Ein langer Nachmittag
Mit jedem Schritt, den ich Richtung Wohnzimmer mache, werde ich unruhiger. Schlägt mein Herz heftiger, werden meine Bewegungen zögerlicher.
"Du schaffst das, Mia." sagt Ian zuversichtlich und drückt kurz meine Schulter, dann lässt er mich wieder los.
Ich weiß nicht, ob er recht hat, aber wenn ich es nicht wenigstens versuche, werde ich es wohl nie herausfinden. Also reiße ich mich zusammen, straffe die Schultern und hebe den Kopf. Ich bringe die Letzten Meter bis ins Wohnzimmer hinter mich, wo Mara und Pascal noch immer auf mich warten.
Auch Page ist da und Peter. Sie sitzen um den Couchtisch herum, trinken Kaffee und unterhalten sich.
Als Page mich sieht, lächelt sie mich unsicher an und steht auf.
"Willst du dich nicht zu uns setzen?" bietet sie an.
Auch Mara steht auf und will auf mich zukommen, doch Pascale hält sie zurück. "Lass ihr Zeit." höre ich ihn sagen.
Langsam gehe ich um das Sofa herum, bis zu einem Freien Sessel, auf den ich mich setzte.
"Möchtest du etwas trinken?" will Ian wissen.
"Einen Kaffee bitte und ein Glas O-Saft, wenn welcher da ist, sonst nur Kaffee." sage ich dankbar.
"Und was ist mit einem Stück Kuchen oder einem Apfel? Irgendetwas?"
"Nein danke, ich hab keinen Hunger." versichere ich ihm, doch als mir der besorgte Blick auffällt, der kurz über sein Gesicht huscht, füge ich noch. "Ich hab schon in der Stadt mit Felix gegessen." hinzu.
"Okay." Ian verschwindet kurz in der Küche und kommt dann mit zwei Tassen, einer Thermoskanne und einem Glas Saft zurück. Den Saft drückt er mir in die Hand, doch die Tassen stellt er auf den Tisch und schenkt duftenden Kaffee in unsere Tassen.
"Möchten sie auch noch etwas?" bietet er höflich meinen Eltern an.
"Für mich nicht, Danke." lehnt Mara ab. "Ich hatte schon zu viel davon."
"Möchten sie vielleicht etwas Anderes? Saft? Wasser?"
"Ein Wasser wäre toll." sie lächelt ihn dankbar an.
"Und für Sie? Kaffee? Oder auch lieber etwas anderes?" wendet er sich nun an Pascal.
"Ich nehm den Kaffee. Bitte"
Nach dem Ian meinen und auch seinen Eltern nachgeschenkt und das Wasser für Mara aus der Küche geholt hat, setzt er sich mit seinem Kaffee neben mich auf die Lehne des Sessels.
Betretenes Schweigen senkt sich über uns. Nachdenklich nippe ich an meinem Saft, bis das Glas leer ist, dann greife ich nach dem Kaffee, an dem ich mir meine Kalten Finger wärme.
"Wie geht es dir?" frage ich die Kaffeetasse in meiner Hand, dann schaue ich schnell zu Mara, die eine Hand auf ihren Bauch gelegt hat.
"Ganz gut. Mir ist nicht mehr schlecht." sagt sie leise, "Und dir?"
"Grad nicht so berauschend." diesmal huscht mein Blick zu Ian, der mich aufmunternd ansieht. Das wird schon scheint er mir sagen zu wollen.
Dabei bin ich mir nicht sicher, ob ich ihm das glauben soll.
Für den Moment jedoch muss ich die Sorgen um ihn, um uns, beiseiteschieben und mich meinen Eltern und der Wahrheit stellen, die sie mir vermitteln wollen.
Als ich erneut zu Mara und Pascale schaue, sehe ich wie die beiden einen Blick tauschen, dann sagt Mara bedauernd. "Es tut mir leid, Mia, das wir dir nicht früher von der Adoption erzählt haben." traurig seufzt sie auf. "Wir wollten schon längst mit dir darüber reden, aber irgendwie hat sich nie eine Gelegenheit ergeben. Vor zwei Jahren, waren wir dann kurz davor, doch dann hast du dich so verändert und wir haben es nicht mehr übers Herz gebracht, weil wir dachten, das du uns dann ganz entgleitest." erklärt sie mir.
