Chapter 41: Sechstes Jahr: Die Schachtel
Die Quidditchtribünen an einem Sonntag gehörten zu den wenigen Plätzen, an denen man in Hogwarts garantiert seine Ruhe hatte. Remus war seit seinem Geburtstag jede Woche hierher gekommen, um die letzten Minuten von James' spartanischen Trainings zu sehen und danach selbst eine Flugstunde zu bekommen.
Als er an diesem Morgen allerdings auf die Tribüne humpelte, bemerkte er, dass er nicht alleine war.
„Hi, Lily", strahlte Remus überrascht, „Was machst du hier?"
Lily wirbelte herum und blinzelte ihn an, ihr Mund stand leicht offen und formte ein kleines, pinkes ‚O', so als ob sie nicht erwartet hätte, dass jemand anders hier sein würde. Ihre Augen huschten über das Feld, dann nervös zurück zu Remus und sie grinste verlegen.
„Hi! Äh... ich seh mir nur Marls Training an. Moralische Unterstützung und so."
„Oh, alles klar. Darf ich mich zu dir setzen?"
Sie lächelte und verschob ihre Tasche, so als ob sie Platz für ihn machen würde, auch wenn die Tribünen sowieso leer waren. Sie saßen still da und sahen dem Training zu. James drillte die Jäger und den Hüter, also war heute nur das halbe Team da. Remus erinnerte sich vage an James' ‚fokussierte Einheiten'–Initiative, was für den Rest des Gryffindor-Teams eine Erleichterung war. Es hieß, dass sie nicht wirklich jeden Tag zum Training kommen mussten, auch wenn James das tat.
„Äh...Lily?", sagte Remus nach einer Weile, „wusstest du, dass Marlene heute gar nicht trainiert?"
Sie blickte hinunter auf ihre Knie, ihre Haare fielen wie ein kupferner Schleier vor ihr Gesicht.
„Ja", flüstere sie.
„Also bist du eigentlich hier um...?"
„Zwing mich nicht es auszusprechen, Remus", sie klang resigniert. Sie hob ihren Kopf und strich ihr Haar hinter ihr Ohr zurück, „Du darfst mich ruhig auslachen."
„Was?!", fragte Remus belustigt. Die perfekte Lily Evans, ganz durcheinander. Sirius würde es lieben.
„Zieh mich auf, lach mich aus, sag mir ich bin eine komplette Idiotin...", seufzte sie und sah auf das Feld hinaus. „Ich habs schon akzeptiert."
„Ich denke nicht, dass du eine Idiotin bist, nur weil du auf James stehst", lachte Remus und stieß sie scherzhaft an, „aber...ich meine, es ist schon ein bisschen lustig, nach all den Jahren."
„Ugh, ich weiß", stöhnte sie, „ich kann es einfach nicht glauben."
„Weiß er es?"
„Nein!", rief sie und starrte ihn ungläubig an. „Ich würde auf der Stelle tot umfallen !"
„Warum?!", fragte Remus lachend, „denkst du allen Ernstes, er würde dich abweisen? Er wartet seit fünf Jahren auf exakt diesen Moment!"
„Ja eben!", sagte sie und gestikulierte wild mit ihren Händen und spreizte ihre Finger vor Verzweiflung. „Er wollte das schon seit Ewigkeiten und ich erst seit...äh... naja, ehrlich gesagt, vielleicht eine Weile... aber auf jeden Fall nicht so lang. Wenn ich jetzt nachgebe... er ist so intensiv . Ich breche ihm vielleicht das Herz."
„Vielleicht", stimmte Remus zu, „aber ich denke James Potter würde sich geehrt fühlen, von dir das Herz gebrochen zu kriegen."
