Umwege
Als June und Alex gegen fünf ins Zimmer kommen sitze ich zusammengekauert mit meinem Zeichenblock auf der Fensterbank und Zeichne.
Doch scheinbar ist den beiden egal, wie niedergeschlagen ich bin, denn kurzerhand nehmen sie mir den Stift und den Block aus der Hand und packen mich warm ein.
"Schluss mit Trübsal blasen! " bestimmt Alex resolut "Jetzt machen wir eine Schneeballschlacht und gehen Schlittschuhlaufen!"
"Muss das sein?" frage ich störrisch, doch das hilft mir nichts, denn ein gemeinsames "Ja, muss es!" kommt von meinen beiden Freundinnen, und dann schleifen sie mich auch schon nach draußen.
Auf dem See herrscht reges Treiben. Viele Schüler schlittern mit Schneeschiebern bewaffnet über das Eis um es von den Schneemassen des vergangenen Tages zu befreien. Auch ich bekomme kurzerhand eine Schaufel in die Hand gedrückt.
"Komm, wir bauen uns erst mal einen Wurfschutz, hinter dem wir uns verstecken können. Sonst haben wir keine Chance." sagt Alex grinsend und beginnt augenblicklich Schnee auf einen Haufen zu werfen, den June mit ihren Händen festklopft.
Bald schon haben wir eine kleine Mauer, hinter der wir uns verstecken können und beginnen uns Wurfgeschosse zurechtzulegen.
Eigentlich sind wir noch mitten in den Vorbereitungen, als wir von den ersten fliegenden Geschossen abgeworfen werden.
"Ha! Das bekommst du zurück!" schreit Alex einem Jungen zu, der sie mit einem Schneeball am Rücken getroffen hat und schon rennt sie schlitternd über die glatte fläche hinter ihm her.
Ich frage mich sowieso, warum wir die Schneeballschlacht nicht auf dem Rasen machen, sondern auf dem See, aber bei der Masse an Schülern, die nach und nach aufs Eis strömen, hätte die Wiese schon bald nicht mehr gereicht. Deshalb wohl der See...
Wir sind mitten in der schönsten Schneeballschlacht und sogar mir beginnt die Sache langsam Spaß zu machen, als ich plötzlich ausrutsche und schmerzhaft mit dem Kopf aufs Eis knalle.
"Au!" stöhne ich auf und reibe mir den Hinterkopf, als sich jemand nach meinem Befinden erkundigt.
"Hast du dir weh getan?"
"Nein geht schon." sage ich mit zusammengekniffenen Augen und lasse mir von dem Jungen aufhelfen.
"Danke Felix." seine Augen funkeln mich belustigt an und auch auf meine Lippen schleicht sich bei seinem Anblick ein kleines Lächeln, das jedoch kurz darauf verblasst als Ian, Hand in Hand mit Emma, auf Schlittschuhen über das Eis gleitet.
"Lass mich nicht los, sonst fall ich hin!" höre ich sie sagen, dabei sieht sie nicht so aus, als hätte sie Schwierigkeiten sich auf den Beinen zu halten.
"Mir ist kalt. Ich glaub ich geh mal nach drinnen." trete ich die Flucht an.
"Warte, ich komm mit." Felix fasst neben mir schritt und begleitet mich.
"Bist du nicht gerade erst gekommen?" frage ich verwundert.
"Doch, aber ich steh nicht so auf Schneeballschlacht." sagt er verhalten grinsend.
"So, so." irgendwo in meinem Inneren flackert plötzlich ein Funken Albernheit auf und kaum sind wir auf festem Boden hebe ich eine Hand Schnee auf und stopfe sie Felix in den Kragen.
"Na warte!" ruft er mir nach, als ich so schnell ich kann auf das Gebäude zu renne, doch leider ist er nicht weniger schnell und erwischt mich somit genau in dem Moment als ich die Terrasse betrete.
"Ihh...!!" schreie ich auf, als Felix mir Händeweise Schnee in die Jacke stopft.
"Stopp! Stopp! Bitte Felix aufhören!" schreie ich kichernd, als das kalte Zeug den weg auf meine warme Haut findet.
