-𝟸𝟺-
Ich hoffte inständig, dass mein Beschluss keine schlimmen Folgen mit sich ziehen könnte.
Leontes schien mir keine Person, der ich vertrauen durfte. Eigentlich glaubte ich auch nur an die Tatsache, dass ihm seine Nichte die Welt bedeutete. Daria besaß damit die Macht, den Kampf um das Lebenselixier zu beenden. Ich wedelte bereits seit Minuten mit dem Staubwedel über die Tastatur.
Heute war der erste Tag, an dem ich meinen Dienst wieder am Revier verbrachte.
Ein Pfiff riss meine Überlegungen entzwei. „Hey Shehu, wenn du bei dir fertig bist, dann kannst du bei mir weiter machen." Der dicke Roberto am Computer neben mir lachte.
Ihm hingen noch Krümel vom Frühstück auf dem Hemd, welches zu platzen drohte. Ich schmiss ihm den Staubwedel zu. „So viel, wie du sitzt, müsstest du dir Heparin spritzen", wies ich ihn auf die Gefahr hin, eine Thrombose zu erleiden. Die einzige Distanz, die er bisher zurückgelegt hatte, war von seinem Schreibtisch zur Kantine und wieder zurück.
„Oh Gott sei Dank, Nivia Süße!" Knöchrige Arme schlossen sich um meinen Nacken. Hinter der blonden Frau stand Herr Caruso, wie gewöhnlich mit seinen Armen hinter seinem Rücken. Nur seine sonst so geleckten weißen Haare wurden an jenem Tag nicht geleckt. Einzelne Strähnen lösten sich und standen wie Antennen in die Höhe. Nun wusste ich auch, welche Blondine mich fast zerquetschte. Die fast zwanzig Jahre jüngere Leandra Caruso, Antonellas Mutter. Hinter ihrem großen Vater, erschien auch die kleine Gestalt von Yvette.
„Die Frau dort sagte uns, wir müssen noch warten, aber unsere Antonella würde niemals verschwinden, ohne uns zu informieren. Sie ist weg, ohne Sachen, ohne Jacke. Mein kleiner Schatz... War ich zu hart zu ihr, Nivia? Ist sie doch vor mir davongelaufen? Ich wollte sie nicht so unter Druck setzten. Sie ist nicht dumm, oder dick. Es tut mir so leid." Leandra sprach mit ihrem spanischen Akzent so schnell, dass ich kaum die Hälfte verstand, doch genug, um das Wesentliche zu erfahren. Außerdem hatte Ardian mich am Vorabend bereits angesprochen.
Im Gegensatz zu meinem Bruder, nahm ich Antos Eltern ernst. Bei ihnen musste ich mich immerhin nicht fragen, ob sie gerade unter Drogeneinfluss standen.
Ich drückte die kalten Hände von Frau Caruso in meinen. „Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Sie hat mir gegenüber nie erwähnt, dass sie weggehen wollte", durchforstete ich laut mein Gehirn. Zwar nervten und verletzten Anto die Anmerkungen ihrer Eltern, doch nie so sehr, wie wenn es irgendwelche Gleichaltrigen taten. Ganz im Gegenteil, sie liebte ihr Zuhause und den Luxus. Genauso, wie ihre Ausbildung in der Drogerie, oder ihren Freundeskreis. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass es sie so aus der Bahn geworfen hatte, dass ich für ein paar Tage den Kontakt abgebrochen hatte.
„Lassen Sie uns doch gemeinsam in mein Büro gehen, wo wir die Fakten zusammenzählen können", schlug Yvette im Hintergrund vor.
„Ach ja, jetzt auf einmal. Vorhin wollte sie, dass wir gehen. Ich wusste, du wirst es regeln, Nivia. Zum Glück bist du hier, meine Süße." Leandra schoss imaginäre Blitze aus ihrem Seitenblick in Yvettes Richtung.
„Das ist doch selbstverständlich, Leandra." Ich nahm sie nochmal in die Arme, um meiner Vorgesetzten ein liebliches Grinsen zuzuwerfen.
Wir gingen gemeinsam in das Büro der Vorgesetzten. Mittlerweile schluchzte Antos Mutter versteckt in den Armen ihres Mannes. Herr Caruso redete nie viel, dafür seine Frau umso mehr.
Er brauchte nichts zu sagen, um anderen seinen Zustand zu offenbaren. Die eine Ecke seines Hemdkragens steckte noch immer unter dem dunkelblauen Pullunder, die andere lag ordentlich darüber. Seine Bewegungen wirkten wie Zuckungen. Eine innere Unruhe trieb ihn an.
