prolog. nicht zuhause
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prolog. nicht zuhause
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Dein Herz ist eine Landkarte, für die dir die Bedienungsanleitung fehlt. Du hast keine Ahnung, wohin es dich als Nächstes führt. Die Legende besagt, dass in Seoul ein Taxifahrer existiert, der diese Landkarten des Herzens lesen kann. Sein Taxi bringt dich nicht an den Ort, an dem du sein willst, sondern an den Ort, an dem du sein musst. Er blickt dir dafür nicht in die Augen, sondern ins Herz, und braucht kein Navigationsgerät, um an den Ort zu gelangen, den er darin sieht. Weil der Taxifahrer dich besser kennt als du dich selbst, solltest du ihm vertrauen, wenn du ihn triffst. Steig ein.
⊱ ────── ⋅ 🍵 ⋅ ───── ⊰
„Nach Hause, bitte", fordert Sung Hanbin den Taxifahrer vollkommen erschöpft auf. Die Tür fällt hinter ihm mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss und er mit einem leisen Seufzen in den Sitz. Es ist schon lange dunkel draußen, aber die Nachtlichter Seouls leuchten hell. Sie blenden Hanbin und schmerzen in den Augen, also schließt er sie, bevor er seinen Kopf gegen die angenehm kühle Fensterscheibe sinken lässt. Es ist unmöglich zu sagen, wie viel Uhr es ist. Die schnellen Straßen Seouls schlafen nicht einmal nachts. Nur Hanbins schmerzende Knochen sagen ihm, dass eine genaue Uhrzeit vollkommen nichtig ist. Er weiß auch so, dass es bereits zu spät ist.
Der Taxifahrer stellt keine Rückfragen, summt nur als Zeichen des Verstehens. Als Hanbin noch einmal für einen kurzen Moment die Augen öffnet, begegnet sich ihr Blick im Rückspiegel. Die Augen des Taxifahrers sind schmal, katzenartig beinahe, und leuchten sanft in der dunklen Umgebung. Seine Stimme ist tief und angenehm und Hanbin fühlt sich gut aufgehoben. Er nickt dem Fahrer zu, schnell und dankbar, bevor er erneut die Augen schließt. Kurz darauf ertönt das beruhigende Geräusch eines laufenden Motors, im Wagen selbst breitet sich ein behutsames Vibrieren aus. Dann setzt sich das Auto fließend in Bewegung.
Hanbin will am liebsten direkt einschlafen, aber vorher nutzt er seine letzte Kraft, um die schwarze Brille auszuziehen. Er hat den ganzen Tag Kontaktlinsen getragen und war eben noch erleichtert darüber, sie endlich gegen die Brille eintauschen zu können. Jetzt drücken die schweren Bügel gegen seine Schläfe, wenn sein Kopf an der Fensterscheibe lehnt. Er ist seit fünf Uhr heute Morgen unterwegs und hat mehrere Stunden Tanz- und Gesangstraining hinter sich. Deswegen tut ihm alles weh, die Knochen und Nervenfasern und Muskeln, aber auf eine gute Art, auf eine Art, die dir sagt: du hast heute dein Bestes gegeben. Wenn man Hanbin fragt, wie er sich sein Leben nach Boys Planet vorgestellt hat, dann würde er wohl antworten: genauso. Er hat immer davon geträumt, ein Idol zu werden, und auch, wenn er früher dafür noch nicht bereit war und erst wachsen musste, an sich selbst und seinen Herausforderungen, so ist er es jetzt in jedem Fall. Bereit für seinen Traum, bereit für das Idol-Leben, bereit für diese Anstrengungen. Deswegen ist er umso dankbarer dafür, dass der Sieg bei Boys Planet ihn diesen Traum hat tatsächlich wahr werden lassen. Hanbin lächelt bei dem Gedanken daran. Er lässt den Tag gedanklich Revue passieren, damit er auch daran wachsen kann. Das ist so ein Ding von ihm. Irgendwann will er größer sein, als er es sich jemals vorstellen kann. Also geht er seine Tanzschritte durch, die Noten, die er gesungen hat, die Absprachen, die er mit seinen Bandkollegen getroffen hat.
