kapitel 2. nicht kennen

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kapitel 2. nicht kennen

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Dass Kim Jiwoong ein Schauspieler ist, ist eines der ersten Dinge, die Sung Hanbin von ihm erfährt. Das liegt nicht an seiner messerscharfen Auffassungsgabe (die er nicht besitzt) oder an seiner poetischen Ader, die Realität in Metaphern zu verpacken. Es ist lediglich eine Aussage, ein Fakt. Kim Jiwoong ist Schauspieler. Das ist sein Beruf. Kein besonders erfolgreicher, wie er betont.

„Aber du hast schon in K-Dramen mitgespielt?", erkundigt sich Hanbin neugierig. Es ist fünf Uhr morgens. In einer halben Stunde muss er aufstehen, damit er rechtzeitig zu den nächsten Trainingseinheiten im Entertainment sein kann. Theoretisch. Praktisch ist er noch nicht einmal zuhause.

„In ein paar...", antwortet Jiwoong murmelnd und hält sich an seinem Kaffee fest. Er trinkt ihn schwarz, obwohl ihm das ganz offensichtlich nicht zu schmecken scheint. Bei jedem Schluck verzieht er kurz unglücklich sein Gesicht. Sie sitzen in einem Café, irgendwo auf dem Rückweg nach Seoul. Das Taxi, das Hanbin auf den verlassenen Parkplatz gebracht hat, war schon wieder verschwunden, als sie von der Brücke zurückgekehrt sind. Nur ein weiteres Fahrzeug stand auf dem Parkplatz. Es war das von Jiwoong. Mit dem sind sie zurückgefahren bzw. Hanbin ist gefahren, hat sich ganz natürlich auf dem Fahrersitz niedergelassen, weil Jiwoong dazu nicht in der Lage war, und es für ihn selbstverständlich war, das auszugleichen, was der andere gerade nicht konnte.

„Kennt man etwas davon?"

„Es wäre erfolgreicher, wenn man etwas davon kennen würde, oder nicht?"

„Vermutlich. Verrätst du mir trotzdem die Titel?"

„Warum willst du das wissen?"

„Ich will sie mir ansehen", merkt Hanbin locker an. In der U-Bahn schaut er sich oft auf seinem Handy irgendwelche Serien oder YouTube-Videos an. Es hilft die Zeit zu überbrücken und es tut gut, nicht immer vollkommen produktiv sein zu müssen.

„Das ist nichts für dich."

„Und woher möchtest du das wissen?", fragt Hanbin, ein bisschen herausfordernd jetzt, mit hochgezogener Augenbraue und einem Mundwinkel in dem gleichen Winkel.

„Das Genre", antwortet Jiwoong trocken und hebt den Blick, das zweite Mal erst, seit sie Platz genommen haben. Seine Augen sind immer noch glasig, trüb und traurig. Hanbin fragt sich, ob das ihr natürlicher Zustand ist. Manche Menschen werden mit traurigen Augen geboren. „Das Genre ist Boys Love", setzt er fort. Er scheint sich nicht dafür zu schämen, nur vielleicht etwas resigniert zu haben, so trocken und ernst, wie er es ausspricht.

„Und warum sollte das nichts für mich sein?", versucht Hanbin seine Überraschung zu überspielen, die ja eigentlich gar nicht da sein sollte. Boys Love ist ein Filmgenre, das wie jedes andere auch seine Daseins-Berechtigung hat. Wäre er auch überrascht gewesen, wenn Jiwoong ihm erzählt hätte, dass er in Actionfilmen mitgewirkt hat? Vermutlich nicht. Oder...? Obwohl... Vielleicht doch. Je länger Hanbin in Jiwoongs Gesicht blickt, desto mehr denkt er, dass es für eine romantische Lead-Rolle wie gemacht ist. Jiwoong ist hübsch. Mit maskulinen Gesichtszügen und einer scharfkantigen Kinnpartie. Dunkle Augen, kräftige Augenbrauen, eine gerade Nase und volle Lippen. Die Proportionen sind sehr ausgeglichen – klassisch schön eben. Ein Gesicht, in das man sich leicht verlieben kann.

„Bist du nicht ein Idol?", fragt Jiwoong nach, aber es ist nur rhetorisch. Sie haben eben bereits darüber gesprochen, was Hanbin beruflich macht. „Steht in deinem Vertrag nicht geschrieben, dass du nur heterosexuelle Dinge machen darfst?"