"Vor zwei Jahren?" frage ich nach. Vor zwei Jahren habe ich die Papiere auf dem Schreibtisch gefunden.
"Ungefähr, es können auch etwas mehr gewesen sein. Pascal hatte schon alles zusammen gesucht und wir wollten dir alles Erklären, doch wie gesagt... da hast du dich dann so von uns zurückgezogen, dass wir dieses Gespräch verschoben haben. Dass dann alles so..." beginnt sie, doch dann bricht sie ab.
"Vor zwei Jahren habe ich auf Pascals Schreibtisch einen Brief gefunden. Von einen Anwalt. Ich weiß nicht mehr was drauf stand, nur das es etwas mit meiner Adoption zu tun hatte." sage ich angespannt.
"Warum hast du uns denn nicht danach gefragt?" will nun Pascal wissen
Unschlüssig zucke ich mit den Schultern. "Ich weiß nicht. Irgendwie war ich viel zu durcheinander. Ich hab mich immer wieder gefragt, warum ihr es mir nicht gesagt habt und warum meine Mutter mich weggegeben hat und was mit meinem Vater ist."
"Wenn du uns danach gefragt hättest, dann hätten wir es dir gesagt." Pascal sieht mich brummig an, was bei mir nicht besonders gut ankommt.
"Ach ja?" frage ich herausfordernd, "Wenn ihr nicht so lange gewartet hättet, dann hätte ich gar nicht danach fragen müssen, dann hätte ich es längst gewusst!" sage ich aufgebracht.
"Reg dich nicht auf Mia." sagt Ian leise und legt mir kurz eine Hand auf den Arm, was mich tatsächlich etwas beruhigt, doch noch immer habe ich Herzklopfen.
Ich war doch nur ein Kind! Sie waren die Erwachsenen! Sie hätten mir alles erklären müssen.
"Du hast recht Mia. Wir hätten dir früher davon erzählen sollen, aber wir haben es nicht getan. Weißt du, auch Eltern sind nicht perfekt. Sie machen Fehler." Mara hat ihre Hand auf Pascals gelegt und scheint ihn ebenso beruhigen zu wollen wie Ian mich. "Meinst du, du kannst uns verzeihen?" fragt sie hoffnungsvoll. "Willst du wissen was mit deinen Eltern ist? Oder... naja, also oder lieber nicht?" sagt sie stockend, dabei sehe ich wie ihr Tränen in die Augen steigen.
"Wisst ihr denn etwas über sie?" hilflos blicke ich zu Ian, was wenn ich nicht wissen will, was Mara mir zu sagen hat. Doch er legt aufmunternd seine Hand auf meine Schulter und drückt sie sanft.
"Ja. Wir wissen alles über sie." sagt sie mit brüchiger Stimme, dann räuspert sie sich.
"Erzähl." fordere ich sie auf.
Doch anstatt, das Mara zu erzählen beginnt, greift sie nach einer kleinen Kiste, die auf dem Boden vor ihren Füssen steht, fast unter dem Tisch.
Unsicher schiebt sie mir den Karton zu.
"Mach ihn auf." fordert sie, als ich den Kasten nur verwirrt anstarre. Langsam hebe ich den Deckel und erblicke darin einen Haufen Fotos, Zeitungsartikel, zwei Ringe und eine kleine, blaue Schachtel, die, als ich sie in die Hand nehme ein leises, klapperndes Geräusch von sich gibt. Langsam öffne ich das Schmuckkästchen und zum Vorschein kommt eine silberne Kette mit einem herzförmigen Anhänger. "Marie" ist auf der Vorderseite eingraviert.
"Dreh es um." ermuntert mich Mara, da ich mich nicht traue die Kette zu berühren.
Unsicher schaue ich sie an, doch dann tue ich, was sie gesagt hat.
Als ich das Schmuckstück in die Hand nehme und es zögernd umdrehe, sehe ich, das auch auf der Rückseite etwas geschrieben steht.
