Letzte Woche vor den Herbstferien
Als ich mich endlich einigermaßen beruhigt habe, packe ich eilig meine Sachen zusammen. Es ist schon ganz schön spät und ich weiß, dass wir eigentlich gar nicht so spät ins Internat zurückkehren dürfen, aber scheinbar haben wir Sonderrechte.
Vielleicht, weil Page dort mal Lehrerin war, wer weiß.
Als ich gerade fertig bin klopft es an der Tür.
"Kann ich reinkommen?"
"Ja, Felix, komm rein." rufe ich ihm zu. "Bin gleich fertig. Ich nehme noch schnell meine Jacke aus dem Schrank, dann bin ich reisefertig.
Ein seltsames Gefühl überkommt mich, als ich meinen Blick ein letztes Mal durch das Zimmer schweifen lasse. Irgendwie, als würde ich nicht wieder hier her kommen, dabei werde ich Felix sicher Mal an den Wochenenden besuchen kommen, auch wenn ich von nun an wieder nach Hause darf.
Als ich das unordentliche Bett sehe, beschließe ich kurzerhand es noch aufzuschütteln, bevor ich gehe. Irgendwie möchte ich es nicht unordentlich hinterlassen.
"Das brauchst du doch nicht." sagt Felix, als ich die Decke aufschüttle. "Das kann doch Margarethe machen."
"Bin gleich fertig." versichere ich ihm und werfe die Decke gekonnt aufs Bett zurück, so dass sie nun ordentlich und glatt auf dem Bett liegt. "So, siehst du. Schon geschafft."
Erneut nehme ich die Jacke, die meiner Mutter gehörte und meinen Rucksack, dann folge ich Ian hinaus auf den Flur. Die Treppe nach unten bis ins Wohnzimmer, wo Page auf dem Sofa sitzt. Als sie uns sieht steht sie auf.
"Es war wirklich schön, das du da warst und ich hoffe, du kannst mir verzeihen, das ich mich in deine Angelegenheiten eingemischt habe." sagt sie als sie vor mir steht.
"Ja, schon gut, du hast es ja nur gut gemeint." versichere ich ihr "Außerdem hätte ich wahrscheinlich nie erfahren, was es mit meinen Eltern auf sich hat, wenn du nicht gewesen wärst."
"Ach, natürlich. Ich bin sicher, dass du irgendwann auch so mit Mara und Pascal geredet hättest. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber eines Tages bestimmt."
"Ja, vielleicht." lächelnd nehme ich sie in den Arm. "Bis bald Page."
"Du kommst uns doch wiedermal besuchen oder?" will sie wissen.
"Ja. Ich weiß nur noch nicht wann. Erst mal habe ich zu Hause noch einige Sachen zu klären." erkläre ich ihr.
"Das freut mich. Grüß Mara von mir, ja?"
"Sicher, mach ich."
Langsam gehen wir in den Vorraum, wo Peter aus dem Badezimmer kommt.
Auch von ihm verabschiede ich mich herzlich, dann gehen wir nach draußen, wo Marvin schon den Wagen vorgefahren hat.
Er nimmt mir den Rucksack ab und legt ihn in den Kofferraum.
Gerade als ich einsteigen will, kommt Ian zu uns.
"Willst du bei mir mitfahren?"
"Auf dem Motorrad?" will ich wissen.
"Nein, im Auto." erklärend hält er mir seinen Gips vor die Nase. "Motorrad fahren ist hiermit etwas schwierig."
"Warum fährst du denn nicht mit Marvin?" frage ich ein kleines bisschen ratlos.
"Ich muss am Freitag zum Arzt. Da ist es einfacher, wenn ich selbst fahre."
"Ach so." Nachdenklich schaue ich ihn an. Soll ich mit ihm fahren? Nein, das kann ich nicht. Ich muss ihm aus dem Weg gehen, ihm die Möglichkeit geben mich zu vergessen. Bedauernd und schüttle den Kopf.
"Ich fahr mit Felix." sage ich verhalten und senke den Blick.
"Na gut. Wie du willst." ich höre die Enttäuschung in seiner Stimme, aber daran kann ich auch nichts ändern.