Hanbin lacht aufgrund der Direktheit seines Gegenübers. „Sie schreiben mir nicht vor, was für Serien ich gucken darf", sagt er dann, ein bisschen ausweichend vielleicht, weil es in seinem Vertrag wirklich die ein oder andere kontroverse Klausel gibt, die nicht ganz gesetzeskonform ist, wahrscheinlich, wenn man es genau nimmt, aber als Rookie ist es nicht so, dass man in einer besonders guten Verhandlungsposition ist.

„Kommt noch."

„Du bist ja sehr optimistisch."

„Hast du das schon erkannt, ja?", grinst Jiwoong, aber nur ein bisschen und auch nicht richtig fröhlich. „Ich muss wohl zugeben, dass ich nicht die optimistischste Person bin."

„Jap, alle Anzeichen haben dafür gesprochen", stimmt Hanbin zu. Das Thema ist so ernst, dass es schwerfällt, immer nur in den ernstesten Tönen darüber zu sprechen. Hanbin muss ab und an eine lockere Bemerkung einbauen, damit er die Kraft und Energie findet, überhaupt weiter darüber zu sprechen zu können. Das Erlebte steckt ihm immer noch in den Knochen, im Gedächtnis und im Herzen. Trotzdem lächelt er, im Gegensatz zu Jiwoong meint er es wirklich so und spielt es nicht nur. Er streicht sich verlegen eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann greift er wieder nach seinem Kaffeebecher, damit er sich an etwas festhalten kann. „Aber mach dir nichts draus. Ich bin optimistisch genug für uns beide."

„Und du bist dir sicher, dass du das sein möchtest? Optimistisch genug für uns beide?"

„Natürlich bin ich das."

„Du könntest mich auch in Seoul absetzen und so tun, als hätte diese Nacht nie existiert, das weißt du? Du hast keine... Verantwortung für mich. Wegen dem... was passiert ist. Beziehungsweise eben nicht passiert ist." Jiwoong ist ganz ernst, während er das sagt. Er umklammert seine Kaffeetasse so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten. Scheinbar muss er sich auch an etwas festhalten und Hanbin denkt, dass wenn sie sich ein bisschen besser kennen würden, er ihm gerne seine Hand anbieten würde. Aber so ist es vermutlich etwas seltsam, also sehen sie sich nur gegenseitig in die Augen. Ihr Blick ist das Einzige, was sich berührt. Aber auch das ist intim. Jiwoong sieht ihn an, tief und schuldbewusst und freigebend. Eben so, als würde er denken, dass seine Existenz eine Last ist, die er niemandem zumuten will zu tragen.

„Guter Versuch", reagiert Hanbin trocken, aber mindestens genauso ernst. Um eine kleine, dramatische Verzögerung zu kreieren, nimmt er einen Schluck von seinem Karamell Macchiato, den er mit zusätzlichem Zucker gesüßt hat. Der Geschmack setzt unzählige Endorphine frei, die nach einer schlaflosen Nacht dringend gebraucht werden, damit man weitermachen kann.

„Guter Versuch?", wiederholt Jiwoong fragend.

„Jap, guter Versuch. Denk nicht, dass ich nicht gemerkt habe, dass du vom Thema ablenkst. Aber wenn du mir nicht verraten willst, in welchen Dramen du mitgespielt hast, wird Google das eben später tun. Und das ist der einzige Grund, warum ich dich diesmal damit davonkommen lasse."

„Ich wollte nicht –", setzt Jiwoong an, aber Hanbin ist noch nicht fertig. Er wirft ihm einen Blick, der zu gleichen Teilen aus Tadel, Strenge und süßem Milchschaum besteht.

„Du wolltest. Und ich tue dir den Gefallen, den Themenwechsel mitzugehen. Diesmal zumindest und deswegen werde ich dir jetzt sagen, wie das später ablaufen wird, ja? Bist du bereit?"

Jiwoong ist mit Sicherheit nicht bereit. Seine trüben Augen sprechen dafür. Sie waren bereit zu springen, aber sie waren nicht bereit weiterzumachen. Jetzt sind sie gezwungen dazu und Hanbin kann sich nicht vorstellen, wie das sein muss, wenn ein neuer Tag anbricht, den man eigentlich nicht erleben wollte. Wie stellt man sich den Dingen, die so schlimm sind, dass man deswegen sterben will? Es ist nicht so, als hätte er eine Antwort darauf, aber er ist auf jeden Fall bereit dazu, sie gemeinsam mit Jiwoong herauszufinden. Hanbin spricht also weiter, eben weil Jiwoong nicht bereit ist und Hanbin halt auch nicht, aber es trotzdem irgendwie immer weitergeht. Die Welt bleibt ja nicht einfach so stehen, nur weil wir uns das wünschen. 