Sie schnaubte, „Remus, im Ernst, du klingst schon so schlimm wie er. Ich bin nicht dieses... keine Ahnung, perfekte Traummädchen, das in sein Leben schwebt und alles Schlechte wundervoll macht. Es ist kein Märchen. Ich bin kein Märchen. Ich bin richtig nervig. Ich bin komplettes Chaos am Morgen – frag Mary – und ich hasse es, Diskussionen zu verlieren und ich schreie, wenn ich wütend bin und meine Nase läuft, wenn ich weine. Ich weiß nichts über Quidditch und ich will auch nicht unbedingt etwas darüber lernen."
„Und?", fragte Remus lächelnd. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass er das meiste davon schon weiß. Und wenn nicht, dann denke ich, dass es ihm nichts ausmachen würde, diese Dinge herauszufinden. Außerdem, James ist ja auch nicht perfekt. Ich weiß, wie seine Socken riechen."
Lily lachte. „Danke, Remus."
„Sagst du es ihm?"
Sie rümpfte ihre sommersprossige Nase. „Ne. Ich will zuerst noch etwas darüber nachdenken."
„Also wirst du ihn nur stundenlang anstarren, wie er auf seinem Besen reitet?"
Sie schubste ihn lachend. „Wenn ich Lust habe, warum nicht? Er ist schön anzusehen, was soll ich sagen?" Sie streckte ihre Zuge heraus und wandte sich wieder dem Anstarren zu.
Remus lächelte und holte den einzigen, richtigen Rat, den er hatte, hervor. „Verschwende nicht zu viel Zeit. Es wird schwerer, je länger du wartest."
Lily sah ihn neugierig an und Remus bereute es sofort, etwas gesagt zu haben.
„Oh ja?", erkundigte sie sich, „Du scheinst ja auf einmal alle Weisheiten der Liebe zu kennen."
„Ne." Er lachte, hoffentlich überzeugend. „Ich lese nur viel."
* * *
"I could have given you all of my heart,
But there's someone who's torn it apart.
And he's taken nearly all that I have got,
But if you want I'll try to love again..."
„Black, das nächste Mal, wenn du jemandem das Herz brichst, kannst du es bitte außerhalb der Prüfungsphase machen?", stöhnte Lily als Sirius den Gemeinschaftsraum betrat und jedes Radio, jeder Plattenspieler und jedes Grammophon innerhalb von zwanzig Metern anfing, PP Arnolds tragische Stimme zu schmettern.
"Baby I'll try to love again, but I know...
The first cut is the deepest..."
„Was soll ich denn machen?!", wütete Sirius und stürmte im Raum herum, um alle Lautsprecher in Sicht stumm zu hexen.
Es war ein schmerzhaftes, langgezogenes Melodrama gewesen, aber Emmeline und Sirius hatten sich endlich getrennt. Und anscheinend ließ eine Emmeline Vance so etwas nicht mit sich machen, also hatte sie, in ihrer Vergeltung, einen hochkomplizierten Zauber auf ihn gelegt, der dafür sorgte, dass überall Trennungslieder anfingen zu spielen, sobald der einen Raum betrat. Meistens betraf es nur die Plattenspieler, aber manchmal, wenn nichts anderes da war, brachen sogar die Portraits in Gesang aus.
„Entschuldige dich einfach bei ihr und werde diesen scheiß Zauber los!", erwiderte Lily.
Cuz when it comes to being lucky, he's cursed,
when it comes to lovin' me, he's worst..."
„Es gibt nichts, wofür ich mich entschuldigen muss!", gab er wütend zurück. „ Silencio ! Silencio silencio, SILENCIO !"
Die Musik hörte endlich auf. Wer wusste, für wie lange. Remus mischte sich nicht ein, er konnte es nur schlimmer machen und Sirius war schon seit einer Woche schlechter Laune.
„Eines muss man dem Mädel lassen", bemerkte Mary, „sie ist kreativ." Sie saß auf Marlenes Rücken, die bäuchlings auf dem Teppich lag und Mary flocht ihr langes blondes Haar. Immer wenn sie am Ende ankam, entwirrte sie alles wieder, kämmte es sanft aus und begann von neuem. Manchmal dachte Remus, dass er Mädchen wohl nie wirklich verstehen würde. Trotzdem, Marlene, die es normalerweise hasste, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen, schien es zu genießen und sah sehr friedlich aus.