Zum ersten Mal stellte ich mir selbst die Frage, wo war Antonella? Außer mir, Kayden und Jesse besaß sie keine richtigen Freunde und selbst wenn sie bei einem von den beiden wäre, so hätte sie ihren Eltern Bescheid gesagt. Ich checkte sorgfältig alle Nachrichten, denen ich zuvor nur meine halbe Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Anto wollte mehrmals wissen, was sie falsch gemacht hatte. Sie erzählte mir von ihrem Alltag und wie viel in ihrem Laden zutun war. Die letzte Mitteilung erfolgte am Abend vom Montag. Antonella wollte mich am Dienstag besuchen, doch sie war nie da gewesen, weder auf dem Revier, noch bei mir Zuhause. Nun war schon Donnerstag. Auch wenn sich mein Stolz dagegen wehrte, so kroch die Sorge, wie Gift durch meine Blutgefäße.
„Wann habt ihr Anto zuletzt gesehen?", wagte ich in Erfahrung zu bringen. Eine Frage, die Leandra die nächsten Tränen entlockte.
„Am Dienstag, beim Frühstück.
Nur sie und ich waren wach... Sie nahm sich das Schoko-Croissant, was ich ihr aus den Händen gerissen hatte, um ihr einen Apfel auf die Arbeit mitzugeben. Einen Apfel für den ganzen verdammten Tag!" Leandras Stimme triefte vor Reue.
Ich kniff die Lider zusammen und rieb mir über die Schläfen. Irgendwo in meinem dunklen Stübchen musste doch ein Hinweis stecken.
„Nivia, ihr steht euch so nahe. Sie hat dir doch ganz bestimmt was gesagt. Hat sie wieder irgendeine dubiose Internet-Bekanntschaft am laufen?"
Die blauen Iriden ihrer Mutter, die sie gerade gegen mich richtete, ähnelten denen von Anto so sehr. Nur das der Blick meiner Freundin, immer etwas Verträumtes in sich trug.
Ratlos schaute ich Leandra entgegen.
Das konnte natürlich sein.
Aber für gewöhnlich, schwärmte Anto von diesen Jungs. Ich hatte sie so oft gewarnt, dass ihre Faszination für das männliche Geschlecht sie irgendwann umbringen würde. Sie hätte mir jedoch verraten, wenn sie bereit gewesen wäre mit einem von diesen Typen durchzubrennen. Es sah ihr nicht ähnlich. Drogen zu verkaufen allerdings auch nicht.
„Wir waren die letzten Tage sehr in unsere Arbeit vertieft, deswegen haben wir kaum mit einander geschrieben, oder geredet. Tut mir Leid", gestand ich ihnen, ohne mich dabei direkt verdächtig zu machen. Angehörige konnten erfahrungsgemäß nämlich sehr unangenehm werden, wenn sie deine Unschuld bezweifelten und das ging sehr schnell.
„Ich werde aber keine Frist abwarten. Wir werden sie finden, darauf gebe ich euch mein Wort", versprach ich ihren Eltern. Für mich gab es gar nicht die Option, Anto nicht zu finden. Das wäre unvorstellbar für mich gewesen. Auch wenn mein Beruf mich bereits anderes lehrte. Anto war nicht verschwunden!
„Wenn euch etwas einfällt, dann meldet euch bei uns. Schaut ihr Zimmer durch, ihre Taschen. Alle Hinweise könnten helfen und ich erkundige mich bei Kayden und Jesse. Wir werden sie finden", wiederholte ich das, von was ich selbst zu hundert Prozent überzeugt war.
Leandra knetete indessen ihre Hände. Ein Zeichen der Nervosität, welches ich nur zu gut kannte.
„Sie ist in letzter Zeit fast täglich,
spät abends rausgegangen. Sie sagte immer, sie wäre mit dir joggen gegangen." Der letzte Satz Leandras schien unbeendet. Stumm wartete sie auf meine Bestätigung.
Sie traf sich bestimmt mit Dealern. Die Gewissheit stach mir unangenehm im Herzen. Gab es in Cesena Kriminelle, die eine junge Frau entführen würden? In einer Stadt, in der es alle hundert Jahre zu einem Diebstahl kam? Hier kannte jeder jeden. Die Touristen kamen und gingen.
Nur ein Tourist kam immer wieder... Es fiel mir, wie Schuppen von den Augen. Dieser spezielle Tourist dealte und ich solle mich melden, wenn ich meine Meinungen ändern würde. Roel.
Wieso sollte ich meine Meinung ändern, seinen göttlichen Feliz kennenlernen zu wollen?
Ich würde niemals einen Verrückten aus der Pharmaindustrie mit zwielichtigen Zielen kennenlernen wollen, außer er hätte etwas, was mir von Wert ist.
