𝙴𝚙𝚒𝚕𝚘𝚐

Nach fünf Monaten etwas in den Händen zu halten, was wirklich mir gehörte, fühlte sich seltsam an.
Nicht gut, aber auch nicht schlecht. Dinge, die ich einst kannte und liebte, verband mein verkorkstes Unterbewusstsein automatisch mit Schmerz.
Hier drinnen war die Welt eine andere gewesen, von der da draußen meilenweit entfernt.
Ich schaute mich um, unsicher, ob ich auf den letzten Metern nicht doch noch eine Straftat begehen sollte.

Das Grau der Wände wirkte trist, die grünen Spinde davor schienen deine ganze Freiheit verschlucken zu können. Meine hatte einer von ihnen aber eben wieder erbarmungslos ausgespuckt. Mein Rucksack lag vor mir, aber er war leer. So als hätte ich niemals eine Vergangenheit gehabt.

In der vorderen Tasche ertastete ich mein Handy. Aus alter Gewohnheit drückte ich den Knopf, aber natürlich blieb der Bildschirm nach solch einer langen Zeit schwarz.

Meinen Händen tasteten nach der einzigen Sache, die meiner Zelle einen persönlichen Flair verliehen hatte. Bilder.
Ich betrachtete jedes Foto. Sie wurden mir an den Tagen wichtiger, an denen mir mein Zuhause unglaublich fehlte. Allerdings würde ich Anto auch dort nicht mehr finden.
Unser Duckface-Selfie hing einst am Spiegel über dem ungebrauchten Schminktisch.

Das Foto von Leontes, als er noch ein Mensch war, hatte ich mir her gewünscht.
Warum? Auch jetzt kannte ich keine Antwort. Besonders weil ich nie wieder einem Vampir begegnen wollte.

„Signora Shehu, dieses Album haben Sie sich bringen lassen und dieses Schreiben war in Ihrer Jeans am Tag Ihrer Verhaftung."
Dieser Brief war schon längst in Vergessenheit geraten. Leontes hatte ihn mir gegeben mit der Bitte ihn zu einem späteren Zeitpunkt zu öffnen. Damals, in Kroatien, an meinem Geburtstag, von dem keiner wusste, sogar ich hatte ihn verpasst.
Es war der Tag nachdem Anto mich verlassen hatte. Ich streichelte über das Papier, kurz davor ihn zu öffnen, doch ich packte ihn ein.

„Danke Signor Scotti." Er war einer der Wärter gewesen, die für unseren Trakt zuständig waren. Im Gegensatz zu den anderen, hatte er sich höchst professionell verhalten.
Insassen wurden von ihm stets mit dem Nachnamen angesprochen.
Er hatte nie Späße mit uns gemacht und die Grenzen gehütet. Er war pünktlich und nie krank. Ich schätzte ihn auf das selbe Alter wie mich.
Vermutlich war er auch ein Neuling, zumindest erinnerte er mich an mich selbst. Einst war ich auch so eine motivierte Polizistin. Ich unterdrückte ein Schmunzeln, als ich zu Boden schaute.
Und ich hoffte inständig, dass er auch weiterhin seinem Beruf mit solch einer Überzeugung nachgehen könnte und dass ihm eine andere Welt verschlossen bleiben würde.

„Alberta hat Ihnen ja ein tolles Abschiedsgeschenk bereitet. Lassen Sie das in ein paar Tagen nochmal vom Arzt überprüfen." Ich sah ihm in die Augen, er mir auf die geschwollene Nase, welche ein Pflaster schmückte. Die Nase war gebrochen als ich hier ankam und das war sie nun wieder.
In meinem Kopf korrigierte ich Alberta in Albert. So nannten wir die männlich aussehende Frau aus Zelle 59. Sie meinte beim letzten Abendessen: „Damit deine Lieben dich wieder erkennen" und schon klebte ihr Ellenbogen in meinem Gesicht.

Ich nickte.
„Sie machen einen guten Job. Bleiben Sie so wie Sie sind Signor Scotti."
Ich hatte mir immer gewünscht diese Worte von Yvette zu hören.
„Man tut sein Bestes, aber vielleicht habe ich mich im Bereich geirrt. Vielleicht hätte ich zur Kriminalpolizei gehen sollen."
Gespannt hörte ich ihm zu, weil er sonst nie von sich erzählt hatte.
Nun war ich aber auch kein Häftling mehr.
„Wieso?", wollte ich wissen, als ich nebenbei meinen Rucksack schulterte.
„Ich wusste, dass Sie früher oder später für unschuldig erklärt werden."
So jung und noch so gutgläubig, ging es mir durch den Kopf.
Diese fünf Monate hatte ich für all meine falschen Entscheidungen verdient.