Wir wollten ja ohnehin nur noch Freunde sein und da auch Felix mein Freund ist, ist es nur recht, wenn ich mit ihm fahre.
"Wir sehen uns." sagt er kurz, dann dreht er sich um.
"Fahr vorsichtig." bitte ihn, als ich schon seine Schritte auf dem Kies höre. Aber er antwortet nicht mehr.
Kurz schaue ich ihm nach, wie er zu seinem kleinen, blauen Sportwagen geht und einsteigt, dann steige auch ich ein. Ich sitze auf der Rückbank des geräumigen Wagens neben Felix und lasse mich erschöpft in die Polster sinken. Marvin schließt die Tür hinter mir und dann fahren wir los.
Auf dem Rückweg bin ich ziemlich schweigsam und auch Felix scheint keine Lust zu haben sich groß zu unterhalten.
"Stört es dich, wenn ich Musik höre?" frage ich ihn nach einer Weile und halte ihm meine Kopfhörer vor die Nase.
"Nein mach ruhig." stimmt er zu, dann lehnt er den Kopf an die Scheibe und schaut aus dem Fenster in die Dunkelheit, wo nur hin und wieder eine Straßenlaterne an uns vorbei huscht.
Auch ich lehne meinen Kopf an die Scheibe, nachdem ich mir Musik angemacht habe, doch anstatt in die Nacht hinauszuschauen, die inzwischen ziemlich nass ist, schließe ich die Augen.
Und während die sanfte Stimme von Andreas Bourani in meinen Kopf dringt und mir sagt, das ich nicht so hart zu mir selbst sein soll, rollen mir die Tränen still die Wangen hinunter.
Ich kann nur hoffen, dass er recht hat. Das alles vorbei geht und irgendwann wieder besser wird. Im Augenblick scheint meine Welt tatsächlich ganz schön Zerbrochen zu sein und in Scherben zu liegen, aber wenn ich weiter gehe und nicht in diesem Trümmerfeld stehe bleibe, dann wird vielleicht alles gut.
Als wir endlich im Internat ankommen, ist von Ian noch weit und breit nichts zu sehen. Hoffentlich ist ihm nichts Passiert, denke ich, aber Felix scheint ganz entspannt zu sein, als er sich von Marvin verabschiedet.
"Mia, wo bleibst du denn?" ruft er mir zu, als er bereits oben auf der Treppe steht. "Du wirst doch ganz nass!"
"Ich komm schon!" rufe ich ihm zu. Noch immer stehe ich dort, wo ich mich von Marvin verabschiedet habe, und schaue die Auffahrt hinunter. Aber von Ian ist weit und breit nichts zu sehen. Ich steige die ersten Stufen der Treppe hinauf, dann bleibe ich noch mal stehen und winke Marvin nach, der sich auf den Rückweg macht.
Der Regen prasselt ungerührt auf meinen Kopf, aber es stört mich nicht. Ich mache mir Sorgen um Ian. Wie kann Felix nur so ruhig bleiben?
Zögerlich gehe ich die letzten Stufen hinauf und betrete das Gebäude, wo sich die Türen langsam hinter mir schließen und mir die Sicht nach draußen nehmen.
Ich kann nur hoffen, dass es ihm gut geht.
An der Treppe ins Obergeschoss bleibt Felix stehen.
"Alles klar bei dir Mia?" fragt er aufmerksam.
"Was? Ach so, ja, alles gut. Schlaf gut Felix." verabschiede ich mich von ihm.
"Du auch. Wir sehen uns dann Morgen." er umarmt mich noch einmal kurz, dann geht er in sein Zimmer. Auch ich gehe in mein Zimmer, doch meine Gedanken sind bei Ian.
Eigentlich würde ich ihn gern anrufen, aber wenn er noch unterwegs ist, will ich ihn nicht vom Fahren abhalten. Ich möchte nicht schuld sein, wenn ihm etwas passiert. Also lasse ich es. Und ich schreibe ihm auch nicht, aus den gleichen Gründen.