„Wir werden jetzt zurück nach Seoul fahren", beginnt Hanbin. Er spricht langsam, weil er keine Ahnung hat, wo der Anfang des Satzes ihn am Ende hinführen wird. „Und dann werde ich dich nach Hause bringen. Wir werden hochgehen in deine Wohnung und dann werden wir deine Sachen packen."

„Ich gehe in keine psychiatrische Anstalt", unterbricht ihn Jiwoong, nicht mal panisch oder überrascht, sondern mit erstaunlich gefasster Stimme. Wie ein Mensch, der genau weiß, wovon er spricht.

"Wir gehen zu keiner psychiatrischen Einrichtung." 

"Ich gehe auch nicht ins Krankenhaus."

"Wir fahren auch in kein Krankenhaus."

"Wo fahren wir dann hin?"

"Das wüsstest du, wenn du mich ausreden lassen würdest."

Jiwoong senkt schuldbewusst den Blick, aber Hanbin ist ihm wegen der Unterbrechungen überhaupt nicht böse. Er hatte doch ohnehin keine Ahnung, was er im Begriff zu sagen war, deswegen muss er jetzt nicht einmal umplanen oder improvisieren. Er macht einfach an der gleichen Stelle weiter, an der er eben unterbrochen wurde.

„Wir gehen also in deine Wohnung und dann werden wir deine Sachen packen und zurück zum Auto gehen. Du kannst nur so viel mitnehmen, wie in dein Auto passt. Danach fahren wir zu mir und schlafen uns aus. Du bleibst erstmal bei mir. Danach sehen wir weiter."

„Warum soll ich bei dir bleiben?"

Das ist eine berechtigte Frage, die Jiwoong da stellt. Wieder überlegt Hanbin, ob er mit der Erklärung des Taxifahrers antworten soll (weil du scheinbar nicht der Ort bist, an den ich hinwill, aber an dem ich sein soll?!) oder ob seine geistige Zurechnungsfähigkeit dadurch zu sehr angezweifelt wird. Bisher, findet er, hat er einen ziemlich guten Job gemacht so zu wirken, als wisse er, was er hier tut.

„Warum solltest du nicht bei mir bleiben? Hast du einen anderen Ort, an dem du bleiben kannst und an dem du nicht allein bist?", versucht Hanbin es mit der ältesten Strategie der Welt. Die Frage einfach an den Fragenden zurückgeben.

„Allein sein ist vielleicht genau das, was ich gerade möchte. Außerdem... kennen wir uns nicht?!"

Nun... Das ist ein gutes Argument und nicht von der Hand zu weisen. Mist. Hanbin hat nicht einkalkuliert, dass seine Strategie nicht aufgeht, wenn der Gegenüber eine passende Antwort darauf parat hat. Zeit für Strategie 2: Tatsachen verdrehen und Verwirrung stiften.

„Genau", antwortet er deswegen einsilbig.

„Genau?"

„Ja, genau. Wir kennen uns nicht. Deswegen solltest du bei mir bleiben. Damit wir uns kennenlernen können. Ich glaube nicht, dass es jetzt gut für dich ist, wenn du alleine bist... Auch wenn du vielleicht glaubst, dass es das ist, was du willst."

Jiwoong blickt ihn skeptisch in die Augen, aber neben der Skepsis ist da noch ein anderes Gefühl. Verwirrung? Hanbin glaubt, dass es Verwirrung ist und gratuliert sich innerlich selbst dafür, dass Strategie 2 vielsprechend zu sein scheint. 

„Es ist nicht besonders klug, Fremde bei sich übernachten zu lassen. Ich könnte dich ausrauben. Oder dich im Schlaf umbringen", argumentiert Jiwoong.

„Ich bin nicht die Person, die du töten willst", erwidert Hanbin und es ist vielleicht etwas zu direkt, zu forsch. "Und ich möchte, dass du bei mir bleibst, damit ich darauf achten kannst, dass du auch niemanden anderen umbringst."

