Das Konzert
Ich habe geduscht, mich geschminkt und meine Haare gemacht. Fehlt nur noch das Kleid.
Da Pages Kleiderschrank fast gegenüber vom Badezimmer ist wickele ich mir nur schnell ein Handtuch um, dann husche ich über den Flur.
Im Zimmer ziehe ich zuerst die Schuhe an, weil es hinterher schwierig werden würde, wie ich ja schon festgestellt habe, dann schlüpfe ich in das Kleid. Leider habe ich nicht daran gedacht, dass ich es allein nicht schließen kann. Und so bleibt mir nichts anderes übrig als es vorne festzuhalten und mir Hilfe zu holen.
"Page!" rufe ich aus der Tür, aber sie antwortet nicht, stattdessen höre ich Geräusche aus der Dusche. Sicher macht sie sich auch fertig.
Ob ich Ian fragen soll, ob er mir hilft oder Felix? Unsicher gehe ich den Flur entlang bis zu Ians Zimmer.
Ich öffne die Tür ohne zu klopfen und wäre fast mit ihm, der nur mit einem Handtuch um die Hüften hinter der Tür steht, zusammengestoßen.
"Oh Entschuldigung!" stoße ich aus, kann meine Augen aber nicht von ihm Abwenden.
Seinen Muskulösen Oberkörper habe ich ja schon bereits gesehen, aber dieser Hauch von nichts, der seine Hüften bedeckt bringt mich ganz durcheinander.
"Wow!" haucht er tonlos, was ich in Anbetracht der Tatsache, dass er derjenige ist, der halb nackt vor mir steht, nicht ganz angemessen finde.
Wobei Wow, mein Gefühl durchaus zu beschreiben scheint.
"Mia, du siehst einfach unbeschreiblich schön aus." flüstert er ehrfürchtig.
Verwirrt schaue ich an mir hinab und erst jetzt fällt mir das Kleid wieder ein.
"Ich wollte dich fragen, ob du mir helfen kannst. Ich hätte nicht gedacht... ich wollte nicht..." eilig drehe ich mich um, um das Zimmer zu verlassen, oder um ihn wenigstens nicht mehr ansehen zu müssen, wobei müssen hier nicht ganz passend ist.
Ich würde ihn liebend gern weiter anstarren, aber wenn ich das Täte, käme ich mir doch etwas seltsam vor.
Gerade als ich meine freie Hand nach der Türklinke ausstrecke legt Ian mir die Arme um den Bauch.
"Wo willst du denn hin, Engelchen?" flüstert er mir ins Ohr und streicht mit der Nase meinen Hals entlang, was mir eine Gänsehaut verpasst, dann haucht er zarte Küsse in meinen Nacken und auf meine Schulter, was mich vollkommen aus dem Konzept bringt.
Ich spüre seine warme Haut an meinem Rücken, wo der Reißverschluss noch immer offen steht und ihm tiefe Einblicke gewährt.
Ich schließe die Augen und genieße die ungewohnte, aber sehr beruhigende Nähe, die von ihm ausgeht.
Ein paar Augenblicke lang hält er mich fest umschlungen und atmet tief ein und aus. Genau wie ich. Er ist so nah, das ich seinen unbeschreiblich verführerischen Geruch einatmen kann, der jetzt, da er frisch Geduscht hat noch viel intensiver ist. Doch dann rückt er von mir ab. Fährt mir mit einem Finger meine Wirbelsäule hinunter und beginnt dann ganz langsam den Reißverschluss zu schließen.
"Weißt du. " sagt er. "Wenn wir nicht etwas vorhätten, würde ich dir dieses Kleid viel lieber ausziehen."
Fast augenblicklich schießt mir die Röte ins Gesicht, da meine Gedanken ungefähr in die gleiche Richtung gingen. Auch ich hätte ihn gern noch viel näher bei mir gehabt, als er es gewesen ist. Doch jetzt ist nicht die Zeit dafür. Weshalb ich auch nicht auf seine Anspielung eingehe.
"Danke für deine Hilfe." sage ich schüchtern, ohne mich noch einmal umzudrehen, dann verlasse ich sein Zimmer.
"Bis gleich." verabschiede ich mich, wobei mein Herz mir noch immer bis zum Hals schlägt.
Auf den Flur lehne ich mich aufatmend gegen die Wand, kann mir ein glückliches Strahlen aber nicht verkneifen.
Gott wie gut er gerochen hat und wie seidig seine Haut an meiner war. Ich wünschte, wir müssten nicht los. Wünschte wir hätten Zeit für uns beide und wie ich wünschte, wie wären allein, denn gerade kommt Felix aus seinem Zimmer.
"Mia alles ok?" fragt er besorgt, bevor auch ihm ein "Wow, du siehst echt toll aus!" herausrutscht.
"Ja, mir geht's gut." versichere ich ihm, auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob das stimmt. Mein Herz rast, ebenso wie mein Puls. Meine Hände sind feucht und mein Atem ist kurz und abgehackt und irgendwie ist mir schwindelig, aber dieses Gefühl legt sich schnell, als ich versuche mich zu beruhigen.