Für mein Engelchen,
in ewiger Liebe
Mum
Als ich die Worte meiner Mutter lese, die sie mir hinterlassen hat, laufen mir die Tränen die Wangen herunter. Ich kann nichts dagegen tun.
Die Angst, die Zweifel, dass ich meiner Mutter nichts bedeutet habe, das sie mich nicht wollte, weil ich ihr eine Last war, das sie mich weggeworfen hat, weil sie mich nicht geliebt hat, all diese schlimmen Gedanken sind auf einmal belanglos.
Denn hier steht es Silber auf Silber. Noch deutlicher hätte sie es mir gar nicht sagen können.
"In Ewiger Liebe"
Zitternd schließe ich die Hand um den Anhänger und presse ihn an meine Brust.
Diesen Anhänger hat meine Mutter für mich gemacht. Nur für mich! Mein Name steht auf der Vorderseite! Marie! Der Name, den meine Mutter mir gegeben hat.
Ergriffen schaue ich erneut auf das Herz in meiner Hand, doch die Inschrift kann ich nicht mehr lesen, selbst den Anhänger sehe ich kaum, so viele Tränen sammeln sich in meinen Augen und fließen über mein Gesicht.
Auch Mara weint, doch sie hat immerhin Pascal, der ihr tröstend den Arm um die Schultern legt.
Ich hingegen habe niemanden.
"Nur" einen Freund, der neben mir sitzt und mich bekümmert ansieht.
Ich weiß, dass ich seine Gefühle missbrauche, wenn ich mich von ihm trösten lasse, aber er hat gesagt, dass ich nicht allein bin und das ich durch diesen Sturm der Gefühle nicht alleine muss und so, lege ich ihm haltsuchend die Hand aufs Knie.
Er legt seine darüber und hält mich fest.
Ich schaue ihn nicht noch mal an, will den Schmerz, den ich ihm bereite nicht wahrhaben, denn mein schlechtes Gewissen ist ohnehin schon groß genug.
Nach ein paar Minuten habe ich mich so weit gefasst, das ich wieder sprechen kann.
"Lebt meine Mutter noch?"
"Nein."
"Wie alt war sie?" will ich wissen "Als sie starb meine ich." präzisiere ich meine Frage.
"Zwanzig."
"Und ich?"
"Noch nicht ganz ein halbes Jahr."
"Was... was ist passiert?"
Ich höre wie Mara tief einatmet dann lässt sie die Luft langsam zwischen ihren Lippen entweichen.
"Marie, " beginnt sie, fährt aber erst fort, als ich sie anschaue. "Ich weiß, du magst den Namen nicht, aber..."
"Nein, ich find den Namen toll." unterbreche ich sie und drücke die Kette in meiner Hand fester.
Dabei huscht ein kleines Lächeln über mein Gesicht.
Auch Mara beginnt zu lächeln. "Wenn das so ist."
Sie beugt sich vor und sucht etwas in dem Karton, der vor mir auf dem Tisch steht, dann zieht sie ein kleines Foto heraus und reicht es mir.
"Das ist deine Mutter." sagt sie traurig und zeigt auf eine der beiden Frauen, die darauf zu sehen sind. Zugegeben, die Frau sieht mir ziemlich ähnlich, trotzdem kann ich irgendwie nicht glauben, dass das meine Mutter ist. Sie hat kurze blonde Haare, die ihr verspielt ins Gesicht fallen und sie ist groß und schlank. Aber ihr Mine, ihre Augen, die Nase, der Mund, all das könnte auch von mir sein.
"Und das bin ich." fährt Mara fort und deutet auf ein junges Mädchen, das ungefähr in meinem Alter ist. Vielleicht auch ein oder zwei Jahre älter.
Allerdings hätte sie mich nicht unbedingt darauf hinweisen müssen, denn immerhin sieht die Mara vor mir nicht viel anders aus als die auf dem Bild.
Ihre langen braunen Locken sehen noch genauso aus wie damals und auch ihr Gesicht hast sich nicht sehr verändert. Okay, sie sieht älter aus, aber ansonsten... die gleiche feine Nase, die lachenden braunen Augen und die vollen Lippen, haben sich nicht verändert.
Doch irgendwas an dem Bild ist seltsam. Die beiden Frauen, die Arm in Arm an einem Strand stehen, sehen sich irgendwie ähnlich. Nicht gleich, aber ähnlich.