"Es tut mir leid. Wirklich!" versichere ich ihm, als er erneut mit einer Hand voll Schnee drohend über mir aufragt.
"Na gut. Aber wehe du kommst nochmal auf dumme Gedanken." spottet er.
Lachend befreie ich mich von dem nassen Zeug, dann gehen wir nach drinnen, doch mit jedem Schritt, den wir uns von der ausgelassenen Stimmung entfernen, legt sich der Schwermut wieder auf mein Herz.
Obwohl es fürs Abendessen noch ein bisschen früh ist, täusche ich hunger vor, damit wir in Ruhe essen können. Irgendwie ist mir nicht danach Ian in Emmas Gesellschaft beim Essen zuzusehen.
Und so kommt es, dass wir bereits fast fertig sind, als unsere Freunde und wenig später auch Ian in die Mensa kommen.
Wobei mein Essen aus einer Trockenen scheibe Knäckebrot und mehreren Tassen Tee bestand.
Unbehaglich rutsche ich auf meinem Stuhl herum, als ich sehe, wie Ian sich von Emma trennt und zu uns herüber kommt.
Ich wage kaum zu Atmen und mit jedem Schritt, mit dem er sich nähert nimmt das nervöse Flattern in meinem Bauch zu. Warum kommt er hier her? Das hat er doch sonst nicht getan. Angespannt kralle ich mich an meine Tasse, als Ian schließlich bei uns ankommt.
"Hi." grüßt er locker in die Runde. "Hier, das hast du vorhin im Auto liegen lassen." er reicht Felix irgendwas, dann nickt er uns noch mal zu und geht.
Kein Wort zu mir, nicht mal ein Blick, dabei hätte ich alles dafür gegeben, wenn er mich nur einmal angelächelt hätte, mich auch nur eines Blickes gewürdigt hätte, aber das hat er nicht. Stattdessen hat er mich ignoriert.
Und da ist er schon wieder. Dieser Knoten in meinem Bauch, der mir unerträgliches Leid verursacht und auch Übelkeit.
Ich bleibe noch fünf Minuten sitzen, dann halte ich es nicht mehr aus, denn dummerweise sitze ich genau so, dass Ian die ganze Zeit in meinem Blickfeld sitzt und auch wenn ich mich bemühe ihn nicht ununterbrochen anzustarren, so kann ich mir ja schlecht die Finger in die Ohrenstecken um seine und Emmas Stimme nicht hören zu müssen.
Eilig verabschiede ich mich für heute von meinen Freunden und verlasse fluchtartig den Raum, ohne mich noch einmal umzusehen.
Mein Weg führt mich wie so oft zum Klavier, mit dem ich einige Zeit verbringe und obwohl ich heute mal wieder Zuhörer habe, lasse ich mich nicht beirren und spiele mehrere Stunden. Längst ist es draußen dunkel geworden und als ich mich für heute aus diesem Raum zurückziehe fühle ich mich fast wieder so schlimm wie gestern, nachdem ich Mikes Wohnung verlassen habe.
Erneut fällt eine Tür in meinem Rücken zu, doch diesmal ohne die Endgültigkeit, die mich gestern so fertig gemacht hat, trotzdem habe ich das Gefühl, das nicht alles so läuft, wie es soll.
In Gedanken versunken, mit gesenktem Kopf gehe ich langsam Richtung Kaminzimmer, und will gerade die Hand nach der Tür ausstrecken, als diese aufgestoßen wird.
Überrumpelt stolpere ich über meine eigenen Füße, als ich erschreckt einen Schritt zurück weiche und wäre prompt gestürzt, wenn mich nicht jemand festgehalten hätte.
"Gehst wieder?" fragt Ian kurz angebunden und lässt mich los, kaum dass ich wieder sicher auf meinen Füßen stehe.
"Ja, danke, geht schon." ergriffen schnappe ich leicht nach Luft, denn so nah wie jetzt war ich ihm schon lange nicht mehr und was das Beste ist, Emma ist nicht da. Niemand ist da. Wir sind ganz allein, doch bevor ich auch nur ein weiteres Wort sagen kann, geht Ian an mir vorbei und lässt mich einfach stehen.