Leise mache ich mich Bettfertig. June liegt im Bett und schläft und auch wenn ich ziemlich müde bin, kann ich nicht einschlafen. Unruhig wälze ich mich hin und her. In meinem Kopf spielen sich die fürchterlichsten Szenen ab, von kleinen blauen Sportwagen, die sich um irgendwelche Bäume knautschen, die unter Lastwagen zerquetscht werden oder völlig zerbeult und qualmend auf irgendeinem Feld liegen. Und immer wieder sehe ich Ian, blutüberströmt, verletzt oder tot neben seinem Auto liegen.
Als ich irgendwann ein leises Geräusch höre, schalte ich das Licht ein, doch ies ist nur June, die sich fürs Laufen fertig macht. Und so stehe ich ebenfalls auf.
"Hey Mia, gut geschlafen?" fragt sie mich.
"Ja, und du?" lüge ich, dabei steht mir die anstrengende Nacht sicher ins Gesicht geschrieben, aber ich habe keine Lust ihr meine Ängste zu erklären.
"Auch gut. Wollen wir los?" fragt sie, als ich mich aufrichte.
"Ja, bin fertig." gerade habe ich meinen zweiten Schuh zu gebunden, doch jetzt folge ich June nach draußen.
Sobald wir aus dem Gebäude kommen huscht mein Blick durch die Dunkelheit hinüber zu der Garage, in der Ian beim letzten Mal sein Auto geparkt hatte, aber es ist nirgends zu sehen. Wie auch, wenn es in dem Haus steht.
Wir gehen noch bis zum Brunnen, dann laufen wir los. Anfangs laufe ich noch ganz entspannt, doch irgendwie ist mir heute nicht nach "gemütlich". Deshalb ziehe ich das Tempo immer weiter an, bis ich mit großen, weit ausholenden Schritten auf dem aufgeweichten Boden dahin stürme.
Längst habe ich June hinter mir zurück gelassen, die zwar, wenn sie gewollt hätte, mithalten hätte können, es aber nicht tut.
Was mir vor ein paar Wochen noch unmöglich schien, ist jetzt beinahe zu leicht. Denn es dauert gar nicht lange, bis ich den See umrundet habe und das Internat erreiche. Aber weil ich noch nicht genug habe, obwohl ich schon ziemlich außer Atem bin und meine Beine schmerzen, laufe ich weiter. Ich renne die gleiche runde noch mal, dabei ist es noch gar nicht lange her, dass ich diese Strecke gelaufen bin und ich mich auf den Letzten Metern geschlagen geben musste.
Nur heute ist mir alles gleich. Ich ignoriere meinen rasenden Puls, das brennen in meinen Beinen und auch meinen hämmernden Herzschlag, ich renne einfach weiter. Versuche meine Sorgen um Ian zu vertreiben, meine Angst um ihn und auch meine Selbstzweifel.
Wenn ich mit ihm gefahren wäre, dann wüsste ich, ob es ihm gut gehen würde und auch wenn ihm etwas passiert wäre, so wäre er wenigstens nicht allein.
Hoffentlich bin ich nicht schuld, wenn er einen Unfall hatte. Was wenn er sich nicht konzentrieren konnte, weil er sich gefragt hat, warum ich nicht mit ihm fahren wollte oder auch warum ich gegangen bin, als ich ihm sein Lied vorgespielt habe. Mir ist bewusst, das Unfälle auch dann passieren, wenn man abgelenkt ist.
Nicht immer sind nasse Straßen oder Tiere für so etwas verantwortlich. Auch Emotionen können eine Rolle spielen. Überhöhte Geschwindigkeit, Unaufmerksamkeit...
Bitte lass ihm nichts passiert sein, lass es ihm gut gehen! Flehe ich in Gedanken. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihm schon wieder wegen mir etwas passiert.
Als das Internatsgebäude erneut in Sicht kommt, bin ich vollkommen erledigt. Kraftlos schleppe ich mich die Letzten hundert Meter bis zur Schule, dann gehe ich Duschen. Ich habe mich völlig verausgabt. Meine Beine zittern und mir tut der Kopf weh und auch ansonsten fühle ich mich nicht wirklich gut. Meine Verschwitzen Sachen werfe ich gleich in den Wäschekorb, dann nehme ich eine Schmerztablette und trinke gleich zwei Gläser Wasser, weil mein Mund so trocken ist, dann gehe ich zum Frühstücken in die Cafeteria.