So. Jetzt ist es raus. Hanbin atmet schwer, als hätte er gerade Gewichte gestemmt. Theoretisch gesehen hat er das ja auch. Mentale Gewichte. Jiwoong hat ihm so viel Stärke eventuell nicht zugetraut, denn ihr Austausch kommt jedenfalls zu einem jähen Erliegen. Jiwoongs Augen weiten sich, überrascht und nicht ertappt, weil seine Absicht ja offensichtlich war, es war nur nicht absehbar, dass er so offen damit konfrontiert wird. Direktheit ist schwierig. Die meisten Personen scheitern an ihr und scheinbar ist Jiwoong auch gewohnt, dass die meisten Personen an ihm scheitern. Er lässt den Kopf sinken und nimmt einen weiteren Schluck von dem bitteren Kaffee, den er eigentlich gar nicht mag.

„Ich könnte dich trotzdem noch ausrauben...", sagt Jiwoong. Es ist so leise, dass es kaum zu verstehen ist und Hanbin schmunzelt, minimal nur, weil er das trotzdem als Erfolg ansieht. Das Jiwoong zumindest nicht abstreitet, was nicht abzustreiten ist, und vielleicht schon so viel Vertrauen zu Hanbin gefasst hat, dass er denkt, dass der Versuch auch wirklich nicht notwendig ist.

„Bei mir gibt es nichts zu holen."

„Ich dachte, du bist ein Idol? Solltest du nicht reich sein?"

„Die meisten Idole sind nicht reich. Die Schulden bei den Entertainments sind viel zu hoch. Außerdem bezahlt die Filmindustrie viel besser. Im Vergleich zu mir, bist du wahrscheinlich die reiche Person hier am Tisch. Du solltest Angst davor haben, dass ich dich ausraube."

„Ist das dein Versuch mich davon zu überzeugen, dass ich heute Nacht bei dir schlafe?"

„Von Nacht kann kaum die Rede sein", sagt Hanbin nachsichtig und beobachtet, wie der Himmel vor dem Fenster draußen bereits sein nächtliches Kleid abgelegt hat. Er ist immer noch dunkel, aber jetzt mit einer Nuance blau zwischen all dem Schwarz. „Funktioniert es denn?", fragt er, als er den Blick zu seinem Gesprächspartner zurückschweifen lässt.

„Du bist nicht besonders gut darin", merkt Jiwoong an.

„Da könntest du einen Punkt haben. Aber du hast Nachsicht, weil ich so charmant dabei bin, oder?"

Das Nicken von Jiwoong ist genauso zaghaft wie die Berührung seiner Finger, als seine Hand den Druck von Hanbin erwiderte. Anscheinend sind alle seine Zusagen so, zögerlich und zurückhaltend, kaum bemerkbar, fast so, als würde er hoffen, dass sein Gegenüber etwas achtloser ist und sie übersieht. Hanbin ist vieles, aber achtlos gehört nicht dazu, deswegen achtet er genau drauf und nimmt sich vor, immer so genau hinzusehen, damit ihm nichts entgeht, nicht, wenn es um diese kleine Entgegenkommen seitens Jiwoong geht.

„Also ist das ein Ja?", fragt er nach, um sicherzugehen und vielleicht auch, weil Jiwoong insgesamt nicht den Eindruck auf ihn macht, als würde das oft gemacht werden. Rücksicht auf ihn genommen.

Jiwoong nickt in einer dezenten Geste. „Das ist ein Ja", bestätigt er.

„Gott sei Dank", atmet Hanbin erleichtert aus, der wirklich nicht wusste, wo er mit seiner ursprünglichen Aussage hinwollte und dafür umso zufriedener mit dem Ausgang ist. Vor Erleichterung nimmt er den nächsten Schluck von seinem Macchiato, beobachtet, wie Jiwoong es ihm gleich tut, mit seinem bitteren Kaffee und beschließt, dass er den unglücklichen Gesichtsausdruck keine Sekunde länger ertragen kann. Also tut er etwas, das gegen jegliche Höflichkeitskonventionen verstößt, die in Südkorea existieren.

Aus einem Impuls heraus greift er nach seinem Glas, hebt es an und einen Sekundenbruchteil später sieht er sich selbst dabei zu, wie er etwas von seinem Karamell Macchiato in Jiwoongs schwarzen Kaffee schüttet, der danach... gar nicht mehr so schwarz ist. Sondern nur noch dunkel, mit einer Spur Farbe darin, wie der Himmel eben, wenn er noch nicht ganz bereit für den Sonnenaufgang ist.

„Besser", lächelt Hanbin zufrieden, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und hebt sein Glas so hoch vor sein Gesicht, dass Jiwoong seine rosigen Wangen hoffentlich nicht sehen kann. „Probier' mal. Ich wette, der Kaffee schmeckt dir jetzt besser."