Eine Tür später leuchtete mir das grelle Sonnenlicht entgegen.
Die Sonne schien direkt durch das gefärbte Glas der Eingangstür. So hell, dass mir der Ausblick verwehrt blieb. So bunt, dass es eher in eine Kirche gehörte, als an so einen untröstlichen Ort.
Eine Person trat ein und sie brachte einen Zug des späten Herbstwindes mit herein. Es duftete nach Freiheit, nach der Zukunft und einem Neustart. Aus Angst vor der Vergangenheit, bildete ich es mir eventuell auch nur ein.

„Signora Shehu, Ihre Papiere!"
Die bereits genervte Stimme der Rezeptionsdame riss mich aus meiner Trance. Ich ging auf sie zu. Mein Herz klopfte spürbar. Am liebsten hätte ich in Zeitlupe gelebt.
War es normal, dass ich mir die schützenden Eisenstäbe meiner Zelle wieder zurück wünschte, oder geregelte Tage ohne Überraschungen?
Die ganzen Kärtchen und Papiere, die mich definierten landeten wahllos in dem Rucksack.

Wie ein Frosch blies ich meine Wangen auf, als ich die schwere Tür in meine Richtung zog.
Die Kälte schloss sich um meine Eingeweide. Kaum schaffte ich den ersten Schritt nach draußen, riss mich etwas von den Beinen.
Um Gottes Willen, ich war zum Teppich für Elefanten geworden.
Ich wehrte mich solange gegen das schwere Fellknäuel, bis ich es erkannte. Es wollte mich nicht beißen. Seine Zunge wanderte quer über mein Gesicht. Es war mein Junge. Mein Guardiano, von dem ich mich nie verabschieden konnte. Meine Finger versanken in seinem dichten schwarzen Fell.
„Mein Großer." Aus ihm war ein echtes Ungeheuer geworden, aber ein süßes.

Ich hatte ihn so sehr vermisst, aber ich war so kaputt, dass ich es nicht mal gemerkt hatte.
Vorsichtig ließ ich die Gedanken schweifen, mitten ins Belissimo Verde. Dort, wo mein Vater an der Theke stand. Wo Mamma ein Raum dahinter das Gemüse zerkleinerte.
Wo Ardian ein Stockwerk darüber auf seinem Bett lag und über seinen alten Walkman Musik hörte.
Die Wände bröckelten, wie die Erinnerungen. Es würde nie wieder so werden wie früher.
Ich platzierte mehrere Küsse auf den Kopf meines Rottweilers, die mich erdeten und mir Sicherheit schenkten. Ich war noch nicht so weit zurückzukehren, aber glücklich darüber ein Stück Zuhause wieder bei mir zu haben.

„Alles Okay Shehu?" Eine Hand erschien in meinem Sichtfeld.
Ich ließ mich hoch ziehen und im selben Atemzug legten sich weitere Arme um mich.
„Du hast es geschafft!"
Auch ich drückte Amari mit einem Arm, während Jesse noch immer den anderen festhielt.
Sie hatten mich jeden Monat besucht. Einmal brachten sie mir sogar selbst gebackenen Kuchen von meiner Mamma mit.

„Fuck, du siehst ja genauso vermöbelt aus, wie als wir dich hier abgeben mussten."
Na dann hatte Albert ja sein Ziel erreicht.
Jesse streichelte sich seine blonden Strähnen hinter die Ohren. Sie waren mittlerweile so lange geworden,
dass sie sich in den Enden lockten.
Es verlieh seinen sonst so kantigen Zügen etwas zarteres.

„Hast du dir was Schönes gegönnt?", fragte ich ihn. Das Blau des Autos hob sich von der Straße ab.
„Ich habe ihn überredet. Wieso sollten wir uns keine Wünsche erfüllen dürfen?" Amari blühte, wie eine knallrote Blume in einer tristen Welt.
„Ein Wunsch für meine Heimat.
So eine Dodge sieht nur in Los Angeles echt aus. Ich hätte mir für hier einen fucking Ferrari holen müssen."
Manche Dinge änderten sich nie. Schmunzelnd stieg ich auf die Rückbank, während Guardiano sich zu mir gesellte.

