𝙿𝚛𝚘𝚕𝚘𝚐

Meine kühlen Fingerkuppen fuhren über die zarten Dellen, die sich vor langer Zeit in meiner Wange verwurzelt hatten. Egal, wie viel Salbe ich meiner verheilten Wunde spendete, sie würde mich für immer an diesen Abend erinnern, dessen Details aus meinem Gedächtnis radiert wurden.

Die Narbe sah aus, wie ein kleines Kreuz. Es markierte einen Lebensabschnitt der endete. Die Jahre der Kindheit waren damit verschwunden und plötzlich war ich nicht mehr das wütende Kind, sondern die noch wütendere Frau, die nach Gerechtigkeit strebte.

Eines Abends lauschte ich den mir allzu bekannten Geräuschen. Leise, schnelle Schritte, gedämmt von weißen Tennissocken und dem darunter liegenden künstlichen Fellteppich. Wir beteten alle, dass mein Bruder Ardian die nächtlichen Ausflüge unterlassen würde, doch hier, mitten in meinem dunklen Zimmer, in meinem Bett, bekam ich wieder den Beweis, dass nicht jedes Gebet erhört wurde.

Meine Eltern schafften es nicht nach ihrer Schicht im Restaurant, die selbst erst vor einer Stunde zu einem Schluss fand, noch ein Auge aufzuhalten. Die berufliche Selbstständigkeit forderte nun mal ihren Tribut. Deswegen hasste ich diesen Laden, der sich das "Belissimo Verde" nannte und unseren Unterhalt finanzierte. Das bedeutete "Schönes Grün", weil die Augen meiner Familie, der Familie Shehu-Rossi, von einer smaragdgrünen Farbe gesegnet waren. So schön das Offensichtliche, so verwerflich die Wahrheit. Diese bestand darin, dass ich meine Eltern kaum zu Gesicht bekam, außer ich half beim Teller abwaschen, Kunden betreuen, oder der Versorgung der Farmtiere.

Den eben Geflüchteten hasste ich auch manchmal, leider schimpfte er sich mein Bruder und somit blieb da immer dieses unerklärliche Band, welches uns durch jedes Feuer und durch jeden Sturm zusammenhielt. Ich hasste ihn fast aus den selben Gründen, weshalb ich dieses Lokal nicht ausstehen konnte. Er nahm mir vor langer Zeit meine Eltern. Mit seinem angeborenen Herzfehler raubte dieses Kind alles an Aufmerksamkeit und das besserte sich nicht als Ardian zu einem faulen Rebell von Teenager heranwuchs.

Zum Glück hatten meine Eltern mich, ein schlaues und verantwortungsbewusstes Mädchen.
Ebenso fing ich an Mitleid mit dem Jungen zu entwickeln, der weder einen Beruf seiner Wahl ausüben, noch Sport treiben, oder Alkohol und Nikotin konsumieren durfte. Damit verlor mein Bruder einen Teil seiner Jugend und würde wahrscheinlich niemals erwachsen werden. Mamma und Papà ließen ihn aus Sorge auch nicht aus ihrem Blickfeld. Manchmal verglich ich ihn mit einem Vogel im Käfig und aus meinem Mitleid wuchs ein Beschützerinstinkt.

Deswegen hob ich auch in dieser Nacht meine müden Gliedmaßen über die Bettkante hinweg. Notgedrungen, zog ich mir nur eine Jeansjacke über den dunkelblauen Pyjama aus Satin. Die nächsten Füße kamen in den Genuss des warmen Kunstfells. Meine Mutter war begabt im Dekorieren. Das Innenleben unseres hölzernen Landhauses schmückten viele weiße Möbel und Akzente, so wie diese flauschige Imitation eines gehäuteten Polarbärs. In der Nacht verblasste jegliche Schönheit in allen Nuancen der Farbe Grau.

Die Haustür, die direkt zur Treppe hinunter ins Lokal führte, schlug ein zweites Mal kaum hörbar zu. Ich wagte mich ab diesem Moment zu rennen, das Ziel kannte ich bereits. Ardian traf sich immer an der verlassenen Raststätte von Cesena mit irgendwelchen zwielichtigen Gestalten. Er kaufte sich Drogen. Ecstasy für seine ein-Mann Hauspartys. Marihuana, um seine Aggressionen zu therapieren und Kokain, um für ein paar Stunden Freude zu empfinden.

Immer, wenn ich diesen Pfad vor mich her joggte, wurde mir bewusst, wie schlecht es ihm ging und mein Herz nahm an Gewicht zu. Es pochte wie ein unförmiger Stein in meiner Brust. Ich wollte ihm helfen, ihn aufhalten, ihm Vernunft einbläuen und doch scheiterte ich an allem.
Das wurde mir fast jedes Mal, an der selben Stelle bewusst und es tat so weh, dass ich die Pfützen, die mir an die Waden spritzten, gänzlich ignorierte.

Der Regen nahm seine hässlichste Gestalt an. Ich lief durch einen nach Schwefel stinkenden Sprühnebel. Das kleine Städtchen mit den demolierten Bordsteinen, verwinkelten Gässchen, dicht bewachsen von den lilafarbenen Blüten der Bougainvillea, ließ ich mit jedem Schritt weiter hinter mir. Mittlerweile konkurrierten die teils lauten Motoren auf der Autobahn mit dem leisen Plätschern des Wassers. Die vielen Scheinwerfer, der ankommenden Touristen, lenkten mich vom Sternenhimmel ab, der mir eben noch einen letzten Funken Ruhe schenkte.