Verletzt schaue ich ihm nach, dann setze ich mich den Tränen nahe auf das Sofa an den Kamin, der ausnahmsweise einmal brennt. Doch ich sehe die Flammen kaum, nehme sie und die Wärme, die sie ausstrahlen kaum wahr.
Das einzige, was ich sehe, sind seine Augen. Diese grünen Augen, mit den kleinen braunen Sprenkeln, die ich so liebe, weil sie so viel mehr über ihn sagen als seine Worte.
Habe ich mich getäuscht? Oder haben sie sich tatsächlich ein klein wenig geweitet, als er mich erkannt hat, als er merkte wen er vor dem Sturz bewahrte.
Doch selbst wenn, hat das vermutlich nichts zu bedeuten. Er war halt erstaunt, genau wie ich.
Nachdenklich kuschele ich mich in eine Ecke des Sofas und decke mich mit einer Wolldecke zu. Irgendwie möchte ich noch nicht in unser Zimmer zurück gehen. Es ist so schön ruhig hier. Niemand ist hier, außer mir und in unserem Zimmer ist sicher June. Vielleicht sogar Alex und was auch nicht selten vorkommt, Joris, denn er und June sind nachwievor ein glückliches Paar.
Als ich das nächste Mal die Augen öffne ist es beinahe stockdunkel. Nur das leichte, rote glimmen was vom Kamin ausgeht, erhellt den Raum.
Leise stehe ich auf um in unser Zimmer zurückzugehen, als ich wie erstarrt stehenbleibe.
Neben mir auf dem Sessel sitzt jemand. Ich kann nicht sehen ob er oder sie schläft oder wach ist, aber da der Kopf ein wenig nach hinten an die Lehne gelehnt ist, kann ich wohl davon ausgehen, dass die Person schläft.
Neugierig, wer mir hier Gesellschaft leistet, ohne mich zu wecken, nähere ich mich ihr mit klopfendem Herzen.
Mit jedem Schritt, den ich auf den Sessel zugehe, werde ich nervöser, denn um so dichter ich komme, desto genauer kann ich den Menschen im Sessel sehen. Und was ich erkenne, lässt mich nur noch nervöser werden, denn es ist Ian.
Er ist hier bei mir und schläft.
Was macht er denn hier? Ob er mich gesucht hat? Vielleicht hat June sich Sorgen gemacht, als ich nicht wiederkam und alle haben mal wieder nach mir gesucht, aber warum hat er mich denn nicht geweckt, als er mich gefunden hat, damit ich in mein Zimmer gehen konnte?
Ganz dicht stehe ich vor ihm und schaue ihn an. Genieße es, ihm wieder so nah zu sein, ohne das er geht. Ohne, dass Emma da ist, ohne dass irgendwer da ist und vor allem ohne das bedrückende Gefühl, was in meiner Brust entsteht, wenn er mich nicht beachtet.
Endlich kann ich mich, ohne Reue, an seinem Anblick satt sehen.
Sehnsüchtig schweift mein Blick von seinen zerwühlten Haaren zu seinen geschlossenen Augen. Von dort hinunter zu seinem Mund und seinem Kinn, das etwas dunkler scheint, als seine Wangen.
Ohne mir dessen bewusst zu sein, hebe ich die Hand und streiche ihm mit den Fingern über die rauen Wangen, dann streiche ich ihm eine Strähne aus der Stirn, was ihn zum lächeln bringt.
Mir bleibt fast das Herz stehen, doch er ist nicht aufgewacht. Er schläft noch immer in aller Seelenruhe.
Wie gern würde ich mich jetzt auf seinem Schoß zusammen rollen, würde mich an ihn schmiegen und ihn küssen. Aber das kann ich nicht. Oder doch? Vielleicht sollte ich es einfach tun.
Mehr, als mich runter zu stoßen, kann er ja nicht tun.
Aber so sehr ich mich auch nach seiner Nähe sehne, so sehr ich mich danach verzehre seine Arme um mich zu spüren, ich tue es nicht. Setze mich nicht auf seinen Schoß, sondern knie mich vor ihn auf den Boden und schaue ihn einfach weiter an. Sehe wie sich in ruhigen Zügen seine Brust hebt und senkt, höre, wie ihm gelegentlich ein leises seufzen entfährt und genieße es einfach bei ihm zu sein.
