Schwere Zeiten
Aber auch an diesem Tag bringe ich es einfach nicht übers Herz, mit Mike zu sprechen, dabei spuken mir die Worte ununterbrochen im Kopf herum.
Mel wäre stolz auf mich, denn ich habe mich an ihren Rat gehalten und habe keine Dummheiten gemacht.
Dafür verliere ich mal wieder den Appetit, weil dieser schmerz in meinem Bauch mir Übelkeit verursacht und die Tränen die so dicht unter der Oberfläche brodeln mir den Hals zu schnüren.
Während unseres Kaffees hat Mike über den Tisch hinweg immer wieder seine Hand auf meine gelegt, solange, bis ich die meine unter den Tisch auf meine Beine gelegt habe. Aber sein an Sylvester begonnenes Gespräch, hat er gottseidank, nicht wieder aufgenommen.
Jetzt sitze ich in meinem Zimmer, vor meinen gepackten Sachen und starre auf die Blätter in meiner Hand.
Sie sind so trist und unscheinbar, das ich sie am liebsten in den Müll geschmissen hätte, doch stattdessen setzte ich mich an den Schreibtisch und beginne sie zu verschönern.
Male kleine Ranken, an den Rand neben die Notenlinien, auf dessen Zweigen kleine Elfen und Feen sitzen und die zarten Blüten betrachten, die zwischen den spitzen Dornen wachsen. Nur das die Blüten allesamt aus Herzen bestehen.
Verzweifelt betrachte ich die Ranke und schüttele resigniert den Kopf.
Wie kann ich Ian diese Blätter geben? Die so kitschig mit Herzchen verziert sind?
Nein! Ich kann ihm die Notenblätter so nicht geben. Nicht, wenn ich will, dass alles so bleibt, wie es ist.
Obwohl ich ja genau das eigentlich nicht will. Ich will nicht, dass es so bleibt wie es ist! Ich will, dass Ian wieder zu mir gehört, dass sein Lachen sich mit meinem deckt und nicht mit Emmas. Ich will, dass sein Herz mir gehört.
Seufzend lege ich die Blätter in die Schublade meines Schreibtischs und nehme mir vor bald neue anzufertigen, dann lege ich mich ins Bett und schließe betrübt die Augen.
Ich weiß einfach nicht was das richtige ist.
Mit Mike zusammen sein, damit er glücklich ist, obwohl ich ihn nicht liebe?
Oder mich von ihm trennen, auch auf die Gefahr hin, dass wir beide dann unglücklich sind.
Oder sollte ich ihn glücklich machen, auch wenn ich dann unglücklich bin?
Aber wäre ich das wirklich? Unglücklich? Ich hab Mike wirklich gern, vielleicht könnte ich es lernen ihn zu lieben, wenn ich mich nur genug anstrengen würde.
Aber ich will mich nicht anstrengen müssen! Ich will einfach nur glücklich sein, ganz ohne Anstrengung.
Vielleicht sollte ich mich aber auch einfach an Maras Rat halten und alles was ich habe auf eine Karte setzten, ganz gleich was danach passiert?
Ja! Ich denke, genau das sollte ich tun.
Wenn ich Ian zurückgewinnen will, dann muss ich ihm zeigen, wie ernst es mir mit ihm ist. Wie soll er mir denn sonst glauben, dass ich ihn liebe, wenn ich noch immer mit Mike herumhänge.
Vor Kummer laufen mir mal wieder die Tränen über die Wangen, als sich der Entschluss, den ich gefasst habe immer weiter verhärtet.
Trotzdem nehme ich mein Handy zur Hand und schreibe Mike eine Nachricht.
Am liebsten würde ich ihm einfach schreiben, dass wir uns nicht wieder sehen werden, aber das bringe ich nicht übers Herz. Ich bin es ihm einfach schuldig, Auge in Auge mit ihm zu reden und so verabrede ich mich mit ihm für nächsten Samstag, bei ihm zu Hause. Ich schreibe ihm nicht warum und er fragt auch nicht danach, was mir die Sache etwas erleichtert. Nichts desto trotz fühle ich mich unheimlich mies!
Nach dem der Termin steht, rolle ich mich mit schmerzendem Magen in meinem Bett zusammen und vergrabe das Gesicht in meinem Kissen.
Mir bleibt eine Woche um mir die richtigen Worte zurecht zu legen. Eine Woche, bis mir das schwerste bevorsteht, dass ich jemals durchstehen musste.
Selbst schwerer als die Konzerte. Schwerer als das Gespräch mit Mara und Pascal, als sie mir von der Adoption erzählt haben. Eigentlich ist es das Schwerste, an das ich mich erinnere. Vor allem, weil ich alles was ich habe auf eine Karte setzte. Wenn ich verliere, habe ich gar nichts mehr.