„Oh ja, natürlich, sei auf ihrer Seite. Verdammte Frauen." Sirius ließ sich in den Ohrensessel gegenüber von Lily fallen und lümmelte sich hinein, während er das Feuer böse anblitzte. „Hat jemand eine Kippe?"
Remus hatte eine, aber er sagte nichts.
„Kein Wunder, dass sie dich verlassen hat", grinste Mary, „du bist ein miserabler Arsch zurzeit. Ich kann froh sein, dass ich dich los bin." Sie zwinkerte ihm scherzhaft zu und sein finsterer Blick wurde weicher.
„Du musst mich ja echt gernhaben", murmelte er.
„Lass uns über etwas anderes reden", sagte Marlene vom Boden. „Keine Prüfungen oder scheiß Beziehungen. Potter, wie sieht's mit dem Campingausflug aus?"
„Alles geplant – ihr müsst nur noch mitkommen", grinste James, „Mit euren Zelten, natürlich."
„Mein Vater sagt, ich kann die Familienzelte borgen, solange ich auf sie aufpasse", sagte Lily, „zwei Zweimannzelte."
„Gemütlich", sagte Sirius sarkastisch, „für uns sieben."
„Acht", mischte sich Peter ein, „James hat gesagt, ich kann Dorcas mitbringen."
Remus stöhnte innerlich. Nicht, dass er Dorcas nicht mochte. Dorcas war nett. Aber er hatte sich auf einen Sommerurlaub mit seinen besten Freunden gefreut, ohne Anhängsel. Zum Glück nahm Mary ihren neuesten Freund nicht mit. Obwohl, bei Mary ging das alles viel zu schnell, um langfristig etwas zu planen.
„Nun ja, ich hatte eigentlich gehofft, dass ihr Jungs eure eigenen Zelte mitnehmt", antwortete Lily und sah Sirius frostig an.
„Mum hat in ihrem letzten Brief gesagt, dass es einen Muggel-Campingladen in unserem Dorf gibt", sagte James schnell, wie immer der Friedensstifter, „Also können wir vier hingehen und uns welche kaufen, sobald wir Zuhause sind. Du kommst doch sicher diesen Sommer, oder Moony?"
„Wenn es noch okay ist?", fragte Remus besorgt. Er hatte noch immer keinen Plan B. Vielleicht würde James ihm ja nach dem Ausflug eins der Zelte überlassen. Ugh, was für ein deprimierender Gedanke.
„Natürlich", grinste James großherzig und rieb sich die Hände, „dieser Sommer wird so großartig ."
„Wie kommen wir nach Cornwall?", fragte Marlene. „Apparieren?"
„Wenn wir alle bestehen, ja."
Sie sahen Peter schuldbewusst an. Er hatte es noch immer nicht wirklich geschafft, irgendwo hinzukommen, ohne zu zersplintern.
„Ich versuche es ja", sagte er beschämt. „Ich könnte den Fahrenden Ritter nehmen?"
„Das wird schon", sagte James heiter. „Ich verspreche es. Der beste Sommer aller Zeiten."
* * *
Mother
You had me
But I never had you
I wanted you
You didn't want me.
Freitag, 24. Juni 1977
Und wirklich, dachte Remus, als er die letzte Prüfung des Semesters hinter sich hatte – schriftliches Pflege magischer Geschöpfe – gott sei gedankt für James unendlichen Optimismus. Er war einer der wenigen Dinge, die sie in letzter Zeit motivierte.