Und endlich kann ich ihm auch sagen, was ich für ihn fühle, ohne das er mich unterbricht, ohne das er davonrennt. Ich weiß zwar nicht, ob er mich hört, oder ob er versteht, was ich ihm sage, aber das ist irgendwie auch nicht so wichtig. Allein dadurch, dass er hier ist, bei mir und ich ihm sagen kann was mich bewegt, fühle ich mich besser.
Vorsichtig lehne ich den Kopf an sein Knie und schließe die Augen. Genieße dieses Gefühl der Nähe, obwohl ich weiß, dass er, wenn er wach wäre, diese wohl nicht zulassen würde.
Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken streiche ich sein Bein auf und ab und bekomme einen riesen Schreck, als er sich im Schlaf plötzlich bewegt und seine Hand auf meinen Kopf legt.
Mit angehaltenem Atem erstarre ich zur Reglosigkeit, nicht wissend, ob er vielleicht doch aufgewacht ist, doch als er sich nicht weiter bewegt, entspanne ich mich langsam wieder und atme erleichtert auf.
Er schläft noch immer.
Lange Zeit sitze ich einfach nur da und rede mit ihm, streichle sein Bein, genieße die Berührung seiner Hand auf meinem Kopf, die sich hin und wieder ein kleines Bisschen bewegt, aber langsam schlafen mir die Beine ein und meine Augen werden schwer. Eigentlich sollte ich längst im Bett liegen und schlafen, aber ich will ihn nicht verlassen. Den Rest der Nacht will ich aber auch nicht hier auf dem Fußboden verbringen, und so stehe ich auf, streiche ihm nochmal mit klopfendem Herzen übers Haar und gebe ihm einen Kuss auf die Stirn.
Und sehe, als ich mich wieder von ihm zurück ziehe das kleine, scheue Lächeln, das seine Mundwinkel umspielt und das mein Herz zum Schmelzen bringt.
Überwältigt, von der Heftigkeit meiner Gefühle, die mich bei diesem Anblick überkommt, taumele ich beinahe zurück auf das Sofa.
Meine Hände zittern und die Schläge in meiner Brust bringen auch den Rest meines Körpers zum beben.
Unfähig irgendetwas zu tun, lege ich mich nach Atem ringend auf das Sofa zurück und decke mich erneut mit der Wolldecke zu. Schlafen, kann ich auch hier. Hier, wo er ist. Wo ich ihm nahe bin, so nahe und doch nicht nah genug.
Allerdings dauert es noch mehrere Minuten, bevor sich mein Puls endlich wieder normalisiert und mein aufgewühltes Herz zur Ruhe kommt.
"Ich liebe dich." flüstere ich noch einmal bevor ich zurück in den Schlaf finde.
Als mich mein Handy einige Stunden später erneut weckt, blinzele ich etwas verwirrt, doch dann kommt mit einem mal die Erinnerung zurück und schon beginne ich zu lächeln.
"Ian?" flüstere ich leise, doch ich bekomme keine Antwort, dabei muss mein Handy ihn doch geweckt habe. Oder ist sein schlaf so tief, das er es nicht gehört hat.
Langsam richte ich mich auf und versuche in der Dunkelheit, die noch immer herrscht seine Silhouette auszumachen, aber es geht nicht.
Er ist weg.
Enttäuscht stehe ich auf und kehre leise in unser Zimmer zurück um mich umzuziehen.
Doch als ich das Zimmer betrete liegt June noch immer im Bett.
"Hey." grüße ich sie verwundert. "Warum bist du denn noch nicht auf?"
"Mir gehts nicht so gut. Ich glaub, du musst heute mal alleine losziehen." sagt sie heiser.
"Was ist denn los?"
"Mir tut der Hals weh und der Kopf. Ich glaub ich hab mir was eingefangen."
Mitleidig streiche ich ihr über den Arm.
"Dann schlaf noch ein bisschen und erhol dich. Soll ich im Sekretariat Bescheid sagen, dass du krank bist?"