Meine Mutter, also meine richtige hat irgendwie die gleiche Nase und wenn ich genau hinsehe ähneln sich auch die Form ihrer Augen, nur das die von meiner Mutter blau sind, wie meine und Maras braun.
"Woher kanntet ihr euch?" frage ich unsicher.
"Sie war meine Schwester." sagt Mara und eine Träne rollt ihre Wange hinunter, die sie mit dem Daumen wegwischt.
"Deine Schwester?" verwirrt schaue ich sie an, aber dann... dann ist Mara...
"Du bist meine Tante?!" spreche ich meine Gedanken aus.
"Ja." sagt Page schlicht.
Verblüfft schaue ich sie an. Ich bin mit ihr verwand! Schießt es mir plötzlich in den Sinn. So richtig! Sie ist meine Tante! Die Schwester meiner Mutter! Und das Baby, das in Maras Bauch wächst ist meine Cousine oder mein Cousin. Also habe ich eine richtige Familie! Nicht nur Adoptiveltern, sondern Maras Mutter ist auch die Mutter meiner Mutter und somit meine Oma, was sie auch gewesen wäre, wenn ich Maras Tochter gewesen wäre, was ich in gewisser Weise ja auch bin.
Man ist das alles kompliziert, aber um mich jetzt weiter damit zu beschäftigen, dazu fehlt mir die nötige Ruhe, denn ich habe noch so viele Fragen, die mir auf dem Herzen liegen.
"Erzählst du mir, was damals passiert ist." bitte ich sie leise und kralle meine Finger fester in Ians Hose.
"Eigentlich gibt es nicht viel zu erzählen." beginnt Mara.
"Ich möchte es trotzdem wissen." bitte ich sie und sie nickt.
"Deine Mum und dein Dad hatten Karten für ein Musical von unseren Eltern geschenkt bekommen. Und an dem Abend, als sie alle gemeinsam zu der Veranstaltung fuhren, hatten sie einen Unfall. Am Morgen kam der Anruf von der Polizei. Einem Lastwagen war der Reifen geplatzt, gerade als sie mit ihrem Auto überholt haben. Der Sattelzug geriet ins Schleudern und Zerquetschte ihren Wagen einfach. Sie waren sofort tot, hat man uns gesagt." gibt Mara in kurzen, abgehackten Sätzen wieder. Dabei knetet sie ihre Finger in ihrem Schoß.
"Und was war mit mir?" will ich wissen "Wo war ich?"
"Bei uns." sagt Pascal, weil Mara gerade nicht in der Lage dazu ist. Krampfhaft kämpft sie damit nicht völlig die Kontrolle zu verlieren. Was mir ihr starrer Blick und ihr zitternder Mund verraten. Trotzdem kann sie ein schluchzen nicht unterdrücken.
"Dann bin ich... sind wir... die einzigen, aus unserer Familie die noch leben?" frage ich stockend. "Oder hast du noch andere Geschwister?"
"Keine Geschwister." bringt Mara mühsam heraus. "Nur du und ich sind übrig."
Irgendwie tut sie mir leid, wie sie weinend vor mir auf dem Sofa sitzt, vor allem, da ich in den letzten Jahren so viel Mist gemacht habe.
Ich bin alles, was ihr von ihrer Familie, an die ich mich nicht erinnere, weil ich noch so klein war, geblieben ist.
"Gab es dich damals auch schon Pascal?" wende ich mich an meinen Vater, der Mara in den Arm genommen hat und versucht sie zu trösten.
"Wir hatten uns gerade kennen gelernt." stellt er kurz klar. "Es war eine schwere Zeit für deine Mum. Ich meine Mara. Sie war kaum Volljährig, als sie die Verantwortung für dich übernehmen musste. Dazu ihr Studium und die Beerdigungen und all das. Und um dich musste sie sich auch kümmern." er klingt ein wenig vorwurfsvoll, dabei kann ich doch gar nichts dafür, dass meine Eltern einen Unfall hatten.