Für Hanbin ist das keine Arbeit. Es ist ein Privileg.
Die guten Gedanken und das sanfte Vibrieren des Automotors wiegen ihn sanft in den Schlaf. Hanbin will loslassen und nimmt seine Umgebung bestenfalls noch schemenhaft wahr, als er mit dem Revue-Passieren im Taxi ankommt und ihm ganz plötzlich sein Fehler bewusst wird.
„Entschuldigung", murmelt und nuschelt er zu gleichen Teilen. Dann gibt er seine Adresse durch. Nach Hause, hat er vorhin gesagt, was für ein Quatsch. Nicht, weil sein Zuhause Quatsch ist, das ist schon in Ordnung, nur etwas ungemütlich, nachts zumindest, aber es ist so eine ungenaue Angabe. Zumindest für einen Fremden muss sie das sein und der Taxifahrer ist definitiv fremd. Wie konnte das Taxi damit überhaupt losfahren? Hanbins Blick sucht noch einmal den des Fahrers im Rückspiegel und der nickt wiederum, mit diesen leuchtenden Augen in der Dunkelheit. Sie gehören zu einem jungen Mann in seinen Dreißigern. Hanbin schätzt zumindest, dass er älter sein muss, als er selbst es ist. Die Augen des Fahrers sind schwarz, geformt wie die einer Katze, aber nicht hinterlistig oder vorsichtig, wie man es vielleicht von einer Katze erwarten würde, sondern nur gutmütig und tief. Hanbin glaubt, ihn schon einmal gesehen zu haben, er kommt ihm vage bekannt vor, wie eine Figur aus dem Fernsehen oder aus irgendeiner Zeitschrift. Er fragt sich, ob er bereits so müde ist, dass er halluziniert, denn warum sollte ein Taxifahrer in einer Zeitschrift abgebildet sein? Der Gedanke lässt ihn lächeln und der Taxifahrer lächelt breit zurück, zeigt eine gerade Reihe Zähne und ganz viel Zahnfleisch dabei. Falls er vorher kurz gezweifelt hat oder unsicher war, so lösen sich diese Gefühle bei dem Lächeln in Luft auf. Hanbin atmet erleichtert aus.
„Sind wir in die richtige Richtung unterwegs?", fragt Hanbin nur, um irgendetwas zu sagen. Der Taxifahrer sieht ihn so fröhlich an, dass es ihn ermuntert ein Gespräch zu beginnen.
"Ich bin mir ziemlich sicher."
Das irritiert Hanbin doch wieder ein wenig und er richtet sich ein Stück auf, um sich im Taxi umzublicken. "Fahren Sie ohne Navi?"
Der Taxifahrer lacht und es klingt kichernd. "So einen neumodischen Quatsch brauche ich nicht."
Vielleicht ist er doch älter, als Hanbin dachte. Er hätte ihm eigentlich zugemutet, dass er mit Navigationsgeräten aufgewachsen ist und sie entsprechend nicht als neumodischen Quatsch bezeichnen würde. "Wie lange fahren Sie denn schon Taxi?", möchte er deswegen wissen.
"Viele, viele Jahre."
Okay. Noch ein Indiz dafür, dass er der Taxifahrer seine Dreißiger bereits hinter sich gelassen hat. Hanbin beobachtet ihn aufmerksam, weil ihn sein Alter jetzt doch interessiert, aber selbst wenn der Fahrer lacht, so wie jetzt, bilden sich um seine Augen herum nur Lachfalten.
"Immer nur in Seoul?"
"Immer nur in Seoul."
"Brauchen Sie deswegen kein Navi? Wissen Sie immer genau, wo Sie hinmüssen?"
"Das kann man so sagen", erklärt der Taxifahrer. Dann ergänzt er stolz: "Und ich habe mich noch nie verfahren."
Das lässt Hanbin erleichtert auflachen. Der Taxifahrer lacht mit ihm, wieder auf diese kichernde Weise, und Hanbin fühlt sich augenblicklich so wohl, dass er sich erneut im Sitz zurücksinken lässt. "Dann wollen wir heute auch nicht damit anfangen", sagt er und ist froh darüber, dass ihm noch rechtzeitig eingefallen ist, dass er dem Taxifahrer seine Adresse nennen muss und nicht nur 'nach hause'.