Mein Blick huscht wie immer zuerst an den Tisch, wo Ian immer sitzt und endlich! Endlich sehe ich ihn.
Es geht ihm gut! Er sitzt lächelnd auf seinem Platz und beißt gerade in ein Brötchen. Das Emma neben ihm sitz interessiert mich nicht im Geringsten, denn alles, was wichtig ist, ist das er gesund ist. Er hatte keinen Unfall, ist nicht verletzt oder Tot. Er sitzt wohlbehalten vor mir und Frühstückt!
Erleichter seufze ich auf und muss für einen Moment die Augen schließen. Doch dabei wird mir schwindelig und ich halte mich schwankend am Türrahmen fest. Das Gefühl verfliegt aber schnell wieder und so sammel ich schnell etwas zu Essen vom Büfett und setzte mich dann zu Felix und Alex an den Tisch. Auch Joris und June sind da, wobei mir June einen aufmerksamen Blick zu wirft.
"Du hattest es ja ganz schön eilig heute Morgen." sagt sie verhalten lächelnd.
"Ja, ich musste mich mal so richtig auspowern." erkläre ich ihr, dabei ist mein Herz so leicht, das es beinahe davon fliegt.
"Bist du mir böse? Das ich dich allein gelassen habe?" frage ich entschuldigend.
"Nein, ist schon gut. Manchmal ist das halt so." sagt sie leichthin, aber ich habe das Gefühl, das sie doch ein bisschen Böse auf mich ist.
Trotzdem kann ich mir ein strahlendes Lächeln nicht verkneifen, als ich mich setzte und die Anderen Begrüße. Ich bin einfach viel zu erleichtert, dass Ian heil in der Schule angekommen ist.
Hungrig schaufle ich das Essen in mich hinein, wobei mir prompt schlecht wird, weil ich so schnell esse.
Aber wenigstens fühle ich mich nicht mehr so kraftlos, als wir wenig später zum Unterricht gehen. Und auch die Übelkeit ist nicht von langer Dauer. Schon nach einer halben Stunde ist sie vorbei.
Der Vormittag verfliegt wie im nu und auch der Nachmittag lässt mich nicht zur Ruhe kommen und so kommt es, das ich am Abend todmüde in mein Bett falle und fast augenblicklich einschlafe.
Was nach der durchwachten Nacht von gestern und der beinahe schon wahnsinnigen rennerei von heute Morgen ja auch kein Wunder ist. Und so kommt es, dass ich nicht merke, wie June mich zu deckt, mein Handy auf den Nachttisch legt und die Vorhänge um mein Bett herum zuzieht, bevor sie selbst ins Bett geht.
Zumindest glaube ich, dass sie das alles getan hat, denn als ich am nächsten Morgen aufwache schaue ich auf die Vorhänge die um mein Bett herum hängen und die ich am Abend zuvor nicht mehr zugezogen habe. Auch kann ich mich nicht daran erinnern mein Handy aus der Hand gelegt zu haben.
Gähnend stehe ich auf und ziehe mir Sachen zum Laufen an, obwohl meine Beine noch von gestern weh tun.
"June? Bist du schon wach?" frage ich leise, als ich meine Schuhe anziehe, die ziemlich schlimm aussehen. Der Matsch von gestern hat ihr Aussehen nicht gerade verbessert. Wenn ich zu Hause bin, muss ich dringend mit Mara einkaufen gehen. Ich brauche wirklich ein paar neue Sachen.
"Ja, bin ich." höre ich Junes verschlafene Stimme. "Bist du heute auch so geladen?" will sie wissen. "Wenn ja, dann lauf doch allein, auf den Stress hab ich nämlich keine Lust."
"Tut mir leid wegen Gestern." entschuldige ich mich noch mal und gehe um meinen Kleiderschrank herum zu ihr, wo ich mich auf ihr Sofa setzte und ihr beim Anziehen zusehe. Entschuldigend blicke ich sie an. "Heute geht es mir besser. Ich weiß auch nicht was los war."
