle Grau so dunkel erschien, wie der Himmel kurz vor einem Gewitter. Auf meine Haut legte sich sogar eine feine Gänsehaut, doch ich verbot mir, meine Arme schützend um mich zu legen. Stattdessen straffte ich die Schultern und starrte ihn genauso nieder.

Der Mann begann mit seinen Fingern Zeichen zu formen. Erst verstand ich nicht, was er tat, doch dann dämmerte es mir. Von meinen Vorurteilen dieser makellosen Gestalt gegenüber geleitet, hatte ich eben einen Taubstummen blöd angemacht. Oh mein Gott und jetzt wusste ich beim besten Willen nicht, wie ich mich erklären sollte. Am liebsten wäre ich vor Scham von Bord gesprungen. Von Gebärdensprache hatte ich keinen blassen Schimmer und er schien auf eine Reaktion zu warten.

Eine seiner perfekt geformten Brauen zog sich in die Höhe. Ich hob schnell beide Daumen in die Höhe und winkte anschließend, um mich dann vom Acker zu machen. Die letzten Stufen zur Etage drunter übersprang ich.

Hier unten konnte ich auch an der Rehling stehen und die Ferne zumindest von einer Seite betrachten. Das unendlich scheinende Gewässer schien ohnehin aus jedem Winkel gleich auszusehen. Vor mir tauchte die Sonne ins Wasser. Sie verlor ihr Feuer in den Wellen. Ich schlürfte die letzten Züge aus dem durchsichtigen Plastikbecher.

Noch immer wusste ich nicht, was eben mit mir passiert war. Mein Körper funktionierte wie ferngesteuert. Sobald ich an sein Gesicht dachte, schaltete sich ein Teil meines Gehirns wieder ab.

Er sah gut aus, zu gut für meinen Geschmack, da ich eher die natürlichen Männer bevorzugte.
Ihn umgab allerdings eine Aura, eine die alles um seinen Umkreis einnahm und in Eis verwandelte. Mir war das Blut in den Adern gefroren.
Er hörte und sprach nicht, was als Schwäche galt, doch ich wurde unterdrückt von seiner Stärke. Dieser Mann musste ein hohes Tier unter den Beamten sein, dem war ich mir sicher.

Nachdem ich den nächsten Mülleimer gefunden hatte, begab ich mich wieder auf mein Zimmer.
Der Fernseher sollte mir Gesellschaft leisten, doch ich schlief ein.
Ich merkte erst, dass ich eingeschlafen war, als der erste von fünf gestellten Weckern klingelte. Diesmal brauchte ich nur den einen, weil die Aufregung sich durch all meine Sinne fraß. Gleich würde ich neben vielen internationalen Kollegen sitzen. Deren erster Eindruck könnte über meine Zukunft entscheiden, mögliche Kooperationspartner, gemeinsame Projekte, Dinge, die mich weiter brachten.

Zu diesem Anlass holte ich einen schicken Blazer aus meinem Schrank, den ich mit einem grauen knielangen Etuikleid kombinierte. Anto hatte mit mir die Outfits für die wichtigen Anlässe zusammen gestellt. Der Blick auf mein Samsung enttäuschte. Keine Nachricht von ihr und auch sonst keinem.

Nach der Dusche und dem Anziehen packte ich noch meinen Notizblock und Schreibmaterial ein. Selbst die Willkommensgrüße und Danksagungen verdienten es verewigt zu werden.
Dann ging es los. Ich fühlte mich in die guten alten Schulzeiten zurück versetzt, nur dass ich hier nichts und niemanden kannte. Langsam erkannte ich selbst als Einzelgänger, was Einsamkeit bedeutete. Allein sein zu wollen und allein sein zu müssen, machte den Unterschied.

An jenem Morgen standen die Türen zu Saal 2 zu beiden Seiten offen. Es wirkte mehr wie ein übergroßes Café mit Podest im vorderen Teil, als einem Saal für Sitzungen und Besprechungen. So kam es auch, dass sich bereits Grüppchen an den runden Tischen zusammenfanden und genüsslich frühstückten. Nur ich stand da, wie bestellt und nicht abgeholt. Ich entschied mich für den hintersten Platz, nahe des Ausgangs. Um beschäftigt und nicht nervös auszusehen, packte ich meinen Block und einen Bleistift aus, trug gleich noch Datum und Uhrzeit ein.

„Was für schöne grüne Augen." Meine Augen wanderten an der nackten Schulter einer jungen Frau hinauf. Ihre blutroten Haare glänzten wie geschliffene Rubine, die Haut strahlte makellos, wie das eines kleinen Kindes. Sie warf mich um mit ihrer weiblichen Eleganz.
„Hallo, Nivia Shehu, Beamte im mittleren Dienst, stationiert in Cesena." Ich merkte gleich, soziale Kompetenzen wurden während der Ausbildung nur geringfügig geschult. Mir fiel es so schwer neue Personen kennenzulernen. Bei anderen sah es so natürlich aus. Sie mussten sich nicht mal anstrengen. Die Frau schmunzelte, als sie für Sekunden den Tisch aus Mahagoni musterte. Ihre spitze, kleine Nase verlieh ihr etwas Listiges.
„Fiamma Morena, SEK, Berlin", stellte sie sich vor und ergriff schließlich meine ausgestreckte Hand.
Wow, eine Frau aus Italien beim Sondereinsatzkommando in Deutschland, bewunderte ich sie jetzt schon.

Mir fiel ein ganzes Interview an Fragen zu ihrem Werdegang ein, doch ehe ich auch nur eine stellen konnte, erklang das Mikrofon. Mein Blick klebte noch an ihr, als der Veranstalter seine Rede startete. Sie plagte keine Spur von Aufregung, indessen ich unter dem Tisch meine Nagelhaut demolierte. Fiamma stützte ihren Kopf lässig auf ihren angewinkelten Ellenbogen ab.
Ihr überlegenes Lächeln schenkte sie dem Sprecher, ohne mich weiter zu beachten.

„Liebe Herren und Damen der Gerechtigkeit, ich bin froh und dankbar, dass ihr so zahlreich erschienen seid. Für die wenigen, die mich noch nicht kennen, man nennt mich Leontes Ogliastra, führender Kopf der unabhängigen Vereinigung 066 und diesjähriger Veranstalter der Reise 'in eine sichere Zukunft'." Was sagte Yvette nochmal? Lächeln und klatschen, wenn ein wichtiger Mann spricht. Leider klatschte ich als einzige, was mir prompt verwirrte Blicke einbrachte, vor allem die des Sprechers.

Es reichte nur eine Minute, in der mein Blut begann zu brodeln. Meine Finger verkrümmten sich zu Fäusten, bereit sie gegen diese widerliche Person prallen zu lassen. Leontes Ogliastra, also...
Er räusperte sich und fuhr ohne Schwierigkeiten fort, ganz im Gegensatz zum vorigen Tag, an dem er kein Wort über seine Lippen brachte. Scheinbar war er nur manchmal taub-stumm.

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