„Ich trinke meinen Kaffee immer schwarz", merkt Jiwoong an und wenn es ein Protest sein soll, dann ist es der schwächste Protest aller Zeiten.

Hanbin macht ein ungläubiges Geräusch. „Gott", stößt er aus, wahrscheinlich im vollkommenen Kontrast dazu, „dann wird es wirklich dringend Zeit, daran etwas zu ändern."

Er hat ja keine Ahnung, auf wie vielen Ebenen diese Aussage interpretiert werden kann.

Jiwoong aber auch nicht, hoffentlich zumindest, denn er hebt nur seinen Kaffee an, sieht immer noch skeptisch aus und ernsthaft, als würde das Aussehen etwas über den Geschmack verraten können, und verzieht die Nase zu einem süßen Kräuseln, während er daran riecht. Der erste Schluck ist winzig. So winzig, dass er kaum etwas geschmeckt haben dürfte, aber zumindest schreckt es ihn nicht ab, denn kurz darauf nimmt er einen zweiten, etwas größeren Schluck.

Sein Gesicht verzieht sich nicht.

Das ist Antwort genug für Hanbin.

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„Ja, ich bin wirklich krank", erklärt Hanbin mit seiner nasalsten Stimme. „Ich würde kommen, wenn es irgendwie ginge... Ja... Mhm... Ja, morgen vielleicht noch nicht.... Ich weiß nicht genau. Ich melde mich nochmal, sobald es mir besser geht. Ja... mehr als ein paar Tage wird es nicht dauern. Ich denke nicht, dass ich einen Arzt sehen muss. Nur mal ausschlafen... Mhm... es war ein bisschen viel in den letzten Tagen... Genau..."

Noch eine letzte Kunstpause. Hanbin tut es im Herzen weh, seine Bandmember zu enttäuschen und ihnen Sorge zu bereiten, deswegen kann er das Gespräch nicht länger führen als es unbedingt notwendig ist. Außerdem hasst er es zu lügen und kann die Tat nur vor sich selbst rechtfertigen, weil es eben ein Notfall ist und er sich seltsam verantwortlich für Jiwoong fühlt, obwohl er bisher nie besonders überzeugt von dem Konzept Schicksal war.

„Du überarbeitest dich immer, Hyung", sagt Hao gerade. Die anderen Bandmitglieder stimmen ihm inbrünstig zu. Hanbin hört es an den aufrichtigen Stimmen im Hintergrund. Er hat zwar Hao angerufen, aber mit Sicherheit ist er auf Lautsprecher gestellt, sodass alle an ihrem Gespräch teilnehmen können. Und das tun sie, die Stimmen der restlichen Member, die sich gegenseitig mit guten Besserungswünschen und Ratschlägen für eine schnelle Genesung übertönen. Hanbin ist gerührt davon, so sehr, dass er sich räuspern muss und jetzt wirklich heiser klingt, als er weiterspricht.

„Ja, ich hör die Jungs im Hintergrund. Grüß' alle... Nein, ihr müsst euch keine Sorgen machen. Ich melde mich, wenn ich etwas brauche... Arbeitet hart, okay? Fighting!" Hanbin versucht gleichzeitig aufmunternd und krank zu klingen. Dass die anderen ihm seine Ausrede so ohne weiteres glauben, macht es fast noch schlimmer. Deswegen legt er auf ohne eine weitere Antwort abzuwarten, lässt sich gegen die Wand in seinem Rücken sinken und atmet erschöpft aus.

„Du hättest wegen mir nicht lügen müssen", sagt Jiwoong da überraschend. Er kommt gerade aus dem Badezimmer, hat sich anscheinend so lautlos bewegt, dass Hanbin ihn nicht bemerkt hat. Mit einem Handtuch reibt er sich über die noch feuchten Haare und sieht in der gemütlichen Schlafkleidung, die Hanbin ihm geborgt hat, weil sie seine eigenen Sachen noch nicht ausgepackt haben, weich aus. Hanbin lässt den Anblick für eine Sekunde auf sich wirken, vertreibt damit den ersten Schreck, weil er es nicht gewohnt ist, Besuch in seiner Wohnung zu haben, bevor er antwortet.

„Ich hätte aber heute so oder so nicht zum Training gehen können. Ich bin so erschöpft, dass ich nicht glauben kann, dass ich immer noch stehe. Und mir ist es wichtig, dass ich jetzt bei dir bin."