Mit schwerem Herzen schlafe ich ein und auch am nächsten Morgen ist es noch kein Stück leichter geworden.
Und so schleiche ich betrübt durchs Haus, gehe duschen, ziehe mich an, sitze schweigend am Frühstückstisch ohne etwas zu essen und packe auch schweigend meine restlichen Sachen ein, bevor es Zeit wird loszufahren.
"Kopf hoch Schatz, ich weiß dass du das Richtige tun wirst." verabschiedet Mara sich von mir, zieht mich in ihre Arme und drückt mich fest an sich, wobei ich mich ganzschön verränken muss, weil der "Krümel" so viel Platz einnimmt.
Da sie vom langen sitzen im Auto Rückenschmerzen bekommt, bleibt sie diesmal zuhause.
Während ich auf den Rücksitz klettere spüre ich ihre besorgten Blicke auf mir. Deshalb zwinge ich mich dazu ihr aufmunternd zuzulächeln, bis wir unsere Straße verlassen haben und ich unser Haus nicht mehr sehen kann. Dann ziehe ich meine Kopfhörer aus meinem Rucksack und versuche meine viel zu lauten Gedanken mit ebenso lauter Musik zu überdecken.
Leider ist dieser Versuch nicht von Erfolg gekrönt, dafür bekomme ich Kopfweh und schalte nach einiger Zeit die Musik wieder ab. Dafür lege meine Stirn gegen die kühle Fensterscheibe und schaue hinaus.
Als wir endlich im Internat ankommen, ist es bereits dunkel. Trotzdem herrscht ein reges Treiben in der Einfahrt.
Überall stehen Autos, werden Schüler verabschiedet und Taschen und Koffer durch die Gegend geschleppt. Auch ich hieve meine Tasche aus dem Kofferraum und verabschiede mich kurzerhand von Pascal, damit er sich auf den Rückweg machen kann.
"Sag mal, gibt es nicht in der Nähe auch einen Bahnhof oder so?" will ich wissen?
"Wieso fragst du?" Pascal sieht mich stirnrunzelnd an.
"Na ja, ich möchte nicht, dass ihr wegen mir immer so lang fahren müsst." sage ich verhalten. "Ich meine, das sind doch jedes mal sechs Stunden. Und ich dachte, da könnte ich doch auch mit dem Zug fahren, dann bräuchtet ihr mich nur am Bahnhof absetzten."
"Würdest du das denn wollen?" will Pascal skeptisch wissen.
"Ich kanns ja mal ausprobieren, kann ja nicht so schlimm sein." ich versuche ihn zuversichtlich anzulächeln, habe aber das Gefühl kläglich zu scheitern, trotzdem scheint Pascal meine Idee nicht komplett abwegig zu finden.
"Ich werd mal nachsehen, wo der nächste Bahnhof ist und ob du von hier aus dahin kommst, aber du musst nicht mit dem Zug fahren Marie, ich hole dich auch gern ab." versichert er mir.
"Ich würds gern mal ausprobieren."
"Sicher, warum nicht, aber diesen Freitag hol ich dich noch mal ab, dann können wir auf dem Rückweg mal gucken wo der Bahnhof ist."
"Okay. Fahr vorsichtig, Dad." ich gebe ihm noch einen Kuss auf die Wange, dann steigt er ein.
Vor der Eingangstür schaue ich mich noch mal um und winke ihm nach, bis er meinen Blicken entschwunden ist, dann verschwinde ich für heute in mein Zimmer, das ich auch vor Morgengrauen nicht wieder verlasse.
Nach meiner morgendlichen Runde mit June durch den Wald, gehen wir gemeinsam in die Mensa.
"Du bist ganz schön still heute Mia. Ist alles in Ordnung?" June mustert mich aufmerksam und zieht eine Augenbraue hoch.
"Geht schon. Ich hab nur irgendwie Bauchschmerzen. Weiß nicht warum." sage ich ausweichend.
Aufmunternd tätschelt sie meinen Arm.
"Wird schon wieder. Wenns zu schlimm wird, kann ich dich ja krankmelden."
"Ne, ist schon gut. So schlimm ist es auch wieder nicht." versichere ich ihr.
In der Mensa hole ich mir einen Kamillentee und ein paar scheiben Knäckebrot, an denen ich lustlos herum knabbere, bis meine Freunde mit dem Frühstück fertig sind.
Natürlich haben auch sie mich gefragt, was ist, aber June hat für mich das reden übernommen, so dass ich den Anderen nur zustimmend zunicken musste, als sie mich mitleidig angesehen haben.
Inzwischen ist der Unterricht vorbei und ich sitze am Klavier und warte auf Herrn Müller, als dieser wie immer mit strengem Blick den Raum betritt.