„Nivia?", brachte Yvette persönlich mich aus meinen Gedanken zurück. „Ja, Entschuldigung. Ich hatte nur überlegt, ob Anto mir während des Joggens was anvertraut hatte, aber nein, nichts Sonderbares", beschloss ich sie in Schutz zu nehmen. In der Lage, in der wir uns befanden, bereute ich mein Verhalten der letzten Tage sogar. Ich hatte meiner jahrelangen besten Freundin nicht mal die Chance gegeben, sich zu erklären und nun war sie weg. Eventuell befand sie sich, laut Leontes, bei einem Mann, der Versuche an Menschen und Vampiren durchführte.
„Wir müssen das hier abbrechen,
um mit der Arbeit zu beginnen.
Sucht Zuhause, wir nutzen hier alle uns zur Verfügung gestellten Mittel", machte ich kurzen Prozess, weil es keine Minuten zu verschwenden galt.
Wir verabschiedeten Antonellas Eltern aus dem Büro und ich fühlte mich, wie unter Strom.
Wie eine Irre zog ich Kreise durch Yvettes Bereich, indessen sie die Tür hinter den Carusos schloss.
„Beeindruckend, wie du mit ihnen gesprochen hast. Du hast keine Angst gezeigt, sondern reine Stärke und Hoffnung symbolisiert", lobte mich meine Chefin, allerdings nicht ohne ein 'aber' dranzuhängen.
„Du darfst nur nichts versprechen, was du nicht halten kannst."
Von der Tür aus, blickte sie mir streng entgegen. „Habe ich nicht vor", bestätigte ich ihr, den Ausgang aufsuchend.
„Und für inoffizielles und unerlaubtes Handeln dürfte ich dich feuern. Was hast du vor?", kam sie mir auf die Schliche, doch ohne mein Wort, konnte sie mir nichts unterstellen. „An die frische Luft gehen, durchatmen. Meine Freundin ist verschwunden, verdammt Yvette!" Ich schüttelte vor Entrüstung mein Haupt. Das Pokerface saß. Leontes wäre stolz auf mich gewesen.
Tatsächlich landete ich draußen und wie das Schicksal es vorherbestimmt hatte, trug ich diesen Zettel von Roel, seit er ihn mir überreicht hatte, bei mir. Ganz so, als hätte ich bereits geahnt, dass hinter seiner Andeutung, eine tiefere Bedeutung steckte.
Gerade lief eine Mutter mit ihren beiden Töchtern am Revier vorbei. Die beiden sprangen herum, ungeachtet, was ihre Mamma ihnen zu sagen vermochte. Ihre geflochtenen Zöpfe wippten im Takt ihrer Schritte, unbeschwert. Eine von ihnen balancierte ihr schmelzendes Eis, während die andere versuchte, es ihr zu klauen. Ich lächelte über ihre flügelleichte Art. Sie ahnten noch nichts vom Erwachsensein.
An Kindheit erinnerte mich auch das kritzelige Herz auf dem zerknitterten Zettelchen.
Ich hätte mich wahrhaftig gefreut, wenn es nicht von Roel gestammt hätte .
Nur widerwillig tippte ich die Zahlen in mein Smartphone.
Das regelmäßige Piepen schaffte keine drei Durchgänge.
„Oh Dashuri, ich habe eben auch an dich gedacht. Wann wollen wir uns treffen?"
Wieso war er so anstrengend?
Mein Kopf fiel mir in den Nacken.
Die Wolken wanderten über die Sonne.
„Weißt du, wo Antonella ist?"
Die Leitung gab eine Weile nur ein lautes Rauschen wieder.
„Das blonde Kurvenwunder? Sie ist schonmal vorgefahren. Ich dachte, ich mache dir eine Freude damit."
Ich biss die Zähne aufeinander, kaum fähig noch ein Wort zu sprechen.
„Wenn du willst, hol ich dich in zwei Stunden bei dir Zuhause ab", bot er mir ganz freundlich an, so als würden wir eine ganz normale Konversation führen.
„Einverstanden, wenn du mir versprichst, dass Anto nichts passiert." Ich hatte keine andere Wahl. Zumindest kam es mir in der Bedrängnis so vor.
„Feliz hält sein Wort. Er will ihr nichts antun." Roel klang überzeugt von dem, was er von sich gab. Mich betraf dies allerdings nicht.
„Ich will dein Wort", forderte ich.
Es war seltsam. Auch wenn die Zusammentreffen mit Roel selten gut endeten, entschied mein Bauchgefühl sich dafür, ihm zu vertrauen. Ein Gefühl, welches mir Leontes gegenüber gänzlich fehlte. Dabei war beides logisch nicht zu begründen. „Du hast mein Wort", versprach er mir, dass ich meine Freundin unversehrt zurück erhielt. Mein Entschluss war gefasst. Ich würde Roel vertrauen, um Anto zu retten.
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