"Wirklich!" beteuere ich, als ich den skeptischen Blick sehe, den sie mir zuwirft.
"Na gut." sagt sie und schon huscht ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. Kurze Zeit später ist sie fertig und wir laufen los, doch diesmal schwächel ich schon nach zwanzig Minuten, was wohl damit zu tun hat, das mir noch immer die Beine weh tun.
Angestrengt setzte ich einen Fuß vor den anderen, aber als ich June bitte, ohne mich weiter zu laufen lehnt sie ab.
"Wir gehen einfach ein Stück, okay. Ich hab heute sowieso irgendwie keine Lust."
Verwirrt schaue ich sie an. June und keine Lust zu laufen? Da stimmt doch was nicht!
"Schieß schon los!" fordere ich sie auf, als wir gemächlich durch den Wald gehen. Doch als sie mich nur mit gerunzelter Stirn ansieht, stupse ich sie mit dem Ellenbogen an. "Du hast doch was?"
"Ach, ne, ist schon gut. Es ist nur..." setzt sie an.
"Komm June, ich bins Mia. Du kannst ruhig mit mir reden." ermuntere ich sie.
"Also... es ist eigentlich wirklich nichts, nur das meine Eltern sich letztens gestritten haben. Und als sie mich Sontag hergefahren haben, haben sie auf der ganzen Fahrt kein einziges Wort gewechselt." sagt sie niedergeschlagen.
"Oh." stutze ich. Das ist natürlich nicht so schön, aber jeder hat mal Streit. Ich brauch da nur an mich und Mike oder an Ian denken, da läuft auch nicht alles so, wie es soll, daher streiche ich June mitfühlend über den Arm.
"Weißt du worum es in dem Streit ging?" frage ich nach.
"Nein, nicht wirklich, irgendwas wegen der Firma glaube ich." sagt sie unsicher.
"Machst du dir auch sorgen, dass es zwischen deinen Eltern kriselt?"
"Nein eigentlich nicht, nur wegen der Schule."
"Wieso denn das?" frage ich verwundert.
"Wenn es in der Firma nicht läuft, dann fehlt uns das Schulgeld und dann muss ich wieder auf meine Alte Schule zurück und dann... Joris, du verstehst schon." sagt sie betrübt.
Oh, ja, das verstehe ich nur zu gut.
"Aber du hast doch so gute Noten, meinst du nicht, das du vielleicht ein Stipendium oder so etwas bekommen kannst? will ich wissen. "Ich mein nur, falls das Geld tatsächlich knapp werden sollte?"
"Keine Ahnung, ich weiß nicht. Um sowas habe ich mich noch nie gekümmert. Seit dem meine Eltern das Restaurant eröffnet haben lief es eigentlich richtig gut. Geld war immer da." sagt sie nachdenklich.
"Bestimmt machst du dir ganz umsonst Sorgen." versuche ich sie aufzumuntern. Auch ich habe mir selbst die Welt zur Hölle gemacht, weil ich mir den Kopf über Dinge zerbrochen habe, die so ganz anders waren, als ich gedacht habe.
"June, also... ich..." ich atme tief durch, schon komisch, das es mir so schwer fällt über meine Probleme mit meinen Eltern, die keine waren zu sprechen, doch jetzt, da June Kummer hat, möchte ich ihr meine Geschichte erzählen.
"Also, ich hatte auch Schwierigkeiten zu Hause." beginne ich. "Aber wenn ich mich getraut hätte, mit meinen Eltern zu sprechen, dann hätte ich mir eine Menge Sorgen ersparen können. Also, was ich sagen wollte... sprich doch einfach mit ihnen. Sag ihnen, was du denkst und hör dir an, was sie zu sagen haben, vielleicht kommt ja etwas ganz anderes dabei heraus, als du denkst. Vielleicht haben sie sich nur gestritten, weil das Essen angebrannt ist oder so. Kann ja auch sein, das nur ne Lieferrung doppelt oder gar nicht gekommen ist. Es gibt so viele Gründe sich zu streiten."