"Guten Abend Frau Mendéres." grüßt er mich förmlich.
"Guten Abend Herr Müller."
Er hält sich wie immer nicht mit irgendwelchen Floskeln auf, sondern kommt gleich zur Sache.
"Dann lassen sie mich doch mal hören, ob sie die Ferien genutzt haben, oder ob sie auf der faulen Haut gelegen haben." fordert er mich mit Blicken und Gesten auf und deutet zum Flügel.
Seufzend atme ich auf und beginne die Stücke zu spielen, die er mir vor den Ferien gegeben hat. Allerdings bin ich nicht ganz bei der Sache, so dass er alles Mögliche an mir auszusetzten hat.
"Sie sind viel zu schnell!" schimpft er. "Es ist ein Alegretto kein Alegro, das müssten sie eigentlich wissen!"
"Entschuldigung. Ich versuche es gleich noch mal."
"Was heißt denn hier versuchen! Reißen sie sich gefälligst zusammen! So schwer ist das doch auch wieder nicht."
Kurz schließe ich die Augen und versuche mich tatsächlich etwas zusammen zu reißen, doch in Gedanken bin ich nicht bei der Sache, so dass ich froh bin, als der Unterricht endlich beendet ist.
Auch Herr Müller sieht ziemlich genervt aus, als er nach eineinhalb Stunden seine Sachen packt.
Gerade will er aus der Tür gehen, als er doch noch mal das Wort an mich richtet.
"Ich bin wirklich enttäuscht von ihnen Frau Mendéres, aber das wissen sie sicher. Ich hatte sie für ein pfiffiges Mädchen gehalten, aber scheinbar habe ich mich da geirrt. Hoffen wir mal, das sich dieses Desaster nicht noch einmal wiederholt. Guten Abend."
Und damit lässt er mich, ziemlich fertig, allein.
Sicher war meine Vorstellung heute etwas daneben, aber so katastrophal wie er mir weiß machen will, war es nun auch nicht oder doch?
Bedrückt kehre ich dem Flügel für heute den Rücken. Ich kann mich ohnehin nicht wirklich darauf konzentrieren, weil ich mit den Gedanken wieder einmal bei Ian bin.
Als ich vorhin hier her gekommen bin, bin ich ihm zufällig im Gang begegnet. Allerdings war er nicht allein, sondern in Begleitung einiger Mädchen. Auch Emma war da und zwei Jungs.
Aber was mich am meisten verletzte war, das er mir kaum Beachtung geschenkt hat. Sein Blick huschte nur für einen kurzen Augenblick in meine Richtung, bevor er sich wieder den Anderen zuwandte, das wars.
Sollte ich ihm wirklich so egal sein?
Ich darf nicht daran denken, doch lässt mich sein verhalten nur noch unsicherer werden, was mein Gespräch mit Mike angeht.
Ich kann nur hoffen, dass ich das Richtige tue.
Und das er mich nur Ignoriert, weil er es tatsächlich nicht ertragen kann mich in Mikes Nähe zu wissen und deshalb versucht mich zu vergessen.
Aber da ich mir vorgenommen habe erst die Sache mit Mike zu klären und dann mit Ian zu sprechen, muss ich wohl in den sauren Apfel beißen und sein abweisendes verhalten ertragen.
Betrübt, wie so oft in letzter Zeit kehre ich in mein Zimmer zurück und bin längst eingeschlafen, als June ins Zimmer zurückkehrt.
Die Woche vergeht ziemlich schleppend und auch sonst läuft nicht alles rund.
Herr Müller ist auch am Mittwoch nicht mit meiner Leistung zufrieden und meckert die ganze Zeit an mir herum. Dabei kann ich ihm nicht einmal böse sein, denn was ich abliefere gefällt nicht einmal mir selbst.
Und als ich dann am Donnerstag unschlüssig vor meiner Farbpalette stehe und eigentlich nur noch zu der schwarzen Farbe tendiere bin ich ziemlich am Ende.
Trotzdem tauche ich den Pinsel einfach ins blau, auch wenn es ein sehr dunkles ist und bringe einige striche auf die noch weiße Leinwand. Färbe sie dunkler und immer dunkler, bis nur noch ein kleiner heller Fleck übrig ist, den ich in einem etwas helleren Blau, das aber immer noch dunkel ist einfärbe.
Das ganze Bild wird von dunklen Farben dominiert, aber seltsamerweise ist es nicht weniger schön. Nur dunkel irgendwie. Wie die Nacht.
Wie die Nacht am See, als ich Ian an dem Abend, bevor ich ins Krankenhaus kam, am Ufer getroffen habe.