„Mach dir keine Gedanken", antwortet der Taxifahrer und seine Stimme ist genauso wie seine Augen, sanft und gutmütig und tief. „Ich habe schon viele Landkarten gesehen und bislang konnte ich sie alle lesen." Die Worte laufen über mit Zuversicht und Verständnis und Hanbin schließt die Augen, bereit, sich davon überfluten zu lassen. Er möchte nun endlich schlafen. Die Stimme des Taxifahrers ermutigt ihn dazu. Sie sagt: „Du kannst dich ausruhen. Ich wecke dich, sobald wieder da sind." Also lässt Hanbin sich wegspülen, von der Wärme in der tiefen Stimme, und vor allem von seiner Erschöpfung, die so viel stärker ist als die Logik, die ihm vielleicht sagen würde, dass etwas an dieser Situation merkwürdig ist, aber so schläft er nur ein, schneller, als sie das Wort Zweifel buchstabieren kann.
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Das Taxi befindet sich außerhalb von Seoul, als Hanbin das nächste Mal wieder die Augen öffnet. Er fühlt sich immer noch erschlagen von den Anstrengungen des Tages, der schnelle Nap zu kurz, um erholsam sein zu können. Es begrüßt ihn eine Dunkelheit auf der anderen Seite der Fensterscheibe, die zu durchdringend für die immerwachen Straßenlichter Seouls ist. Dass sie deswegen nicht mehr in Seoul sein können, realisiert Hanbins Unterbewusstsein, bevor sein Gehirn die Information verarbeiten kann. „Huh", macht er überrascht und richtet sich schwerfällig auf, sein Körper noch schlafwarm und träge. „Haben wir uns doch verfahren?"
Erneut trifft ihn der Blick aus den schwarzen Katzenaugen im Rückspiegel. Im gleichen Moment hält das Taxi am Straßenrand oder besser: auf der kleinen freien Fläche, auf der sie sich gerade befinden. „Nein, wir haben unser Ziel gerade erreicht", reagiert der Taxifahrer sicher. "Ich habe doch gesagt, dass ich mich nicht verfahre."
"Mh?", wiederholt Hanbin fragend. Er ist sich sicher, dass er hier nicht wohnt. Er zieht sich die schwere Brille wieder auf, die, die er bis eben noch auf den Kopf gezogen hatte. Aus den undefinierbaren Schemen seiner Umgebung werden klare Umrisse, aber die Fremdheit bleibt bestehen. Das hier ist nicht sein Viertel, nicht einmal die ungefähre Gegend, und erst recht nicht sein Zuhause. Um genau zu sein, kann er eigentlich gar nicht richtig erkennen, auch nicht mit der Brille, wo sie sich genau befinden. Es scheint ein kleiner Parkplatz zu sein, den Strichen auf dem Boden zufolge, auch wenn nur in einer Parklücke ein weiteres Fahrzeug steht. In einiger Entfernung sind die Lichter einer Brücke zu sehen, aber sie ist noch zu weit entfernt, um ein Anhaltspunkt sein zu können.
„Dann ist das wohl heute das erste Mal", seufzt Hanbin schwer, "dass Sie sich verfahren haben. Tut mir leid." Hanbin entschuldigt sich, obwohl er nicht Schuld daran ist. Der Taxifahrer war bestimmt stolz auf seine Quote und es tut ihm ein bisschen leid, dass er sie nun ruiniert hat. Ehrlich gesagt kommt Hanbin nicht einmal in den Sinn, dass der Taxifahrer auch lügen könnte, denn solche Augen lügen einfach nicht, und ihm fällt auch nicht ein, dass er genervt sein könnte, weil er nun länger als erwartet für den Heimweg benötigt. Denn es gibt einfach manche Tage, an denen läuft einfach nichts, wie es soll, und er braucht seine Kraft ohnehin fürs Training und nicht, um nachts einen Streit mit einem Taxifahrer anzufangen, der es vermutlich einfach nicht besser wusste. „Ich wohne hier nicht", erklärt Hanbin weiter, obwohl dieser Umstand offensichtlich sein sollte. Es ist ja nicht einmal ein Wohngebäude zu sehen. „Moment kurz", setzt er fort, ohne eine Erwiderung abzuwarten, „ich überprüfe kurz unseren Standpunkt auf Google Maps, dann kann ich uns für den Rückweg navigieren." Gleich darauf hält er sein Handy in der Hand, öffnet die entsprechende App und drückt auf Standort anzeigen.