Die Prüfungen waren so wie immer – vielleicht etwas einfacher, wenn es um praktische Magie ging. Zum Glück erwartete niemand dieses Jahr einen Patronus. Der Stundenplan gab einem irgendwie aber auch ein beruhigendes Gefühl, so wie die Abgabefristen und die zeitlich begrenzten Aufgaben. Es machte alles Sinn und forderte keine eigenen Überlegungen. Remus war immer dankbar für die Gelegenheiten, in denen er sein Gehirn abschalten konnte. Vor allem, weil er sich selbst eine sehr persönliche Frist gesetzt hatte.
Sobald seine letzte Prüfung vorbei war (und das war heute), würde er die Schuhschachtel öffnen. Sie war die letzten drei Monate unter seinem Bett verstaut gewesen. Er hatte sie nicht einmal flüchtig angesehen. Was auch immer drin war, es würde zerstörerisch sein, er wusste es. Auch wenn es nichts mehr als ein paar langweilige Notizen von der Hausmutter sein konnten, alte Schulaufgaben oder so, er wusste, dass nur der Gedanke an das St. Edmunds Problem seine Laune irgendwann vermiesen würde. Er sagte sich, dass es sehr vernünftig und erwachsen war; er brauchte für die Prüfungen einen kühlen Kopf.
Aber es war jetzt Ende Juni, und er hatte nichts besseres mehr zu tun. Natürlich gab es immer etwas zu tun – die NEWTs würden nächstes Jahr beginnen; er sollte schon früh zu lernen anfangen. Es gab Gerüchte über eine Jahresende-Party, und darauf könnte er sich vorbereiten. Er sollte auch wirklich die Hausaufgaben von Madam Pomfreys Heilungsunterricht nachholen; er war schrecklich weit hinten, wenn es um Schürfwunden ging.
Er aß zuerst zu Mittag. Unangenehme Erfahrungen vertrug man auf vollem Magen besser. Diesen Nachmittag waren die Prüfungen für Muggelkunde und Wahrsagen – James und Sirius machten beides.
„Moony, wofür braucht man Heißluftballons? Ich verstehe das noch immer nicht...", bettelte James, der sehr erschöpft aussah.
„Das wird schon", sagte Lily, als sie sich Kürbissaft einschenkte, „Muggelkunde sollte doch verglichen zu Fortgeschrittener Verwandlung leicht für dich sein."
„Wow, danke Evans", strahlte James. Jeder sah Lily an, die rot anlief und sich wieder ihrem Essen zuwandte.
„Ich habe bis jetzt noch nie etwas in einer Kristallkugel gesehen", seufzte Peter tief.
„Sag ihr du siehst den Grimm", sagte Sirius heiter, „Das ist, was ich mache."
„Warum der Grimm?"
„Ich habe einfach so ein Gefühl, dass sie vielleicht einen sehen wird, morgen Nachmittag, um ungefähr zwei Uhr", sagte Sirius und grinste. James und Peter lachten, sehr zur Verwirrung der Mädchen.
Remus lungerte so lange es ging mit seinen Freunden vor der Großen Halle herum, bis sie alle zu ihrer Prüfung mussten. Es ein paar Minuten zu verschieben, macht doch nichts...
Aber letztendlich war es Zeit, den Dingen ins Auge zu sehen. Letzten Endes hätte er länger Zeit, das ganze zu verarbeiten, je früher er sie öffnete. Auch wenn es nichts war; auch wenn er einfach nur mit einer neuerlichen Enttäuschung klarkommen musste. Er las gerade ein gutes Buch und hatte vollen Zugang zu Sirius Plattensammlung, also musste der Nachmittag nicht komplett unangenehm sein.
Er schloss die Vorhänge rund um sein Bett, obwohl er alleine im Raum war. Er blies den Staub von dem Pappdeckel, was ihn husten ließ.
„ Scourgify ", hustete er und zielte mit seinem Zauberstab auf die Bettlaken, um sie von der ekligen, grauen Materie zu befreien. Kein Weg zurück. So schnell wie man ein Pflaster abriss nahm er den Deckel ab.