"Ne, brauchst du nicht. Vielleicht gehe ich ja doch zum Unterricht, aber ich komm heute nicht mit Laufen."
"Okay. Ist nicht schlimm. Ich find den Weg inzwischen auch allein." Ich schenke ihr ein aufmunterndes lächeln, das sie sogar erwidert.
"Wo warst du denn die ganze Nacht?" will sie wissen.
"Im Kaminzimmer. Ich bin auf den Sofa eingeschlafen." Erkläre ich ihr, während ich mich umziehe.
"Die ganze Nacht auf diesem unbequemen Sofa? Du arme."
"Ach, halb so wild. Eigentlich war es sogar recht bequem." ein Lächeln umspielt meine Lippen, als ich an meine Gesellschaft denke, doch da ich inzwischen fertig umgezogen bin, verabschiede ich mich von June und lasse sie wieder allein.
Draußen ist es ziemlich kalt, aber auch irgendwie schön. Die Bäume sind mit einer dicken Schneedecke bedeckt und es ist kaum etwas zu hören. Nur meine knirschenden Schritte im Schnee stören die idyllische Stille.
Noch immer ist es dunkel aber der Schnee sorgt dafür, dass ich ziemlich gut sehen kann. Allerdings erschwert er auch das Laufen, denn der Weg am See liegt unter einer dichten Schneedecke begraben.
An manchen stellen versinke ich bis zu den knöcheln in der weißen Pracht und muss mich ganzschön anstrengen, mein Tempo zu halten.
Deshalb brauche ich heute auch deutlich länger für die Strecke und so kommt es, das ich fast zu spät zum Frühstück komme.
In der Tür zur Cafeteria bleibe ich kurz stehen und sehe mich suchend im Raum um, doch Ian ist nicht da.
Vielleicht ist er ja schon hier gewesen und inzwischen mit dem Frühstück fertig. Wäre ja möglich.
Ein klein wenig enttäuscht will ich gerade ans Büffet gehen, als jemand ganz dicht an mir vorbei geht. Ganz leicht berühren sich unsere Arme und erst als ich den Blick hebe, um zu sehen, wer es ist, bleibt mir fast das Herz stehen nur um gleich darauf von dem Stromstoß, der mir die Berührung noch im Nachhinein verpasst wieder zum Schlagen gebracht zu werden. Allerdings schießt es etwas über das Ziel hinaus, so dass ich nach Luft schnappen muss.
"Hi." sage ich so locker wie möglich, doch das breite Grinsen, das mein Gesicht verzerrt macht alle Lockerheit zu Nichte.
"Oh, hallo." kommt es erstaunt von Ian, ganz so als hätte er mich gerade erst erkannt und das gute Gefühl sackt ein wenig in sich zusammen.
"Hast du auch verschlafen?"
"Ähm... nein. Ich war nur zu lange Laufen und bin deshalb spät dran."
Wir haben den gleichen Weg und so gehen wir Seite an Seite zum Büffet um unser Frühstück zu holen.
Nervös schlägt das Herz in meiner Brust und meine Hände zittern, so aufgeregt bin ich.
"Ach so." sagt er gleichgültig.
Unschlüssig, was ich Essen soll stehe ich vor den Brötchen. Irgendwie hab ich Hunger, aber irgendwie auch nicht.
Ians verhalten macht mich ganz unruhig und ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll.
Warum ist er gestern Nacht bei mir geblieben, wenn er es doch scheinbar gar nicht will? Zumindest lässt mich sein jetzt so gleichgültiges Verhalten dies annehmen.
Ob ich ihn darauf ansprechen soll? Ob ich ihm sagen soll, das ich weiß, dass er in dem Sessel geschlafen hat? Oder vielleicht sollte ich ihm einfach sagen, das ich Mike gesagt habe, das ich nicht mit ihm zusammen sein kann. Wer weiß, wann, oder ob überhaupt, ich sonst noch mal die Gelegenheit dafür finden werde.
Aber vielleicht weiß er es ja schon. Denn gestern Nacht habe ich es ihm gesagt. Wieder und immer wieder habe ich ihm gesagt, das ich ihn liebe und das allein er in meinem Herzen ist. Niemand sonst. Aber da hat er geschlafen. Vielleicht sollte ich es ihm nochmal sagen, jetzt. Wo er hier bei mir ist.