Na gut, jetzt hab ich ihr doch nichts von meiner Adoption erzählt, aber es geht hier ja im Augenblick auch nicht um mich, sondern um sie.
Hoffnungsvoll Blickt sie mich an. "Wirklich, du meinst ich soll sie direkt fragen, wegen dem Streit?"
"Ja, ganz sicher. Bestimmst haben sich deine Eltern längst wieder vertragen." ich schenke ihr ein aufmunterndes lächeln. Dabei bin ich mir keineswegs sicher, dass das was ich sage stimmt, aber warum sollte ich denn auch den Teufel an die Wand malen, das bringt doch alles nichts.
Aber June scheint meinen Worten glauben zu schenken, denn sie erwiedert mein Lächeln erleichtert.
"Weißt du was. Ich glaub ich ruf sie nachher mal an. Bestimmt hast du recht. Komm lass uns weiterlaufen ja."
Zustimmend nicke ich ihr zu und laufe neben ihr her. Dabei muss ich aber auch an meine eigenen Probleme denken, die sich nicht so leicht wie die von June mit einem Gespräch beheben lassen. Naja, vielleicht ja doch, aber das Gespräch, was mir bevorsteht, möchte ich nicht am Telefon führen und so bleibt mir nichts anderes Übrig als das Wochenende abzuwarten und wenn es ganz schlecht läuft sogar die Ferien.
Nach dem Frühstück, wo ich erneut nur einen Blick von Ian erhasche, stürze ich mich so konzentriert auf den Unterricht, das ich gar nicht merke, wie die Zeit vergeht, denn schon ist wieder Mittagszeit, dabei haben wir heute unseren Englisch Test geschrieben, von dem ich hoffe, das er ganz gut ausfallen wird, weil ich so viel dafür gelernt habe.
Doch als ich die Mensa betrete, bleibe ich verwirrt in der Tür stehen, denn Ian sitzt nicht an seinem Tisch. Suchend lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen und bin überrascht ihn dann bei seinem Bruder zu sehen. Er sitzt mit seinem Essen gegenüber von Felix und unterhält sich mit ihm und Alex, die neben ihm sitzt.
Nervös gehe ich zur Essensausgabe und hole mir eine Portion von dem Kartoffelauflauf, dazu gibt es Brokkoli und Hackbraten. Es riecht wirklich lecker, doch in Anbetracht dessen, dass Ian bei uns am Tisch sitzt, habe ich das Gefühl, eine Hand würde meinen Magen zusammen pressen, so das mir ein wenig der Appetit vergeht.
Und so kostet es mich ein kleines bisschen Überwindung mich mit meinem Essen an unseren Tisch zu setzten.
"Na, wie war der Unterricht." grüße ich meine Freunde und zwinge mich zu einem fröhlichen Lächeln, als ich mich neben Felix an den Tisch setzte.
"Wie immer." sagt Alex gleichgültig "Tot langweilig. Doch dann wendet sie sich wieder Ian zu, den sie scheinbar nach wie vor hoch interessant findet, was mir einen kleinen Stich verpasst, aber da ich ihm ja nicht mehr weh tun will, muss ich mich damit abfinden, dass er mit anderen Mädchen zusammen ist. Und wenn Alex ihm schöne Augen macht ist mir das immer noch lieber, als wenn Emma es tut.
Während die Gespräche um mich herum weiterlaufen, gebe ich mir wirklich Mühe, unbeschwert zu wirken. Ich lache, wenn die Andern lachen und tue so, als würde mir mein Essen wirklich gut schmecken, dabei fühlt es sich an als würde ich auf einem alten Stück Kaugummi kauen.
Hin und wieder, wenn ich zu Alex schaue, sehe ich auch Ian an, der mich freundschaftlich anlächelt, mich aber nicht wie sonst, nicht aus den Augen lässt.
Gut so. Sage ich zu mir selbst, das ist genau das was ich wollte. Er soll sich nicht auf mich fixieren, nicht auf mich warten, nur damit ich ihn dann erneut verletzte.