Anfangs sah es komplett harmlos aus. Alles im Inneren war flach – Papiere wahrscheinlich, sortiert in ordentlichen, braunen Briefumschlägen verschiedener Größe, aus verschiedenen Jahren.
Seine Aufnahmepapiere für St. Edmunds – Remus John Lupin, 5 Jahre 3 Monate, Ankunftsdatum 12/07/1965. Berichte seiner Grundschullehrer – alle Noten waren ‚mangelhaft'. ‚ Zeigt sehr wenig Interesse an Lehre' stand auf einer, ‚ Unfähig zu Lernen. Möglicherweise unqualifiziert für Arbeit. '. Verfickte Idioten.
Seine Geburtsurkunde. Es war ein Muggeldokument – er nahm an, dass seine Mutter nicht in St. Mungos gewesen war. Remus erfuhr, dass er Zuhause geboren worden war, in Bristol, ausgerechnet. Der Name seiner Mutter war Hope und sein Vater war als ‚arbeitslos' deklariert. Remus las sich durch all das mit teilnahmsloser Geduld, wie ein Archivar, der durch Dokumente blätterte, die mit alter Geschichte zu tun hatten, nicht mit seinem eigenen Leben. Aber dann kamen die Fotos.
Sie waren schwarz-weiß. Muggel-Fotos, ohne Bewegung. Auf einem war ein rundliches Baby, gekleidet in einem weißen, gestrickten Kleidungsstück, mit Knöpfen, die aussahen wie Häschen. Remus nahm an, dass es er war, es stand nichts auf der Rückseite, nur der Stempel von Boots. Es gab noch eines, das wohl gemacht worden war, als er in St. Edmunds ankam. Er konnte ein paar seiner Merkmale darin erkennen – der dunkle, achtsame Blick, der Mund in einer entschlossenen Grimasse. Er sah nach oben – wahrscheinlich zu der Person, die das Foto machte – und er sah verängstigt aus.
Das letzte Foto war das schlimmste. Darauf war eine Familie, an die er sich nicht erinnerte.
Da war Lyall, groß und schlank und schlaksig, zerzaustes Haar und eine kleine, mit Draht umrahmte Brille. Er lächelte – Remus hatte ihn sich nie lächelnd vorgestellt. Neben ihm in einem blumigen Ohrensessel saß eine kleine, sehr jung aussehende Frau. Sie hatte makelloses, platinblondes Haar in einem klassischen Sechzigerjahre Beehive und trug eine ordentliche Hemdbluse, die ihre hübsche Figur betonte. Ihre Nase war ein wenig lang und höckerig, aber sie hatte ein schönes Gesicht. Auf ihrem Schoß war ein kleiner Junge, kichernd, sein Gesicht voll Freude. Sie sah ihn an, ihr Mund war offen – was hatte sie gesagt?
Remus legte es weg, weil ihm schwindlig wurde. Er bemerkte, dass er seinen Atem für eine lange Zeit angehalten hatte und atmete aus. Es war noch ein Briefumschlag übrig. Die Handschrift darauf war nicht die der Hausmutter. Er war aber nicht verschlossen, also hatte sie ihn vielleicht schon einmal gelesen. Vielleicht war das der Grund, dass sie ihm ihn nicht gegeben hatte. Er wappnete sich noch einmal und zog einen Brief heraus, der ordentlich in Drittel gefaltet war. Er war auf schönem Briefpapier geschrieben, mit Blumendesign am Rand. Die Handschrift war genauso schön.
Mein lieber Junge,
Ich weiß, dass ich kein Recht habe, dir diesen Brief zu hinterlassen. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis du ihn bekommst – wenn du ihn überhaupt bekommst. Ich hoffe darauf und ich hoffe, dass du alt genug bist, wenn du ihn liest. Trotzdem, ich erwarte keine Vergebung.
Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Wie kann ich alles erklären? Du warst mein wunderschöner, kostbarer Junge, von deiner Geburt an. Nein – von dem Moment an, als ich deine Bewegungen in mir spürte. Dein Vater und ich, wir liebten uns sehr und du hast unser Glück nur noch vertausendfacht. Du wurdest geliebt, mein kleiner Remus, ich bete, dass du das nicht vergessen hast. Aber du bist so jung, und man sagt manchmal ist Vergessen das Beste.
Als der Unfall passierte, hatte ich dir versprochen, dass ich alles dafür tun würde, um es wieder gut zu machen. Ich hatte diese dumme Idee, dass allein m eine Liebe zu dir reichen würde.
Als uns Lyall schließlich verließ, habe ich es versucht, für dich. Ich schwöre es, ich habe es versucht. Aber ich war noch nie ein sehr cleveres Mädchen und nie so stark oder praktisch veranlagt wie dein Vater. Du brauchtest so viel und ich hatte so wenig. Von dem Moment an, als ich ihn heiratete, hatte ich keine Familie mehr. Du musst wissen, sie haben mich gezwungen, mich zu entscheiden. Meine Eltern waren nicht einverstanden und auch als er weg war, wusste ich, dass sie auch mit dir nicht einverstanden waren.
Ich kann nicht in Worte fassen, wie leid es mir tut, dich gehen zu lassen. In meinem Herzen weiß ich, dass es am sichersten ist und schlussendlich das Beste für dich. Ich weiß, dass ich dich nie vergessen werde und ich weiß, dass ich immer darauf hoffen werde, dich wiederzusehen. Ich bete, dass wenn die Zeit kommt, ich nicht schwer zu finden bin.
All meine Liebe,
Hope Jenkins.
Remus packte den Brief zurück in den Umschlag und schloss die Schachtel. Er schmiss die Schachtel unter das Bett. Er kroch unter die schweren Bettlaken und rollte sich klein zusammen, so wie er es in St. Edmunds getan hatte. Er fühlte sich, als ob ein Loch in seinem Inneren aufgerissen worden war; eine große, klaffende Leere – Tränen füllten seine Augen und weil er allein war, ließ er sie kommen.
* * *
Samstag, 2. Juli 1977
Er hatte nie viel an seine Mutter gedacht. Zumindest nicht, seit er in Hogwarts waren, das so voll zu sein schien, von Lyall und all seinen Errungenschaften und Fehlern. Natürlich wäre es besser gewesen, eine Mutter zu haben als keine, aber er war sich nicht sicher, ob er sie all die Jahre vermisst hatte. Die Hausmutter war nicht sehr mütterlich gewesen, aber sie wurde auch dafür nicht bezahlt, die Jungen zu lieben, die sie betreute.
Das Fenster in Hopes Leben – in sein eigenes Leben – war furchteinflößend für Remus und er wünschte sich, diesen dummen Brief nie gelesen zu haben. Trotzdem las er ihn mehr als einmal. Er las ihn jede Nacht für den Rest des Schuljahres, so als ob er das Wort ‚geliebt' fühlen könnte, wenn er es las. Er konnte es nicht.
Die Rumtreiber blieben zwei extra Nächte in Hogwarts, wegen Remus. Der erste Vollmond des Sommers fiel auf den ersten Juli und es war praktischer (und außerdem sicherer für die Potters), wenn Remus ihn in der Heulenden Hütte verbrachte. Nun, er sollte in der Heulenden Hütte sein, aber natürlich hatten Wormtail, Padfoot und Prongs andere Ideen. Frei von Prüfungen und in Vorfreude auf den Sommer hatten sie eine der besten Vollmondnächte seit Jahren.
Trotzdem bestand Madam Pomfrey danach auf die übliche Beobachtung und flößte Remus einen starken Schlaftrank ein, um sicherzugehen, dass er sich den Morgen über noch ausruhte.
„Das Reisen mit Flohpulver kann auch im gesunden Zustand Übelkeit hervorrufen", warnte sie, „sicher ist sicher."