Doch bevor ich mich für die richtigen Worte entscheiden kann ist es wieder mal zu spät.
"Man sieht sich." sagt er nicht unfreundlich und trägt sein Tablett hinüber an einen der Tische, wo er sich neben einen Jungen setzt, den ich nur vom sehen kenne. Immerhin ist Emma nirgends zu sehen.
Mein Tablett ist noch immer leer, und das bleibt es auch größten Teils, denn außer einer Tasse Kaffee und einem Glas O-Saft, so wie einem Joghurt, nehme ich mir nichts von den Sachen, die hier liegen. Zu sehr schmerzt dieser Knoten in meinem Bauch, der sich dort schon wieder ausbreitet.
Mit langsamen Schritten gehe ich zu June hinüber, die sich doch noch aus dem Bett gezwungen hat.
"Sag mal, was ist eigentlich zwischen euch beiden los?" will sie mit einem kleinen Nicken in seine Richtung wissen.
"Nichts, was soll schon sein?"
"Weiß nicht, aber seit einiger Zeit, geht ihr euch aus dem Weg oder irre ich mich da?"
"Schon möglich." sage ich ausweichend und schaue Kurz zu Ian hinüber.
"Komm schon Mia, red doch mit mir. Du musst nicht immer alles in dich rein fressen, oder glaubst du ich merk nicht, dass mit dir was nicht stimmt."
Nachdenklich schaue ich June an, die aufmunternd eine Hand auf meinen Arm gelegt hat.
Ob ich mit ihr reden soll? Vielleicht weiß sie ja einen Rat, was ich machen soll, um Ian dazu zu bringen, wieder mit mir zu reden. Und mir nicht mehr aus dem Weg zu gehen.
Und wenn nicht?
Tja, dann bin ich genauso schlau wie jetzt, also was solls.
"Also gut." sage ich schließlich und weil nur wir beide hier sind, beginne ich ihr von meinem Problem zu erzählen.
Schweigend hört sie mir bis zum Ende zu, runzelt nur hin und wieder die Stirn oder schaut zu Ian hinüber, der nachwievor mit seinem Essen beschäftigt ist, aber irgendwie kaum etwas anrührt. Genau wie ich.
"Und jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll." beende ich meinen Monolog.
"Irgendie kann ich ihn ja verstehen, aber wenn ich das richtig sehe, dann hat er dich geliebt und du ihn. Oder irre mich da?"
"Ich hoffe nicht. Ich mein... ich kann ja nur für mich sprechen. Und ob er mich liebt, weiß ich nicht, aber ich hoffe es." sage ich zweifelnd.
"Mia, er hat dir gesagt, das er den Gedanken nicht erträgt, dich mit einem Anderen zu sehen, wie kannst du da noch daran zweifeln, das er Gefühle für dich hat?"
"Er ist so abweisend seither. Seit der Wohltätigkeitsveranstaltung." erkläre ich ihr woher meine Bedenken kommen, dann lehne ich mich grübelnd auf dem Stuhl zurück und nehme einen Schluck von meinem Saft.
"So wie ich das sehe, versucht er nur sich selbst zu schützen, Mia. Oder stört es dich etwa nicht, wenn er mit anderen Mädchen zusammen ist?" fragt sie und sieht mich wissend an, dann sagt sie, ohne meine Antwort abzuwarten, "Na siehst du, hätte ich auch nicht anders erwartet."
"Aber was soll ich denn machen, June. Er geht mir aus dem Weg. Und ich kann ihn doch schlecht irgendwo einsperren, damit er mir zuhört. Außerdem, wer sagt denn, dass er mir glauben würde, selbst wenn ich ihn dazu bringen könnte mir zuzuhören?"
"Was heißt denn hier, er geht dir aus dem Weg, Mia." sagt June tadelnd, was ich gar nicht verstehen kann. Deshalb schaue ich sie auch verwirrt an.
"Du gehst ihm doch genauso aus dem Weg, oder glaubst du mir ist nicht aufgefallen, dass du ständig verschwindest, kaum dass er den Raum betritt."