"Du warst trotzdem das Beste, was mir je passiert ist Mia." stellt Mara klar. "Es war nicht immer leicht, das stimmt, aber ich habe dich immer geliebt. Wir haben dich immer geliebt." verdeutlicht sie ihre Worte "Auch wenn Pascal es manchmal nicht so zeigen kann." sie wirft ihm einen traurigen Blick zu.
"Schau dir mal die Bilder an, da muss auch eins von dir und ihm sein, als du noch ganz klein warst." ermutigt sie mich.
Ich folge ihren Worten und stoße auf eine Ganze menge Bilder, von Mara und mir aber es gibt auch viele Bilder von meinen Eltern und mir. Auf einem Trägt meine Mutter eine schwarze Jacke, die mir sehr bekannt vorkommt.
"Ist das dieselbe Jacke?" will ich wissen und deute von dem Bild auf mich, weil ich gerade diese Jacke anhabe. Mara nickt zustimmend.
"Ich habe sie die ganzen Jahre aufgehoben, weil deine Mutter diese Jacke geliebt hat. Ich konnte sie einfach nicht wegtun." sie lächelt verlegen und beugt sich zu mir um mir eine Hand aufs Knie zulegen.
"Ich bin froh, dass ich sie aufbewahrt habe, auch wenn es mir einen ganzschönen Schrecken eingejagt hat, als du sie angezogen hast."
"Wieso denn das?" frage ich verwirrt.
"Weil du Lotta darin so ähnlich siehst."
"Wem?"
"Entschuldige. Ich meinte deiner Mum. Sie hieß Charlotte, aber ich habe immer nur Lotta zu ihr gesagt." ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, bei dieser Erinnerung.
Auch ich muss bei dem Gedanken daran lächeln. Die Jacke die ich trage, hat meiner Mum gehört und sie mochte sie sehr garn, was ich gut verstehen kann. Auch ich finde die Jacke toll!
Während Mara einen Schluck von ihrem Wasser nimmt, blättere ich weiter durch die Fotos. Bis ich auf eines von Pascal und mir stoße.
Und Mara scheint wirklich recht gehabt zu haben, denn das Bild zeigt uns in inniger Verbundenheit.
Mein kleines Ich liegt schlafend in einem viel zu großen Bett und eine ziemlich junge Ausgabe Pascals liegt auf die Ellenbogen gestützt neben mir. Seine Hand liegt an meinem Kopf, und er scheint mir irgendetwas zuzuflüstern, denn sein Kopf ist ganz dicht an meinem. Vielleicht hat er dem Baby auch gerade einen Kuss gegeben, doch das kann ich nicht sagen. Trotzdem rührt mich das Bild sehr.
Nachdenklich schaue ich ihn an. Sein Blick ist weich und um seine Augen liegt ein kleines Lächeln, als ich ihm das Bild zeige.
"Ich bin noch so klein." fällt mir auf.
"Das warst du auch." sagt er und räuspert sich ergriffen. "Aber das Bild entstand auch schon vor dem Tod deiner Eltern. Als du zu Mara kamst, warst du schon ein wenig älter."
Nickend lege ich das Bild in den Karton zurück. Es sind so viele Bilder, das ich sie gar nicht alle auf einmal verarbeiten kann.
Deshalb will ich wissen. "Kann ich die Sachen behalten, ich meine, damit ich sie mir in Ruhe anschauen kann?"
"Sicher." stimmt Mara zu. "Wir haben sie extra für dich mitgebracht. Ich wollte immer, dass du deine Eltern kennen lernst."
"Danke!" sage ich ergriffen und nehme die Kette wieder aus dem Kasten, in den ich sie zurückgelegt habe, um mir die Bilder anzuschauen. "Ich würde die Kette gern tragen. Darf ich?"
"Ich fürchte, sie wird nicht passen, denn deine Mum hat sie dir zur Taufe geschenkt." sagt Mara bedauernd. "Aber wenn du willst kaufen wir dir in den Ferien eine längere Kette, an der du den Anhänger dann um den Hals tragen kannst."
"Das würde ich sehr gern." sage ich enttäuscht, dann lege ich die Kette in den Kasten zurück.