Und irgendwie scheint der helle Fleck auf meinem Bild mir Kraft zu geben, ganz so als wäre er der letzte kleine Funken Hoffnung, den ich mir krampfhaft zu bewahren versuche.
Ein Funke, der mit jedem Tag kleiner wird. Mit jedem Mal, wenn ich Ian mit Emma sehe. Mit jedem Blick, den er nicht erwidert und mit jedem Tag, an dem ich ihn gar nicht sehe. So wie heute.
Am Freitag bin ich beinahe froh, dass ich endlich nach Hause kann, dabei wird das Wochenende auch nicht so rosig, denn morgen wartet ein anstrengendes Gespräch mit Mike auf mich, von dem ich mir gar nicht mehr so sicher bin, das es richtig ist.
Ich darf gar nicht daran denken, was ist, wenn ich am Sontag ins Internat zurückkehre und Ian mir keine Gelegenheit gibt ihm alles zu erklären.
Als ich am Abend in meinem Bett liege setzt Mara sich zu mir.
"Hey." sagt sie leise und ich lege meinen Kopf auf ihren Schoß.
"Hey." sage auch ich.
"Wie gehts dir, Süße? Hast du schon mit Ian gesprochen?" Mara fährt sanft mit ihrer Hand durch meine Haare und streicht sie mir aus der Stirn.
"Nein." sage ich leise.
"Warum denn nicht?" ihre Stimme klingt erstaunt als sie das sagt, doch ich schaue sie nicht an.
"Ich will erst mit Mike reden, bevor ich mit Ian rede."
"Oh, ich dachte das hättest du schon."
"Ich wollte ja, aber ich habs nicht geschafft. Irgendwie tut er mir leid."
"Mia, hör mal." sanft schiebt sie mich von sich, so dass ich mich aufrichten muss, dann schaut sie mir fest in die Augen.
"Egal wie lange du wartest, es wird nicht besser, oder leichter. Auch nicht weniger schmerzhaft. Weder für dich noch für ihn. Aber wenn du mit Mike geredet hast, dann habt ihr beide wenigstens die Möglichkeit mit etwas neuem zu beginnen. Sieh die Trennung von Mike nicht als ende sondern als Anfang von etwas, was vielleicht besser ist als das, was du jetzt hast.
Natürlich kannst du auch versuchen mit Mike glücklich zu werden, aber meinst du nicht, das er in ein paar Jahren merken wird, dass er nur die zweite Wahl war? Meinst du, du kannst ihm ein Leben lang vorspielen, dass du ihn liebst?"
"Aber ich liebe ihn doch, Mum." protestiere ich schwach.
"So sehr wie Ian? So sehr, dass du sein Wohlergehen über deines stellst? Und jetzt sag mir nicht, dass dir Ian weniger bedeutet als er, denn das würde ich dir nicht glauben. Wenn das nämlich so wäre, dann würde es dir nicht so schlecht gehen und du würdest nicht aussehen, wie eine Leiche!"
Empört schaue ich sie an. Leiche?! So schlimm sehe ich doch nun wirklich nicht aus!
"Hast du diese Woche überhaupt etwas gegessen?" fragt Mara tadelnd.
"Ja." knurre ich beleidigt und schaue auf die Hände in meinem Schoß. Dann füge ich leise hinzu. "Ein bisschen."
"Das sieht man, Schatz. Aber du kannst nicht jedes Mal das Essen einstellen, wenn dich etwas bedrückt."
"Ich weiß." zerknirscht schaue ich sie an "Ich mach das ja auch nicht absichtlich, aber ich habe keinen Appetit." gestehe ich ihr.
Mara kneift missbilligend die Lippen zusammen, lässt das Thema aber fallen. Schwerfällig erhebt sie sich, dann stöhnt sie schmerzvoll auf.
"Ahh. Bin ich froh, wenn du da endlich raus bist." sagt sie leise und hält sich den Rücken.
"Alles in Ordnung Mum?" besorgt ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe und schaue sie an.
"Ja, Alles gut. Ich hab nur Rückenschmerzen. Langsam hab ich diese Schwangerschaft wirklich satt. Ich bin echt froh, dass es nur noch fünf Wochen sind." sie schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln, das ich erwidere, dann wünscht sie mir gute Nacht und geht.
Fünf Wochen!
In fünf Wochen kann so viel passieren und trotzdem erscheint mir die Zeit zum greifen nah, dann werden wir zu viert sein. Ich kann es kaum erwarten, den kleinen Krümel zu sehen. Meine kleine Schwester. Meine Cousine.
Dann wird sicher vieles anders.
Seufzend atme ich auf. Nein, leider nicht erst dann. Bestimmt wird sich auch Morgen schon viel verändern.
Nach meinem Gespräch mit Mike.
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