"Das stimmt doch gar nicht." sage ich verhalten und senke den Blick auf meinen Teller, dann füge ich leise hinzu, "Zumindest nicht immer. Nur wenn Emma da ist."
"Ja, aber damit muss jetzt Schluss sein! Emma ist nämlich nicht da und deshalb gehst du jetzt zu ihm, los!" fordert June bestimmt.
"Was!!! Das kann ich nicht! Was soll ich denn sagen?"
"Zum Beispiel könntest du ihn nach dem Zucker fragen."
Verwirrt schaue ich erst sie, dann den Zuckerstreuer auf dem Tisch an.
"Wieso denn das?"
"Na, weil unser leider alle ist." Während sie das sagt, nimmt sie unseren Zuckerstreuer und leert den Inhalt auf dem Tisch aus. "Siehst du! Leer! Also los jetzt!" Auffordernd stupst sie mich an und macht eine wegscheuchende Bewegung mit der Hand.
Hop, hop scheint sie zu sagen und so bleibt mir gar nichts anderes übrig als aufzustehen.
Zögernd gehe ich ein paar Schritte auf Ian zu, doch dann werfe ich einen zweifelnden Blick zu ihr zurück. Doch erneut macht sie diese Geste mit der Hand, die mir sagt, dass ich endlich verschwinden soll.
Aufseufzend ergebe ich mich in mein Schicksal und setze verunsichert einen Fuß vor den anderen.
Doch um so näher ich dem Tisch komme, an dem Ian mit dem Rücken zu mir sitz, desto langsamer werde ich. Das Herz schlägt mir vor Aufregung bis zum Hals und eigentlich weiß ich gar nicht, was ich hier mache.
Was, wenn er einfach aufsteht und geht? Oder mich auffordert zu gehen. Ich würde vor Scham im Erdboden versinken, wenn er das täte. Gott! Was hat June sich nur dabei gedacht? Warum tut sie mir das an.
Ich sollte einfach umdrehen und gehen. Noch hat er nicht bemerkt, dass ich hinter ihm stehe. Aber will ich das überhaupt.
Ich bin ihm so nah. Nicht so nah wie vorhin, als er hinter mir hereingekommen ist, aber doch so nah, das uns nur noch wenige Schritte voneinander trennen.
"Wolltest du was von uns?"
Reißt mich plötzlich die Stimme eines Jungen aus meinen Gedanken.
"Oh, ich...ähm... ja also..." stottere ich verlegen und schaue den Jungen an, der mich angesprochen hat. Es war Ians Freund, der mich neugierig anschaut. Doch als Ian meine Stimme hört, dreht er sich langsam zu mir um und ein kleines Lächeln hebt einen seiner Mundwinkel an. Aber dieses kleine, freundliche Zeichen reicht mir, um Mut zu schöpfen.
Mit zitternden Knien überwinde ich die letzen zwei Schritte und lege haltsuchend meine Hand auf die Lehne von Ians Stuhl, dann deute ich auf den Zucker.
"Kann ich den haben? Unserer ist alle."
"Sicher." Ian reicht mir den Streuer, doch als sich zufällig unsere Hände berühren zucke ich elektrisiert zusammen, so das mir das Gefäß aus den Händen gefallen wäre, wenn Ian nicht seine Hände um meine und den Zuckerstreuer geschlossen hätte.
"Ups!" rutscht es mir heraus und ich spüre, wie mir vor Verlegenheit das Blut zu Kopf steigt. Kurz verharrt mein Blick auf unseren Händen, doch als ich den Kopf hebe, treffen meine Augen ganz automatisch auf seine.
Und bei diesem Anblick bleibt mir fast das Herz stehen. Unfähig mich zu bewegen oder auch nur den Blick abzuwenden stehe ich da. Gefangen. verloren, versunken, in den Tiefen dieses Ozeans. Heute ist das Grün in seinen Augen beinahe Türkies und die kleinen braunen und blauen Tupfen kaum zu sehen, dafür ist das schwarz seiner Pupillen so groß, dass ich Angst bekomme hineinzufallen.
"Ist ja nichts passiert." versichert Ian mir und lässt mich beinahe zögernd los.