„Sagt mal, habt ihr zufällig ein Ladekabel dabei?"
Amari öffnete das Handschuhfach. Daraus fielen gleich mehrere Kabel, Taschentücher, CDs und Regenschirme.
„Wie wäre es mit Aufräumen?", merkte Amari beiläufig an, als sie mir die Kabel reichte. Ich suchte mir ein passendes aus und sie schloss es vorne an.

„Nivia, bist du dir sicher, dass wir dich nicht erst nach Hause bringen sollen? Deine Eltern haben jeden Tag nach dir gefragt. Glaub mir, es geht ihnen nicht gut."
Selbst wenn ich es gewollt hätte,
wäre es unmöglich gewesen.
„Carlo Mancini hat sich klar ausgedrückt. Wenn er mich aus der Scheiße holt, soll ich als erstes bei ihm auf der Matte stehen. Er will mich einstellen und eine Wohnung in Palermo hat er wohl auch organisiert."
Mir fiel ein, wie ich Signor Mancini kennengelernt hatte und er mir seine Visitenkarte auf dem Kreuzfahrtschiff gab. Ich war so dankbar für diese Möglichkeit und heute hatte ich keine andere Wahl als anzunehmen.

Carlo Mancini war Chef der Drogenfahndung in der Drogenhochburg Palermo.
Kein Ahnung, wofür er mich mit meinen vampirischen Problemen brauchte.

Durch meine Gedanken schoss ein Pfeil, als mein Bildschirm plötzlich aufleuchtete. Meine Welt geriet ins Wanken. Ich wollte mich erst an den vorderen Sitzen festhalten, doch als mein Handy mir aus der Hand fiel, hörte der Fluch auf. Roels Gesicht war wieder verschwunden und doch hatte es sich eingebrannt.

Er lag auf dieser Couch, die er mir einst hergerichtet hatte, die Kapuze halb über den Kopf gezogen. So hatten wir abends telefoniert, wenn wir nicht beieinander sein konnten.
Und damit selbst diese Gespräche niemals enden sollten, hatte ich heimlich Screenshots gemacht. Eines davon war zu meinem Homescreen geworden.
Es war mir gelungen sein verträumtes Lächeln einzufangen...

Er war zu einer Narbe geworden, an manchen Tagen sichtbarer, an anderen weniger.
Für gewöhnlich schmerzten verheilte Wunden nur nicht so sehr, wie diese gerade.

„Alles in Ordnung Süße? Du hast einen Puls von mindestens 180." Amari drehte ihren Oberkörper zu mir. Ich packte das Handy schnell in meinen Rucksack, ohne es noch einmal vor die Augen zu bekommen. Auf ihre Frage nickte ich nur, was sie nur leider nicht sehen konnte.

Als würde das Schicksal wollen,
dass ich meine Aufmerksamkeit diesem Brief widme, glitten meine Finger über die gesamte Länge des Umschlages und ich packte ihn.
Es fühlte sich an, wie das einzig Richtige. Alles andere war mir unklar, vor allem, wie mein Leben nun aussehen würde. Ich war nicht mal mehr in der Lage eine Konversation mit meinen Freunden zu führen.
Mir fielen keine Worte ein.
Mich interessierte aber auch nichts. Der Satz "Gib dir ein bisschen Zeit" würde mich vermutlich eine Weile verfolgen werden.
Nur diesen Brief, ihn wollte ich lesen.

Ich schob den Finger unter die Lasche und riss das Papier unbarmherzig auseinander.
„Was ist das?"
Amari war so furchtbar neugierig. „Ein Brief." Meine Empathie schlummerte wohl noch in der Zelle. Allerdings glaubte ich nicht daran, dass die freundliche Nivia, die es allen recht machen wollte, jemals wieder zurück kehren würde.

Es ging um eine Einäscherung und die Erstellung eines Diamanten.
Leontes Ogliastra war der Auftraggeber und er hatte mir den Brief wenige Tage nach Antos Tod gegeben. Ich überflog den Rest und blieb an den fett gedruckten Buchstaben hängen.
Der in eine Kette eingefasste Diamant könne übermorgen geholt werden.

Ich wurde eingesperrt als Antos Beerdigung stattgefunden hatte. Lediglich durch Jesse kannte ich das Datum ihrer Beisetzung. Mir blieb in meiner Zelle nichts anderes übrig,
als eine Kerze anzuzünden unter den wachenden Augen des Wärters.