Wir sind Freunde. Mehr nicht. Jetzt muss ich nur selbst akzeptieren, was ihm scheinbar so leicht gelingt.
Als ich fast mit dem Essen fertig bin, kommt June fröhlich lächelnd herein. Sie kommt zügig an unseren Tisch und legt mir die Arme von hinten um den Hals.
"Mia, du hattest ja so recht!" sagt sie glücklich. "Meine Eltern haben sich wirklich schon wieder vertragen. Es war nur eine Kleinigkeit, hat meine Mama gesagt."
"Siehst du, hab ich doch gesagt." erleichtert lächle ich sie an. Da bin ich aber froh, das sich ihre Probleme so schnell in Luft aufgelöst haben, ganz im Gegensatz zu meinen.
"Ich hol mir mal was zu essen." sagt sie lachend und zischt ab. Auch ich stehe auf um mein Tablett weg zu bringen, denn ich möchte nicht länger als unbedingt nötig hier bleiben und Alex zusehen, wie sie mit Ian flirtet.
"Wir sehen uns dann später." verabschiede ich mich. "Ich muss noch was erledigen."
Dann verlasse ich den Speisesaal und schlendere ziellos durch die Schule, bis der Unterricht beginnt. Fast hatte ich gehofft, das Ian mir folgt, aber er tut es nicht, was auch besser ist.
Ich sollte wirklich froh darüber sein, das ihn unsere Trennung nicht so sehr belastet, aber irgendwie macht es mich traurig.
Ob ich ihm wirklich so wenig bedeutet habe, das er mich einfach so vergessen kann?
Ich kann das nicht. So sehr ich mich auch bemühe, ich schaffe es einfach nicht, ihn aus meinen Gedanken zu vertreiben. Immer wieder wandern sie zu ihm zurück und bringen mich dazu an seine grünen Augen zu denken, an seinen unbeschreiblichen Duft und seine starken Arme, die er um mich gelegt hat. Auch seine weiche Stimme geistert mir durch den Kopf und dieses kleine Wort, der Name, den er mir gegeben hat. Engelchen. Alleine bei dem Gedanken daran bekomme ich eine Gänsehaut und mein Puls gerät aus dem Takt.
Verdammt! Was ist nur los mit mir?
Ich darf nicht an ihn denken! Ich muss ihn vergessen. Er hat etwas viel besseres als mich verdient!
Ja, das hat er. Und deshalb verbanne ich ihn aus meinen Gedanken. Schließe die Erinnerungen an ihn, ganz Tief weg, und nehme mir vor, sie nicht mehr herauszuholen.
Was mir für den Rest der Woche auch mehr oder Weniger gut gelingt.
Wenn ich Unterricht habe, dann ist es sogar gar nicht mal so schwer, dafür ist es fast unmöglich, wenn wir beim Essen sitzen.
Aber auch hier habe ich eine Lösung gefunden, denn immer wenn er bei uns am Tisch sitzt, gehe ich einfach nicht zum essen und wenn er bei Emma am Tisch sitzt, dann vermeide ich es so gut es geht ihn anzusehen.
Schon bald ist die Woche um und als ich am Freitagnachmittag vor der Schule stehe und darauf warte, das meine Eltern ankommen um mich abzuholen, bin ich tatsächlich etwas aufgeregt, weil endlich Ferien sind und ich für die nächsten zwei Wochen etwas Ruhe finden kann.
Zumindest Ruhe vor meinen Gefühlen für Ian, vor allem, weil ich mich in nächster Zeit mit etwas ganz anderem Beschäftigen muss. Denn noch immer erwartet mich das Gespräch mit Mike, von dem ich nicht weiß, wie es enden wird.
Ob er überhaupt weiß, das Mel mir von der Sache mit der erlogenen Wette erzählt hat?
Oder hat sie mir ohne sein Wissen davon erzählt? Wie dem auch sei. Gemeldet hat er sich jedenfalls nicht, was ich zugegebener Maaßen ein kleines wenig komisch finde.
Endlich sehe ich den roten Audi von Pascal vorfahren und erneut spüre ich diese Freude in mir, als ich meine Eltern sehe.