"Können wir sonst noch was für dich tun?" will nun Ians Kumpel wieder von mir wissen.
"Ähm, nein, das... also mehr wollte ich nicht." bringe ich stockend hervor, doch dabei schaue ich ihn nicht an, sonder Ian.
"Okay. Wenn du mal wieder Zucker brauchst kannst du gern wieder kommen." ich höre den Spott in der Stimme seines Freundes, der mich scheinbar für etwas belämmert hält, weil ich so neben mir stehe.
"Ja, und danke. Dafür." zur Verdeutlichung schwenke ich den Zuckerbehälter ein wenig hin und her, dann drehe ich mich um und kehre zu June zurück.
Doch als ich gerade die ersten Schritte hinter mir habe, hält Ian mich auf.
"Mia!" ruft er mir nach.
"Ja!" ruckartig drehe ich mich zu ihm um und versuche meinen hektischen Atem etwas zu beruhigen. Was kann er nur von mir wollen?
Unsicher spiele ich mit dem Gefäß in meiner Hand herum, bevor ich ihn ansehe.
"Bringst du ihn zurück, wenn du fertig bist?" will er wissen.
"Oh, ja, sicher. Natürlich. Bin gleich wieder da." sage ich enttäuscht. Ich hatte gehofft, dass er mich vielleicht fragen würde, ob wir mal reden können, oder ob wir etwas zusammen unternehmen wollen, aber damit hatte ich nicht gerechnet.
Niedergeschlagen kehre ich zu June zurück und setzte mich auf meinen Stuhl.
"Und?" fragt sie neugierig.
"Nichts und!" energisch knalle ich den Zucker auf den Tisch. "Das war eine dumme Idee, June." schimpfe ich.
"Wieso denn das?" sie macht große augen und schaut ganz verwirrt. "Was hat er denn gesagt?"
"Er will den Zucker wieder haben, wenn wir fertig sind." sage ich brummig, doch als ich sehe, wie Junes Augen zu funkeln beginnen und sie strahlend zu lächeln beginnt, komme ich nicht umhin, sie für ein kleines bisschen übergeschnappt zu halten. Vielleicht ist es aber auch die Erkältung, die ihr die Sinne vernebelt."Was gibt es denn da zu grinsen?" frage ich ungehalten, doch bevor sie mir antworten kann, wird sie von einer heftigen Niesattacke übermannt.
"Haatschiii! Das ist doch... hatschi.. ist doch... hatschi... super...!"
"Was ist denn daran so toll, dass er den Zucker wieder haben will?" frage ich verwirrt, während sie noch immer am niesen ist.
"Ganz einfach! Jetzt kannst.... hatschi.... du nochmal hin gehen... hatschi!" Mit tränenden Augen vergräbt June ihr Gesicht in einer Serviette und versucht ihren Anfall zu beenden, was ihr auch gelingt. Und so taucht sie kurze Zeit später wieder aus dem Tuch empor und als sie meinen verwirrten Ausdruck endlich bemerkt, schüttelt sie missbilligend den Kopf.
"Mensch! Kapierst du es denn nicht?" kopfschüttelnd verdreht sie die Augen.
"Was denn?"
"Er will nicht den dummen Zucker, Mia! Er will dich!"
"Quatsch." sage ich ungläubig. "Dann hätte er das doch sagen können."
"Genau..." sagt June gedehnt, "So wie du, als du ihn nach dem Zucker gefragt hast. Man, wie dumm bist du eigentlich!"
"Hey!" schimpfe ich, allerdings kann ich mir ein grinsen nicht verkneifen. "Ich bin nicht dumm...höchstens etwas schwer von Begriff."
"Na meinetwegen. Dann schwing mal deinen süßen Hintern wieder zu ihm hinüber, denn wie es scheint, wartet er auf dich." June zwinkert mir zu und schaut an mir vorbei zu Ians Tisch, doch als ich langsam aufstehe um den Zucker zurück zu bringen, verschlägt es mir schon von hier aus den Atem, denn Ian sitzt allein am Tisch und schaut abwartend zu mir herüber.
Wo ist denn sein Freund geblieben?
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