Leontes hatte mir einen Teil meiner Freundin aufgehoben.
Wie skurril es sich doch anhörte...
Aber ich hätte etwas Persönliches von Antonella, was nur mir gehörte, etwas dass ich festhalten und in Ehren halten könnte.

„Jesse, stopp den Wagen! Wir müssen erstmal wo anders hin."
Ich schlug gegen seinen Sitz, was ihn eifrig auf die Bremse treten ließ. „Shehu! Bist du völlig wahnsinnig? Was ist, wenn ich anstelle der Bremse, das Lenkrad herum gerissen hätte?" Sein wildes Gestikulieren ignorierte ich, stattdessen fasste ich wieder das obere Drittel des Schreibens, wo ich die Adresse des Juweliers fand.
„Wir müssen nach Florenz", stellte ich hörbar fest.
„What the hell? Was gibt's in Florenz? Das sind fast dreihundert Kilometer von Rom, Nivia. Ganz davon abgesehen, dass wir dann von da oben nach Palermo runter müssen."

„Fahr hin, oder lass mich raus", ließ ich ihn unbeirrt wissen. Meine Finger drückten sich tiefer in das Leder der vorderen Sitze.
„Fuck, es geht wieder los... Wieso?
Sag mir nur weshalb?!"
Die Vergangenheit sollte in der Vergangenheit bleiben.
Eher hätte ich mir eine Kugel in den Kopf gejagt als diesen Schwur zu brechen. Wir hatten uns darauf geeinigt.
Antos Namen ständig in Gedanken zu hören war Strafe genug.
Hinter dieser verschlossenen Tür lauerten Einsamkeit und Schuldgefühle, eine Welt, in der nichts echt, oder ehrlich war.

Ich wollte nur noch ihr Leben, eingesperrt in diesem kleinen Stein, der so hell strahlte, wie ihr Leben selbst. Irgendwo ganz nah an meiner Brust würde ich ihn tragen und hüten, malte ich mir aus.

„Beruhig dich. Ich fahre."
Seine Stimme war wieder leiser geworden. Er blieb fast schon abrupt am Straßenrand stehen.
Der Boden unter uns bewegte sich nicht mehr, dafür spürte ich mein eigenes Zittern.
Beruhig dich, forderte ich mich selbst auf, so wie Jesse Sekunden zuvor.
Ich lehnte mich im Sitz zurück, wo ich ertragen durfte, wie Guardiano mich mit schräg gelegtem Kopf beobachtete.
Ja, ich benahm mich, wie ein tollwütiger Affe gefangen in einem Käfig.

Der Wagen fuhr zurück in den Norden.
„Der enge Raum hier im Auto tut mir nach den letzten fünf Monaten vermutlich nicht gut", versuchte ich mein rätselhaftes Verhalten zu rechtfertigen, doch mit mir redete keiner mehr, die ganze Fahrt über nicht...

„Soll ich mitkommen?", brach Jesse das Schweigen, nachdem wir fast vier Stunden später vor dem Juwelierladen hielten.
Doch bevor ich antworten konnte, wandte er seinen Oberkörper zu mir.
„Lass mich raten, du schaffst das alleine", kam er mir zuvor.
Die kleinen Furchen zwischen seinen Augenbrauen waren zu tiefen Falten heran gewaschen. Ich sah, wo seine Geduld endete und die Enttäuschung anfing.
„Es geht nur um Schmuck", wehrte ich mich.
„Du bist keine Frau, die für einen Ring tausende von Kilometern fährt."

Neben uns begann Amari zu meckern, doch ich schenkte ihr zu spät Beachtung. Sie packte sich in Lichtgeschwindigkeit meinen Rucksack. Nachdem sie den Reißverschluss auseinander gerissen hatte, hielt sie die Öffnung Jesse hin. „Immer, wenn ich ihre Tasche rascheln höre, beginnt ihr Herz zu rasen", offenbarte sie ihm meine innere Welt.
Sie zog mich gegen meinen Willen aus und Jesse machte mit. Er warf einen Blick auf mein Handy, worauf er nur den Kopf schüttelte. Vermutlich dachte er sich, wie dämlich ich nur sein kann.

Dann holte er den Brief heraus.
Seine Pupillen flogen über das Blatt, immer wieder von links nach rechts und mit jeder weiteren Zeile erweichten seine strengen Züge.
„Kleine... es tut mir leid."
Kleine? Das war ich nicht mehr.
Ich riss ihm meinen wertvollsten Besitz aus den Händen und verließ das Auto.