Sie sollten diesen Abend durch den Kamin in McGonagalls Büro heimreisen. Remus wachte kurz nach dem Mittagessen auf und bemerkte, dass er nicht allein war.
„Hi, Moony", sagte Sirius sanft, der in dem Stuhl neben seinem Bett saß. Seinen Augen waren dunkel und er sah aus, als ob er auch gedöst hatte.
„Hi", antwortete Remus, setzte sich auf und streckte sich. „Du solltest im Bett sein, du siehst kaputt aus."
„Halt den Mund, ich seh fabelhaft aus", antwortete Sirius und gähnte. „Jedenfalls nimmt James das ganze Schlafzimmer auseinander, weil er versucht zu packen, dabei könnte ich sowieso nicht schlafen. Hungrig?"
„Immer."
„Gut, ich soll dich nämlich zum Essen animieren", er deutete auf einen Teller auf dem Nachttisch, beladen mit Früchten und Sandwiches. Remus nahm einen Apfel und biss heißhungrig hinein.
Für eine Weile sprach keiner der beiden, aber Sirius aß ein paar Weintrauben. Seit März hatten sie die Kunst des Smalltalks mit so wenig Details oder Augenkontakt wie möglich perfektioniert. Man könnte es Freundschaft nennen, wenn man nicht wusste, was davor passiert war.
„Ich fühle mich ein bisschen schlecht", sagte Sirius aus heiterem Himmel und sah auf seine Schnürsenkel.
„Hm?"
„Ich fühle mich ein wenig schlecht, weil ich letztens so mit dir geredet habe. Über deinen Freund, äh...Christopher?"
„Ja", Remus aß seinen Apfel auf, bis zum Stängel, den er weglegte und sich danach ein Sandwich nahm. Käse und Essiggurken. „Du warst ein bisschen gemein, aber es ist okay. Ich hab nicht viel darüber nachgedacht."
„Oh, das ist gut", nickte Sirius. Er sah Remus an, dann wandte er seinen Blick schnell ab und sah aus dem Fenster. „Ich dachte, vielleicht... Ich dachte, dass er womöglich der Grund ist, warum du aufhören wolltest."
Remus musste nicht fragen, was er meinte. Sirius sagte es klipp und klar.
„Nein", sagte Remus und wählte seine Worte behutsam. „Es hat nichts mit ihm zu tun. Ich habe dir gesagt, er ist ein Freund, das ist alles."
Sirius nickte wacker.
„Ja, ich glaube dir. Wirklich."
Er verstand es noch immer nicht, realisierte Remus traurig. Er wusste noch immer nicht, warum sie nicht einfach so weitermachen konnten wie vorher. Dummer, schöner, unmöglicher Junge.
„Schau, Sirius", sagte er, noch immer bedacht, „es ist nur... Ich hatte ein ziemliches Scheiß-Jahr, ehrlich gesagt. Vielleicht hab ich ja auch einfach ein Scheiß-Leben, keine Ahnung. Es gibt da gerade ziemlich viel Zeug, das ich nicht kontrollieren kann. Also dachte ich... wenn mich etwas unglücklich macht, das ich kontrollieren kann, dann..."
„Oh, alles klar. Ich verstehe."
„Ja?"
„Ich will dich nicht unglücklich machen, Moony."
Das meinte ich nicht, dachte Remus. Das ist nicht, was ich sagen wollte. Aber er hatte nicht die Energie für mehr. Er hatte nicht die Mittel. Es musste reichen, zumindest bis alles aufhörte, so frisch zu sein.
„Sind das etwa Stimmen?", Madam Pomfrey wuselte um den Vorhang herum, fröhlich und mit rosa Wangen. „Nun! Du siehst viel besser aus. Freut ihr euch auf den Sommer, Jungs?"
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Lieder:
- ‚First cut is the deepest' von Cat Stevens (gesungen von PP Arnold)
- 'Mother' von John Lennon
"Boots" ist eine Drogerie in Großbritannien, wo man Fotos ausdrucken kann.
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