Auch vom Trubel des vierspurigen Verkehrs nahm ich Abstand, als ich in die völlige Dunkelheit des verlassenen Parkplatzes abbog. Ich nahm mein Handy zur Hand, um die Taschenlampe zu aktivieren. Das alte Samsung war nicht wasserdicht und innerlich verfluchte ich meinen Bruder, während ich vor Nervosität begann, meine Nagelhaut mit den Fingern zu demolieren.

Und da sah ich auch schon eine weitere Lichtquelle, die meiner ähnelte.

„Hey, was soll das?", schnitt meine Stimme das verdächtige Geflüster entzwei, als ich Ardian an seiner krummen Körperhaltung erkannte.

Meistens reichte das aus, um die Bande zu verschrecken, wo am Ende nur noch mein Bruder übrig blieb. Doch in jener Nacht sollte es anders kommen. Diese Kerle erhoben in aller Ruhe ihre Köpfe, um mich neugierig zu mustern. Ich biss mir auf die untere Lippe. Der Anblick meines kleinen Bruders unter ihnen trieb mich an und doch wusste ich, dass ich diese in schwarz gekleideten Männer niemals vertreiben könnte.

Wenn sie nicht gingen, mussten wir verschwinden. Entschlossen packte ich nach Ardians Hand.
Er entriss sie mir. „Das sollte ich dich fragen. Was soll das Nivia? Halt dich da raus und geh!", forderte er. Sein ausgestreckter Zeigefinger deutete mir den Weg, den ich ohne ihn nicht beschreiten würde. Ardian dachte, er sei mir überlegen, weil sein Kopf meinen überragte, doch mit ihm konnte ich es aufnehmen. Als große Schwester übte man sich darin. Also starrte ich ihm genauso stur in die gleichen Iriden. Da schob sich ein etwas kleinerer, aber agiler Körper vor meinen Bruder.

Er geht, wenn wir hier fertig sind. Also beweg deinen hübschen Arsch zur Straße und warte dort auf ihn", befahl er in einem zwar strengen Ton, doch ich vernahm die Belustigung darin. Von seinen dunklen Strähnen tropfte der Regen. Das spärliche Licht ließ ein Erkennen nicht zu, doch seine Augen schienen so dunkel, wie der Himmel selbst, denen der Glanz der Sterne innewohnte. Als er noch einen weiteren Schritt auf mich zukam und ich bereits seinen Atem über meine kalte Haut streifen spürte, lockerten sich meine verkrampften Finger und ich holte aus, um ihn von mir zu schubsen.

Meine schwindende Überlegenheit war vollends dem Tunnelblick gewichen. Ich beobachtete den Fremden genauestens, vermutlich aus Angst vor seiner Reaktion, ohne noch etwas anderes wahrzunehmen. Weder mein Bruder, noch die anderen Kerle existierten für diese Sekunden in meiner Welt. Der Mann vor mir starrte zum Boden. Seine Schemen spiegelten sich in der Wasserlache unter ihm. Er bückte sich langsam, nahm eine Flasche bei ihrem Hals und zersplitterte sie umso schneller an einem unbenutzten Mülleimer aus Metall. Dieses verhängnisvolle Klirren würde ich nie wieder vergessen. Denn darauf entstand ein Schmerz und ein Bild, welches sich durch alle Schichten meiner Gedanken fraß.

„Alter, Nivia, du blutest!", drang die Stimme meines Bruders nur stumpf zu mir durch, als er seine warmen Hände über meine Wangen legte.
Ich sah nur diesen Mann vor mir. Sein gesamter Augapfel wurde von einem dichten Schwarz verschluckt. Es lähmte meinen Körper. Eine Furcht, von der ich nicht wusste, dass sie existiert, verwandelte meine Blutkörperchen in winzige Eiskristalle. Es tat weh zu atmen. Es tat weh zu leben, als Spiegelbild in seiner toten Netzhaut.

Seine Nasenflügel blähten sich unnatürlich auf.
Ich sah auch seinen Schmerz, seine Aufregung, doch fehlte es mir an Verstand diese Dinge zu ergründen.
Ich verlor für einen kurzen Moment meinen Glauben an die Welt und alles was ich an und in ihr zu kennen meinte, als ich diese Zähne sah. Sie ragten unter seiner Oberlippe hervor, wie kleine Speere.

Das Monster wandte sich ab und ich blinzelte. Mein Bruder schob sich in mein Sichtfeld. Ich wollte wissen, was ich gerade gesehen hatte, doch das Bild verzog sich, so als hätte es sich nur in einer Rauchschwabe abgespielt.

Das einzige, was mich auf ewig an den Vorfall erinnerte, war die Wunde, die mir diese eine Scherbe in mein Gesicht zeichnete. Mein Gedächtnis spielte mir einen glücklichen Streich und strich den Mann, der die Flasche hielt aus meinem Kopf. Allerdings bewahrte es mein Leben nicht davor, sich gänzlich zu ändern.

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