„Das ist nicht nötig", antwortet der Taxifahrer, bevor Hanbins Handy den Vorgang abschließen konnte. „Ich bin mir sicher, dass wir den richtigen Ort erreicht haben."
„Aber... ich wohne hier nicht?", wiederholt Hanbin zögerlich und jetzt auch mit einem fragenden Unterton in der Stimme. Er merkt, wie sein Gehirn versucht, die Erschöpfung mit Gewalt von sich wegzuschieben. Sie ist zwar da und sie ist groß, aber ein anderer Teil seines vegetativen Nervensystems versucht nun endlich, ihm zu verstehen zu geben, dass da noch etwas anderes seine Aufmerksamkeit benötigt. So etwas wie Skepsis, vielleicht. Vorsicht, vermutlich sogar. Aber es ist schwierig vorsichtig zu sein oder wirklich skeptisch, wenn ihn die schwarzen Katzenaugen so gutmütig und voller Vertrauen betrachten und das Lächeln so viel Zahnfleisch und Zuversicht zeigt.
„Das stimmt", gibt der Taxifahrer zu und dann wird es für einen Moment still im Taxi. Hanbin versucht sich zu konzentrieren, fokussieren, damit er die Situation verstehen kann, ohne dabei in Panik zu geraten. Er denkt, dass das jetzt wichtig ist, ruhig zu bleiben, schließlich ist der Taxifahrer auch ruhig und gibt ihm so gesehen erst einmal keinen Anlass zur Sorge. Also schweigt Hanbin und denkt nach, solange, bis der Taxifahrer erneut das Wort ergreift.
„Möchtest du nicht aussteigen?", fragt er ihn und klingt sehr aufrichtig dabei.
„Aber ich möchte nach Hause. Ich habe Ihnen doch die Adresse gegeben, oder nicht?", wiederholt Hanbin fragend, aber auch ein wenig steif, weil er ernsthaft daran zweifelt, ob er das vielleicht nur geträumt hat und in seinem erschöpften Zustand, etwas vollkommen Chaotisches von sich gegeben hat anstelle der konkreten Wohnanschrift.
"Doch, das hast du."
"Aber wir sind nicht dort", stellt Hanbin fest und der Taxifahrer kichert schon wieder. "Das hast du ganz richtig erkannt", sagt er und langsam fragt sich Hanbin wirklich, was er verpasst hat.
"Warum sind wir nicht dort?", will er deswegen wissen.
„Der Ort, an dem wir sein wollen, und der Ort, an dem wir sein sollten, ist manchmal ein vollkommen unterschiedlicher", erklärt der Taxifahrer mit ruhiger Stimme und klingt klug dabei. Nicht auf eine besserwisserische Art und Weise und auch nicht belehrend, sondern eher weise, wie ein alter Mann eben, einer, der nicht Dreißig ist, sondern eher Sechzig oder Sechshundert, auch wenn das bei seinem Aussehen ja gar nicht sein kann. Hanbin denkt über die Worte nach und muss ihm Recht geben. Die Aussage ist wahr, aber trotzdem...
„Was genau soll mir das sagen?"
Wenn möglich, wird das Lächeln des Taxifahrers noch eine Spur größer.
„Dass ich dich nicht an den Ort gebracht habe, an dem du sein willst. Sondern an den Ort, an dem du sein musst."
„Ist das ein Scherz?", fragt Hanbin wieder vorsichtig und sich selbst, ob die Sache, die er verpasst hat, vielleicht der Drehschluss war. „Ist das hier eine versteckte Kamera? Drehen wir gerade etwas für die behind the scenes?"
Die Erklärung erscheint sogar ziemlich rational und mit einem ergebenen Seufzen lässt sich Hanbin in seinem Sitz zurückfallen, fährt sich mit einer Hand gestresst durch die braunen Haare. Darauf hätte er auch schon früher kommen können, aber er ist das Leben als Idol noch nicht so gewohnt. Es ist immer noch ziemlich neu für ihn. „Ich hasse es, wenn sie so etwas unangekündigt tun."