Mara lächelt mich glücklich an auch Pascal sieht erfreut aus, als er mich sieht.
"Hallo Marie." grüßt sie mich und tritt unsicher von einem Fuß auf den anderen.
"Hallo Mara." auch ich bin unsicher, wie ich sie begrüßen soll, doch dann gebe ich mir einen Ruck und nehme sie in den Arm. Wenn ich ihr wieder näher kommen möchte, dann muss ich sie an mich ran lassen und eigentlich ist meine Wut auf sie und das Geheimnis, was so lange zwischen uns stand verraucht. Zurück bleibt einfach nur ein warmes Gefühl, was ich ihr entgegenbringe und das nicht erst seit einer Woche in meinem Herzen ruht.
Auch schon bevor ich herkam war sie oft so verständnisvoll und fürsorglich, dabei hatte sie eigentlich gar keinen Grund dafür.
Naja, außer den, dass ich ihre einzige Lebende verwandte bin, so wie sie meine einzige Lebende verwandte ist.
Auch Pascal schließe ich in die Arme und stelle erstaunt fest, wie angenehm es sich anfühlt, Väterlich in den Arm genommen zu werde. Er küsst mich auf die Stirn, dann lässt er mich los.
"Na bereit für die Heimfahrt?" fragt er lächelnd.
"Fast." sage ich und reiche ihm meine Tasche. "Ich muss nur noch meinen Freunden Tschüss sagen."
Eilig gehe ich zu Alex und Felix, die beide noch nicht abgeholt wurden.
"Wir sehen uns in zwei Wochen ja?" sage ich und nehme sie nacheinander in den Arm, dann schaue ich mich unauffällig um. Aber Ian ist nirgends zu sehen.
"Er ist schon los." sagt Felix.
Verwirrt schaue ich ihn an. "Wer?" frage ich.
"Na Ian. Nach ihm hast du doch Ausschau gehalten." sagt er Kopfschüttelnd.
Oh, bin ich etwa so leicht zu durchschauen?
Gleichgültig zucke ich mit den Schultern. "Ich hatte eigentlich geschaut, wo June ist." sage ich ausweichend, doch Felix scheint mir kein Wort zu glauben. Denn er runzelt die Stirn und verdreht die Augen.
"Die ist auch schon weg." sagt Alex. "Ihre Mum war schon vor einer Stunde hier. Du hast ihr sogar Tschüss gesagt, weißt du nicht mehr."
"Oh..., ähmm.. ja, stimmt. Hab ich ganz vergessen." sage ich stockend.
"Schreib mal." verlangt Alex noch, als ich schon die Treppe nach unten gehe.
"Ja, mach ich. Du auch ja." lächelnd winke ich ihr zu.
"Ciao ihr beiden, machts gut!"
Ich steige in das Auto meiner Eltern und zum ersten Mal nach über zehn Wochen fahre ich wieder nach Hause.
Drei Stunden trennen mich nur noch von meinem Zimmer. Nur noch drei Stunden, bis ich mich mit Mel Treffen kann oder mit Mike, mit Luke, mit Rike, Ossi, Gisi, Kathy. Und selbst auf Jason freue ich mich irgendwie, obwohl ich beim Gedanken an ihn auch an Ian denken muss, von dem ich mich gar nicht mehr verabschieden konnte, weil er, wie mir jetzt erst wieder einfällt heute zum Arzt muss, um seinen Arm kontrollieren zu lassen.
Ich hoffe, das er, wenn ich wieder komme, den Gips endlich los ist. Denn er ist das letzte Überbleibsel, das von dem Überfall noch übrig ist und der mich immer wieder daran erinnert, das ich daran Schuld bin, das er verletzt wurde.
Auch erinnert er mich immer wieder an den Tag im Krankenhaus, als Mel mir vom Mike erzählt hat und der alles verändert hat.
Der mein Leben auf den Kopf gestellt hat.
Bleibt nur zu hoffen, dass nach den Ferien alles besser wird.
Doch Hoffnungen sind Schall und Rauch. Warum sagt einem das eigentlich keiner, wenn man mal wieder in Versuchung gerät auf irgendwas zu hoffen?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top