Vor mir stand ein altes Gebäude, eines von vielen in einer Reihe, an einer gut befahrenen Straße.
Der weiße Lack blätterte von den Holztafeln ab. Das Fundament wurde mit Graffiti beschmiert und doch strahlte dieser Laden Charme aus.
Die Inhaber hatten die hölzerne Eingangstür blau gestrichen. Aus dem Schaufenster leuchtete warmes Licht, reflektiert von all den edlen Diamanten, die sie ausgestellt hatten. Im oberen Stockwerk befanden sich scheinbar normale Wohnungen.
Edle Muster waren in das Holz geschnitzt, um die vielen Fenster herum.

„Können wir Ihnen helfen, Signora?" Der ältere Mann mit dem gekringelten Schnurrbart schien aus einer anderen Zeit zu kommen.
Er hielt mir die Tür auf und ich trat ein, den Brief fest zwischen meinen Fingern.
„Ich wollte was abholen."
Seine Augen wanderten wie von selbst zu dem Schreiben.
„Na dann schauen wir mal, was ich Ihnen mitgeben darf."
Ich folgte ihm bis zum Tresen, wo er seine umgehängte Brille über seine Nase schob. Das Schreiben landete auf der gläsernen Platte.

Seine Finger lagen bereits auf der Tastatur vor seinem altmodischen Computer, doch er stoppte in dieser routinierten Bewegung.
„Ach nein. Der Diamant wurde doch schon heute morgen abgeholt."
Meine Füße kribbelten, wie im freien Fall. Gleich würde mir schlecht werden und ich müsste mich übergeben, aber noch starben meine Organe einen stillen Tod.
„W-iee? W-e-e-r?", stotterte ich vor mich hin.
„Na dieser Herr, der den Auftrag erteilt hat." Er tippte auf dem Blatt herum, welches ich ohne diesen Stein nicht mehr brauchte. Der Verkäufer zeigte auf seinen Namen.
Leontes Ogliastra.

Ich wusste, dass er auf meine Entlassung wartete, nur damit er mein Leben zerstören konnte.
Ja, seine Rachegelüste erreichten mich bis in die Vollzugsanstalt,
wo mich in jeder Nacht Alpträume plagten. Das war nur der Anfang.
Jetzt besaß er einen Teil von meiner Anto, während ein Teil seines Herzens meinetwegen von Roel festgehalten wurde.

„Grazie a Dio. Ich dachte schon, hier würde ein ganz blödes Missverständnis vorliegen."
Mir gefror das Blut in den Adern,
als dieser rundliche Mann völlig aus dem Kontext gerissen vor sich hin sprach. Sein Fokus lag nicht mehr auf mir, sondern über mir. Ich zwang mich dazu, langsam zu atmen und so zu tun, als wüsste ich nicht, dass er hinter mir stand.
Kaltes Metall traf auf mein Dekolleté. Während der Verkäufer dümmlich vor sich hin grinste, dankte ich Gott, dass es sich bei dem kalten Metall um kein Messer handelte.
Handle normal, zwang ich mich.
So schmiegten sich meine Finger um den Anhänger.
Er schob meine Haare über meine Schulter hinweg. Sein Atem schickte eine Gänsehaut über meinen ganzen Körper.

In das silberne Plättchen in Herzform wurde ein kleiner funkelnder Diamant eingelassen. Das Gestein schimmerte in Rosa.
Es hätte Anto gefallen...
Vorsichtig schob ich mein Fuß zwischen Leontes Beine hindurch und platzierte meine Zehen direkt hinter seiner Hacke.
Er verband die beiden Enden der Kette über meinem Nacken. Seine Haut berührte dabei durchgehend die meine.

Ich holte aus und mein Kopf krachte zurück. Es knackte so heftig, dass ich bezweifelte, ob seine Nase, oder mein Schädel unter der Attacke gelitten hatten.
Es schmerzte, als ich mir über den Hinterkopf rieb und mich umdrehte.
Leontes saß auf dem Boden.
Aus seiner Nase tropfte Blut.
Seine Regenbogenhaut leuchtete silbern, wie die Jahreszeit, kalt und eisig. Als ich ihn so betrachtete,
legte sich mein Kopf schräg.
Ausgerechnet seine Kälte katapultierte mich zurück in den Sommer, zu den schönen warmen Nächten, wo nichts außer Gelächter und eine salzige Meeresbrise in der Luft lagen.
Ich hätte ihm am liebsten hoch geholfen und voller Sehnsucht in die Arme geschlossen,
aber mir war bewusst, was alles zwischen uns stand.
Daria und meine Schuld.