„Das... ist keine versteckte Kamera."
„Ja, das sagen sie immer", lächelt Hanbin, weil er das aus dem Fernsehen kennt. Seine Band, ZeroBase1, wurde bislang mit keiner versteckten Kamera überrascht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es so weit kommen musste, also reibt sich Hanbin über die Augen, um den Schlaf zu vertreiben und nochmal durch die Haare, aber jetzt nur, um vielleicht doch noch etwas Ordnung in das Chaos dort oben zu bringen. „Also", beginnt er dann, fast schon motiviert und auch ein bisschen tatkräftig, "– was soll ich tun?"
„Aussteigen", wiederholt der Taxifahrer, obwohl er nun derjenige ist, der etwas skeptisch klingt und dem Zweifel in der Stimme mitklingen.
„Und dann?"
„Musst du zur Brücke gehen", sagt er und der kurze Moment der Verwirrung ist schnell vorbeigezogen. Viel mehr wirkt der Fahrer ein bisschen erleichtert, dass sich Hanbin plötzlich doch so kooperativ zeigt. Deswegen lächelt er auch wieder, nicht breit und mit Zahnfleisch, wie eben, sondern viel mehr sanft und zurückhaltend. „Aber du musst jetzt wirklich los. Du kommst sonst zu spät."
„Warten die anderen auf mich?", schlussfolgert Hanbin sofort. „Sind die anderen Bandmitglieder auch da?"
„Nein. Aber jemand anderes wartet auf dich."
„Fans?!", fragt Hanbin und fühlt sich sofort dumm aufgrund seiner naiven Vermutung. Nie im Leben würde das Management eine wilde Horde junger Mädchen um diese Uhrzeit auf einen verlassenen Parkplatz kutschieren, nur um eine versteckte Kamera zu filmen. „Okay, vergiss das. Keine Fans. Aber wer sonst?"
„Jemand sehr wichtiges. Und er braucht dich."
„Bekomme ich keine weiteren Informationen?"
„Du musst wirklich los, Sung Hanbin."
„Okay, verstanden", willigt Hanbin schließlich ein, setzt sein professionellstes Kameralächeln auf, eben das, bei dem man nicht sehen kann, wie erschöpft er wirklich ist. Er verlässt das Taxi ohne einen weiteren Gedanken und sein Unterbewusstsein schimpft mit ihm, ziemlich laut, aus einer der hinteren Ecke, die Hanbin schon immer ziemlich gut ignorieren konnte. Es fragt ihn, was zum teufel er denkt gerade zu tun und dass er mitten in der verdammten nacht auf einem – fucking – verlassenen parkplatz ganz allein ist, ob das wirklich eine versteckte kamera ist oder nicht vielleicht doch ne beschissene entführung?! menschenhandel ist real, gottverdammt –
Hanbin kappt die Verbindung. Sein Unterbewusstsein neigt schon immer zur Übertreibung und Dramatik, dabei ist er selbst eigentlich eher ein ruhiger und gelassener Typ. Er versucht oft, zumindest anderen gegenüber, lässig zu wirken und cool, aber nun ja, wir können nun mal nicht immer genau die Person sein, die wir sein wollen. Hanbins Unterbewusstsein gibt jedenfalls nicht auf und schimpft weiter, während Hanbin den einzigen Weg entlang geht, der irgendwie vorgegeben ist. Er führt ihn hin zu den Brückenlichtern, eine Fußgängerbrücke, die in regelmäßigen Abständen durch die gleichen Straßenlaternen beleuchtet wird, die auch auf dem Parkplatz stehen. Die Nachtluft hier ist kühl und frisch und Hanbin ist froh darüber, dass er sich eine dicke Jacke übergezogen hat, als er heute Morgen seine Wohnung verließ. Es ist zwar noch Sommer, aber Spätsommer, fast schon Herbst. In ein paar Wochen beginnen die Dahlien zu blühen. Er zieht die Jacke zu und als er sich dem ersten Licht der Brücke nähert, erkennt er, dass nur eine einzige Person darauf steht und... auf ihn wartet?