Von allen Möglichkeiten einer Antwort entscheidet sich Jiwoong nach einer gut überlegten Bedenkpause schließlich für: „Du musst sehr pflichtbewusst sein." Es klingt ein bisschen wie ein Vorwurf, Hanbin kann nur noch nicht verstehen, wofür er ihn ihm macht.

„Das sagt man mir zumindest nach", sagt Hanbin bescheiden, obwohl er weiß, dass es stimmt und er manchmal stolz auf sich ist für diese Eigenschaften. Das Pflichtbewusstsein, aber vor allem die Verlässlichkeit, die damit einhergeht. Er denkt, dass das einen guten Menschen ausmacht. Dass man sich auf ihn verlassen kann. „Soll ich dir die Haare trocknen?", fragt er, um das Thema schnell wechseln zu können. Prahlen ist nichts, was er gerne mag, und generell traut er sich nicht mehr zu, heute noch ein Gespräch über sich selbst zu führen. Oder über sonst irgendetwas.

„Willst du dein Pflichtbewusstsein so schnell unter Beweis stellen? Mach dir keine Sorgen. Das hast du bereits getan."

„Was meinst du?"

Aber Jiwoong zeigt nur mit einer unwirschen Handbewegung auf ihre Umgebung. „Das hier – alles? Deine Wohnung? Du hättest mich nicht mit zu dir nehmen müssen."

„Ich übernachte aber nicht gerne bei Fremden", antwortet Hanbin nicht nur mit einem Zwinkern in der Stimme, sondern mit einem wortwörtlichen Zwinkern. Er weiß, dass das charismatisch wirkt, wenn er es vor der Kamera tut, aber gerade fühlt sich der Schlafentzug so gravierend an, dass er glaubt, sein Zwinkern hat nicht mehr viel mit irgendeiner Form von Charisma gemein. Schade.

„Du bist wirklich eine Nummer für sich", entscheidet Jiwoong schließlich mit einem letzten, vorsichtigen Blick auf Hanbin. Dann versteckt er sich unter dem Handtuch, legt es sich so auf den Kopf, dass es über seine Augen fällt und fährt damit fort, seine Haare trocken zu rubbeln.

Die Stille, die sich daraufhin ausbreitet, ist angenehm und schwer. Mittlerweile ist es hell draußen geworden, der Himmel ist nicht mehr schwarz, sondern grau und trüb mit einer dünnen Schicht Regelnwolken, sodass die Sonne hindurch scheinen könnte, wenn sie nur nicht ganz so müde wäre. Hanbin verliert sich in diesen Gedanken – über die Sonne und eine dünne Schicht aus Wolken – und in der Gleichmäßigkeit von Jiwoongs Bewegungen. Das graue Schlafshirt erinnert ihn urplötzlich an das Wetter und dann sind die Wolken nicht mehr nur vor dem Fenster, sondern auch in seinem Kopf. Erst dünn, dann dicht, dichter, immer dichter...

Er kann nicht mehr denken. Eigentlich kann er gar nichts mehr. Das war auch der Grund dafür, warum sie einstimmig entschieden haben, Jiwoongs Hab und Gut vorerst im Auto zu lassen und mit dem Ausräumen erst zu beginnen, wenn sie ausgeschlafen haben.

„Wo soll ich schlafen?", fragt Jiwoong deswegen nun. Hanbin schreckt auf, aus seiner Haltung an die Wand gelehnt und bemerkt überrascht, dass er nicht einschätzen kann, wie viel Zeit vergangen ist. Ist er ernsthaft im Stehen eingeschlafen? Zumindest Jiwoongs Haare sind mittlerweile trocken und er hat sein Handtuch weggebracht. Er steht dichter vor ihm als noch zuvor, mit einem fragenden Ausdruck in glasigen Augen.

„Du kannst das Bett haben", sagt Hanbin, weil er ohnehin viel zu oft auf der Couch einschläft, weil er abends einfach zu müde ist, um die zehn zusätzlichen Schritte bis ins Schlafzimmer zu gehen. Auch jetzt sind es nur drei Schritte bis zur Couch und das ist das absolute Limit, das er sich in diesem Zustand noch zutraut. „Ich kann es dir nur nicht zeigen. Zu weit. Sieh dich einfach um, so groß ist die Wohnung ja nicht." Die letzten Worte gehen in ein unklares Nuscheln über, Hanbin bemerkt es selbst, wie die Silben unklar artikuliert werden, aber seine Zunge macht nicht mehr, was sie soll und diese Wolken...

Er glaubt, er ist eingeschlafen, noch bevor sein Kopf auf den Kissen ankommt. 

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