Also wandte ich mich ab, doch der Anblick vor mir, war nicht weniger beängstigend.
Der ältere Herr hatte seine Hand verdächtig unter dem Tresen platziert.
„Legen Sie Ihre Hände sofort auf dem Tresen ab!", warnte ich ihn und ich war mir relativ sicher,
dass er genau in diesem Moment den Notfallknopf gedrückt hatte.
Meine Hände donnerten in einem Wutausbruch auf die Glasplatte.
Sie bewegte sich unter mir.
Als würde etwas die Muster in meinen Handflächen nachzeichnen, kitzelte es. Ich beobachtete, wie das Glas in seinem Inneren über meine Hände hinaus riss und löste mich erschrocken.

Keine Kontrolle. Schuld. Gefängnis. Keine Kontrolle. Ich flüchtete durch die erste Tür, die ich entdeckte, gleich hinter der Kasse.
Mir war nur von vornherein bewusst, dass es sich vor einem Vampir nicht fliehen ließ.

Ich nutzte mehrere Abzweigungen, die in andere schmale Gassen mündeten.
„Begrüßt man so einen alten Freund, Nivia?"
Vor mir lag die Hauptstraße.
Aber weil seine Stimme so präsent und nahe wirkte, ging ich rückwärts auf diese zu und beobachtete stattdessen die Gasse.
„Wir sind keine Freunde!", brüllte ich, vermutlich um einen beängstigenden Eindruck zu hinterlassen, dann kam ich allerdings in einer Sackgasse an.
Er war mir überlegen, nur Angst hatte ich keine mehr- ein grundlegender Unterschied zu früher.

Langsam drehte ich mich um.
Fünf rote Flecken ruinierten sein weißes Hemd. Mehrere silberne Ketten hatten sich auf eine einfache reduziert. Seinen Bart trug er aber genauso wie damals.
Genauso, wie sein farbloses Haar, welches hier zwischen den Häusern einfach nur grau erschien.
Ähnlich wie seine Augen, die mich festhielten. Die versuchten mich ohne körperliche Gewalt, oder böse Worte zu quälen.

„Ich würde sagen, wir sind so lange Freunde, bis du deine Schulden begleichst."
Meiner Kehle entwich ein verächtliches Lachen.
„Es gibt keine Vergangenheit.
Alles, was gestern war, ist tot und weg, aus meinem Gedächtnis verbannt."
So fixiert wie er, starrte ich zurück. Dazu reckte ich mein Kinn noch weiter in die Höhe.
„So ist das also. Du zerstörst Leben und danach ist nie etwas passiert.
Wir wissen beide, dass ich nur durch dich an Roel heran komme. Das bist du mir und Daria schuldig!"
Allein sein Name...

Wenn Leontes nur wüsste, dass ich schon so viel, eingeschlossen in dieser Zelle versucht hatte.
Wenn er nur wüsste, dass ich den Rest von mir dort gelassen hatte.
Vielleicht war ich ja kein Mensch mehr, kein richtiger.
„Akzeptiere es einfach, Leontes.
Nur dann wird es besser", riet ich ihm. Mir hätte der Rat vor Monaten auch geholfen.

Er packte nach meinem Arm und ich nach der Hand, die mir weh tun wollte.
Dank ihm kannte ich den betäubenden Schmerz, wenn Knochen nach und nach zersplitterten.
Ich drückte zu und er wich schlagartig zurück, vor Schreck, nicht weil es ihm so weh tat.
„Was habt ihr mit dir gemacht? Woher kommt diese Kraft? Du bist ein Mensch... Ich weiß, dass dieser Weltenwandler-Arzt bei dir war. Was hat er mit dir gemacht?!"

Wir hatten Dinge probiert...an mir... und meinem Körper...und ich glaubte, wir hatten etwas zerstört.

„Es ist vorbei Leontes", beendete ich unser Zusammentreffen. Ich spazierte an ihm vorbei. Das Katz und Maus Spiel von zuvor hätten wir uns sparen können, denn jetzt ließ er mich gewähren.

„Für mich nicht", hörte ich seine Worte hinter mir verblassen.

Für mich schon.















































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