Wir reden noch eine ganze Weile, bis mir irgendwann die Fragen ausgehen. Dafür löchern mich meine Eltern jetzt, was die Schule betrifft, wie es mir dort gefällt und was ich so den ganzen Tag mache. Immerhin habe ich in den letzten Monaten kaum mit ihnen gesprochen.
Und jetzt, wo ich mehr über meine Eltern weiß und nicht ständig daran denken muss, warum ich Adoptiert wurde, da kann ich fast glauben, das Mara und Pascal mich wirklich mögen und sich nicht nur um mich Sorgen, weil sie es müssen, sondern weil sie es tatsächlich so wollen.
Irgendwann steht Page auf und entschuldigt sich, weil sie Margarethe beim Abendessen helfen muss und auch Peter geht, weil er im Stall noch etwas zu erledigen hat. Und so kommt es, dass nur Mara, Pascal, Ian und ich im Wohnzimmer zurückbleiben. Doch wir sind nicht lange allein, denn die Zwillinge kommen ins Wohnzimmer gestürmt.
"Mia! Ian!" kreischen sie vergnügt und klettern gleich zu uns auf den Sessel.
"Wir waren ausreiten!" verkündet Johanna freudestrahlend.
"Wirklich?!" frage ich erstaunt und wundere mich, wie sie sich so darüber freuen kann, denn nach meiner eigenen Reiterfahrung vom Nachmittag, weiß ich beim besten Willen nicht, was sie daran so toll findet. "Ganz allein?"
"Nein!" sagt sie Kopfschüttelnd und verdreht die Augen, als würde sie sagen wollen, du stellst aber dumme Fragen.
"Mit Felix und Lena." erklärt sie mir dann, als wäre ich das kleine Kind und nicht sie.
Währen Johanna munter auf mich ein plappert, ist Julia ziemlich still, bis sie unauffällig an Ians Ärmel zupft.
"Wer ist das?" fragt sie so leise, das ich es nur hören kann, weil ich so dicht neben ihnen sitze.
"Das sind Mias Eltern." erklärt Ian ihr. Aber er spricht in normalem Tonfall, so das auch Mara und Pascal es hören können.
"Hallo!" Johanna lächelt die beiden fröhlich an, doch Julia ist etwas schüchtern. Sie winkt lediglich mit der Hand in ihre Richtung und versteckt sich dann hinter Ians Rücken.
"Wie heißt du denn?" will Johanna wissen und klettert von der Sessellehne auf die Sofalehne und lässt sich dann neben Mara plumpsen.
"Ich bin Mara und wie heißt du?" fragt sie verzückt lächelnd.
"Johanna und das..." sie deutet auf ihre Schwester. "ist Julia." Dann schaut sie Mara prüfend an.
"Du bist aber dick!" stellt sie fest, worauf hin mir die röte ins Gesicht schießt. Doch Mara lächelt die dreiste kleine noch immer an.
"Das kommt daher, das ein Baby in meinem Bauch wohnt." erklärt sie ihr geduldig.
"Wirklich?" staunt das Mädchen.
"Wirklich!" bestätigt Mara.
Inzwischen ist auch Julia neugierig hinter Ian hervorgekrochen und geht zu Mara.
"Ist da ein Mädchen oder ein Junge drin?" will sie wissen.
"Ich weiß nicht." sagt Mara ratlos, "Aber ich hoffe, dass es ein Mädchen ist. Eines das so hübsch wird wie ihr es seid."
Johanna wird immer mutiger und legt ihren Kopf an Maras Bauch.
"Hallo du da." redet sie auf ihn ein und streichelt mit der Hand über Maras Bauch, worauf hin Mara mich erstaunt anschaut, doch ich kann nur ratlos mit den Achseln zucken.
"Sag mal bist du ein Junge oder ein Mädchen?" fragt sie das kleine Wesen, das eines Tages mein Cousin oder meine Cousine sein wird.
"Oh, okay. Ich sags ihr." lächelnd hebt sie den Kopf von Maras Bauch.
"Ich soll dir sagen, dass es ein Mädchen wird." verkündet sie mit einer Bestimmtheit, die keinen Wiederspruch zu lässt, dann nimmt sie Julias Hand und legt sie auf Maras Bauch.