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Triggerwarnung ab hier. suizid
please take care of yourself
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Sie sieht nicht danach aus, als würde sie warten. Und Hanbin ist außerdem überrascht davon, dass es nur eine Person ist und kein Team. Wo ist die Kamera, der Ton, das Licht? Wie sollen sie denn so drehen?
Als er näherkommt, kann er auch die Körperhaltung der anderen Person wahrnehmen. Sie ist vornübergebeugt, die Handflächen auf dem Brückengeländer abgestützt und den Kopf zwischen den Schulterblättern tief gesenkt. Es ist eine Haltung, die Hanbin nach dem Training einnimmt, nur seine Hände auf einer der Stangen vor den großen Spiegelfronten, die eigentlich zum Dehnen und Festhalten da sind. Er nimmt sie ein, wenn er zu erschöpft ist, um aufrecht zu stehen und auch nur zu atmen. Es ist keine Haltung, die man nachts allein auf einer Brücke einnehmen sollte, wo das Atmen doch eigentlich leicht sein sollte, auch weil die Luft frisch ist, so außerhalb von Seoul...
Hanbin wird langsamer und vorsichtig. Er beobachtet die Person, die in ihrer Haltung eingefroren scheint, sie bewegt sich wirklich keinen Millimeter, wie eine Skulptur. Mit Kunst kann Hanbin nicht viel anfangen und er wünscht sich eine Beschilderungstafel, die ihm erklärt, was er dort gerade sieht. Er wünscht sie sich sehr, damit er verstehen kann, die Person auf der Brücke mit der gebeugten Haltung, die man doch nur annimmt, wenn man aus Erschöpfung nicht mehr atmen kann. Hanbin denkt über diesen Umstand noch nach, als er mit seinem Fuß auf einen kleinen Ast tritt, der unter seinem Schuh zerbricht. Mit einem krachenden Geräusch, dass in der Stille der Nacht genauso gut ein Pistolenschuss hätte sein können. Die fremde Person auf der Brücke und er selbst schrecken im gleichen Moment aufgeregt zusammen und ihre Blicke treffen sich irgendwo auf der Strecke, die noch zwischen ihnen liegt. Sie wirkt beängstigend lang.
Es ist zu dunkel, um Konturen sehen zu können, aber Panik hat keine Kontur und deswegen erkennt Hanbin sie auch so. Aus ein paar Schritten Entfernung in den Augen seines Gegenübers, die flackern und flimmern, als würde der Sturm nicht wissen, ob er das Feuer in ihnen anheizen oder ersticken soll. Ein Windhauch kommt auf, so stark, dass Hanbin ihn durch die Jacke spürt, wie er eine Gänsehaut auf seinem Rücken hinterlässt, und der Wind wandert weiter, bis zu dem Fremden, fährt durch seine Haare und spielt mit ihnen.
Für einen Moment steht die Welt still. Es ist wie ein Film, bei dem jemand die Pause Taste gedrückt hat, um das Genre nachzusehen.
Es ist eine Tragödie, begreift Hanbin, als die andere Person entschlossen nach dem Brückengeländer greift und beginnt zu klettern. Das Geländer besteht aus mehreren Metallstreben, quer und in regelmäßigen Abständen übereinander, sodass es sich wirklich gut zum Klettern eignet, fast wie eine Leiter. Hanbin fragt sich, wer sich eine solche Konstruktion für eine Brücke ausgedacht hat, und dass es dann auch nichts bringt, dass das Geländer beinahe so hoch ist wie seine gesamte Körpergröße.
„Hey", ruft Hanbin und gleich darauf noch etwas lauter, „HEY! Was machst du da?" Er fragt, obwohl er es schon versteht, aber nur noch nicht begreift. Die andere Person lässt sich davon nicht beirren, sie ignoriert die Pausetaste, die den Film angehalten hat und klettert bereits auf die zweite Querverstrebung. Hanbin drückt jetzt auch für sich selbst auf play und am liebsten würde er auch vorspulen, er denkt, dass es besser wäre, wenn er schneller wäre, aber klar denken kann er eigentlich nicht. Er fühlt sich zu überrumpelt und überrascht und vor allem überfordert. Seine langsamen Schritte werden schneller, bis Hanbin vom Wind in seinem Rücken angetrieben zu laufen beginnt.