"Das ist meine Schwester Julia." stellt Johanna sie vor, wobei sie nicht Mara sondern ihren Bauch anspricht, "Wenn du da raus kommst, dann spielen wir was zusammen ja? Gut, bis Bald." Sie streichelt selbst noch mal über Maras Bauch, dann zieht sie Julia hinter sich her in die Küche und lässt uns ziemlich verwirrt zurück.
Verwundert schauen wir uns an, dann beginnen wir alle gemeinsam zu lachen.
Auch Pascal lacht, wobei er den Mädchen mit liebevollem Blick folgt.
Als Page dann aber wenig später zu uns ins Wohnzimmer kommt und meine Eltern zum Essen einlädt, lehnen die beiden ab.
"Vielen Dank Page, aber wir haben ja noch einen recht weiten Heimweg und ich denke, wir sollten jetzt langsam mal los." Pascal steht von Sofa auf und hilft auch Mara auzustehen.
"Wie ihr wollt, aber es war schön euch mal kennen zu lernen." verabschiedet sie sich von Ihnen.
"Wir haben zu danken." sagt Mara, während wir in den Flur gehen "Ich weiß nicht, ob wir es ohne deine Hilfe geschafft hätten mit Marie zu sprechen."
"Ach, damit hatte ich gar nichts zu tun, da müsst ihr euch schon bei Ian bedanken, er hat Mia schließlich zurückgeholt." sagt Page ausweichend und wirft Ian einen dankbaren Blick zu.
"Trotzdem." erwidert Mara bestimmt und umarmt Page.
Dann wendet sie sich mir zu. "Du kannst mich jeder Zeit anrufen, wenn du noch Fragen hast, Ja?"
"Ich weiß." versichere ich ihr und nehme sie zum Abschied in den Arm. Es fühlt sich seltsam an, aber nicht schlecht. Nur irgendwie ungewohnt, weil es so lange her ist, das ich diese Nähe zugelassen habe. Mara wirkt auch etwas unbeholfen, doch als sie mich los lässt lächelt sie gerührt.
"Wir holen dich dann nächstes Wochenende ab." wiederholt sie noch mal, was sie mir auch schon vorhin gesagt hat, als wir über die Ferien geredet haben.
"Ja, ich freu mich schon, wieder nach Hause zu kommen." sage ich und es stimmt wirklich. Ich freue mich auf mein Zimmer und auf unser Haus, auf all die Erinnerungen, die ich dort zurückgelassen habe, nur das diesmal, der schale Beigeschmack verschwunden sein wird. Ich bin zwar noch immer Adoptiert, aber ich weiß jetzt warum. Und dass meine Mutter, genau wie Ians oder Felix Mutter von mir getrennt ist, weil sie keine Andere Wahl hatte und das macht es irgendwie besser.
Als Pascal sich von mir verabschiedet sieht er irgendwie unsicher aus. Auch ich bin unsicher, wie ich mich verabschieden soll, doch als mir das süße Foto von ihm und mir in den Sinn kommt kann ich einfach nicht anders als auch ihn in den Arm zu nehmen. Zuerst ist er wie erstarrt, doch dann schließt er seine Arme um mich und Küsst mich auf die Stirn. Oh!
"Bis nächstes Wochenende." sagt er leise, bevor er mich loslässt, dann verlassen sie das Haus und steigen ins Auto. Während ich zusehe, wie das Auto vom Hof fährt gehen Ian und Page zurück in die Küche.
Aber Ich sehe ihnen noch so lange nach, bis sie meinen Blicken entschwunden sind, erst dann kehre ich auch ins Haus zurück.
Ich bin fürchterlich müde, aber auch hungrig und so gehe ich in die Küche, wo mich bereits ein buntes Gewusel erwartet.
Ich stehe im Türrahmen und betrachte die vielen verschieden Menschen, die mir inzwischen so ans Herz gewachsen sind. Julia und Johanna, die nebeneinander am Tisch sitzen und Page, die ihnen ein Brot schmiert, Felix, der Lena mit irgendwas zum Lachen bringt und Margarethe, die Peter die Butter reicht. Und dann ist da noch Ian, der mich anlächelt und einladend auf den freien Platz neben sich deutet.
Komm scheint er zu sagen, komm an meine Seite, denn da gehörst du hin.
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