„Jetzt warte doch mal!", ruft er wieder, noch lauter. Aus den Augenwinkeln versucht er zu erkennen, wie hoch die Brücke ist, auf der sie sich befinden. Aber die Brückenlichter sind nicht hell genug, um den Boden zu erreichen, und so klafft hinter dem Geländer nur ein Loch aus Schwärze. Indiz genug dafür,, dass sie hoch genug sind. Wofür auch immer. Hanbin will es sich nicht ausmalen.
„Lass uns doch kurz miteinander reden. HEY! DAS IST DOCH GEFÄHRLICH!"
Natürlich ist es das, aber ziemlich wahrscheinlich ist das ja beabsichtigt und das ist ein Argument, dem Hanbin erstmal nichts entgegenzusetzen hat. Der Fremde zögert nicht einmal für eine Sekunde, bevor entschlossen ein Bein nach dem anderen auf dem Brückengeländer platziert. Sein Oberkörper schwankt bereits besorgniserregend oberhalb der Begrenzung des Geländers. Es fehlen noch ungefähr drei Sprossen, dann wird der Fremde auf die andere Seite klettern können oder gleich... springen.
Ein harmloses Wort, oder?
Aber in diesem Moment ist es gewaltig, wie ein Monster, und hat noch nie so beängstigend geklungen wie gerade.
Hanbin zögert jetzt auch nicht mehr. Sie sind nicht weit voneinander entfernt, also beschleunigt er nochmal, die Erschöpfung wie weggeblasen, von dem Wind vielleicht oder viel mehr von der Ernüchterung der Szene, die sich gerade vor seinen Augen abspielt.
„DAS KANNST DU NICHT MACHEN!", schreit Hanbin, diesmal aus voller Kehle, und weiß auch nicht so richtig, was er damit meint. Den Sprung? Es vor seinen Augen zu tun? Es zu machen, obwohl es jemanden gibt, der dich retten will? Was genau kann der Fremde nicht machen und warum sollte Hanbin ein Mitspracherecht in seinen Entscheidungen zustehen? Aber trotzdem, er muss doch etwas tun. Es gibt Dinge, bei denen du nicht zusehen kannst, ohne etwas zu tun. Es gibt Momente, in denen du etwas tun musst, auch wenn du nicht weißt, was das ist, und obwohl sie dir selbst unendlich große Angst machen. Hanbin hat immer gehofft, dass er so einen Moment niemals erleben wird.
Ich habe dich an den Ort gebracht, an dem du sein musst
die Stimme des Taxifahrers schiebt sich zwischen seine panischen Gedanken, ruhig und selbstsicher, so wie er eben gesprochen hat. Also wusste er es? Was Hanbin hier erwarten wird? So viele offene Fragen und sein Gehirn beschäftigt sich nur damit, damit es abschweifen kann, reiner Selbstschutz, weil man in diesen Situationen nicht darüber nachdenken darf, was passiert und was passiert, wenn man zu spät kommt. Es ist alles zu beängstigend, zu groß, zu unsicher. Also versucht Hanbin seinen Körper handeln zu lassen, in der einzigen Hoffnung, dass er instinktiv das Richtige tun wird.
Also atmet Hanbin ein, ein letztes Mal, tief, tief, und selbstsicher, bitte, er hat einen Versuch und der ist wichtig, viel wichtiger noch als seine Teilnahme bei Boys Planet, und das kam ihm damals riesig vor, jetzt wirkt es ganz klein, im Vergleich hierzu, das spürt und weiß Hanbin, weil es hier um ein Leben geht und auch, wenn er es nicht kennt, dieses Leben, ist es zu wertvoll, um in einem schwarzen Abgrund zu versinken. Mit ganzer Kraft stößt er sich vom Boden ab, seine Schritte fliegen, noch 3...2...
Aber auch der Fremde klettert, als würde es um sein Leben geben und ja, genau da tut es, nur, dass sie auf unterschiedlichen Seiten der Skala stehen.
Er springt.
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