"Schade, dass ich nicht mitkommen kann, ich hätte dir so gern zu gehört, aber leider muss ich auf die Zwillinge aufpassen." erklärt er betrübt.
"Ist doch nicht so schlimm, du verpasst echt nichts. Ich spiele bestimmt total fürchterlich und versau den ganzen Abend."
Belustigt lacht er auf. "Da müsstest du dich aber echt anstrengen." versichert er mir
Auch ich muss jetzt lachen, als wir die Treppe nach unten gehen, wo alle drei Mädchen im Wohnzimmer sitzen und einen Zeichentrick im Fernsehen anschauen.
"Na, ich weiß nicht. Die falsche Tasten treffen ist echt nicht so schwer."
"Für mich vielleicht, aber für dich dürfte das ein Problem werden."
Lachend stoße ich ihm den Ellenbogen in die Seite, dann nehme ich vorsichtig im Sessel Platz. Vorsichtig deshalb, damit das Kleid nicht zerknittert.
"Oh!" staunen die Kleinen. "Du siehst aus wie eine Prinzessin"
"Danke ihr beiden, so fühle ich mich auch." sage ich lächelnd. "Was schaut ihr euch denn da an?"
"Das ist Rapunzel. Kennst du Rapunzel?" wollen die beiden von mir wissen.
"Ja, die kenn ich. Ich mag das kleine Viech, den Frosch oder ist es eine Chamäleon?"
"Meinst du Pascale? Ja der ist echt süß!" stimmt Lena mir zu. Doch Felix verdreht nur die Augen.
"Ach du, Spielverderber!" schimpfe ich, doch dann verfolge ich gebannt mit den Kleineren den Film, bis Ian ins Zimmer kommt.
"Ich fürchte wir müssen langsam los." unterbricht er uns.
"Der Prinz!" rufen die Zwillinge begeistert, als sie ihren großen Bruder erblicken. Und als ich ihren Blicken folge, muss ich ihnen recht geben. Ian sieht einfach umwerfend aus in seinem schwarzen Anzug.
Zuvorkommend reicht er mir die Hand und hilft mir aus dem Sessel.
"Ist ja schon gut ihr zwei, aber ich muss euch jetzt leider die Prinzessin entführen, denn sie muss heute ein Konzert geben." sagt er lächelnd.
"Och wie schade." sagen sie bedauernd.
Doch gerade jetzt finde ich es überhaupt nicht schade, mit Ian an meiner Seite das Haus zu verlassen, dabei bin ich ganz schön verwundert, das er sich so schick gemacht hat, obwohl er mich doch nur hinfährt.
"Bis morgen ihr Süßen." verabschiedet er sich von den kleinen und auch ich winke ihnen zu.
"Wartet mal ihr zwei." verlangt Felix. "Das schreit nach einem Foto!"
Ian verdreht die Augen, doch dann legt er einen Arm um mich und zieht mich an sich.
Verträumt blicke ich ihn an, auch er blickt mich an und dann leuchtet auch schon der Blitz auf.
"Das war's! Jetzt könnt ihr meinetwegen los." verkündet Felix gut gelaunt.
"Du schickst mir das Bild. Ja?" rufe ich ihm noch über die Schulter zu, bevor wir aus dem Haus gehen. Ich kann seine Antwort nicht mehr hören, hoffe aber, dass er mich verstanden hat.
Schon will ich auf Ians kleinen, blauen Sportwagen zugehen, als er mich in eine andere Richtung lenkt.
"Wir fahren mit dem Wagen von Peter. Da hast du etwas mehr Platz." er deutet auf mein Ausladendes Kleid.
"Ach so!" erstaunt folge ich ihm zu einem großen schwarzen Auto, das bereits in der Einfahrt steht.
Er öffnet mir die Tür und hilft mir beim Einsteigen.
Dann steigt er selbst ein.
Während Ian fährt, schaue ich nachdenklich aus den Fenster.
Um so näher wir dem Konzertsaal kommen, desto nervöser werde ich. Unentwegt knete ich meine Finger im Schoß, bis Ian meine Hand nimmt und beruhigend mit dem Daumen darüber streicht.
"Mach dir nicht so viele Gedanken. Das wird schon." versucht er mich aufzuheitern.
"Mhmm." mache ich nur zustimmend, kann mich aber nicht von meinen bedrückenden Gedanken losreißen.
Vielleicht sollte ich einfach nicht zu diesem Auftritt gehen. Völlig egal, was Herr Möller dann von mir hält, oder ob er mir noch weiter Unterricht gibt. Ich finde nicht, das er das Recht haben sollte, mich zu etwas zu zwingen, was ich nicht will.
Am liebsten würde ich Ian bitten umzudrehen, aber ich kann nicht. Ich will einfach nicht riskieren, das Herr Möller sauer auf mich ist.
Dafür macht mich die Musik einfach viel zu glücklich. Und außer ihr und Ian habe ich nicht viel, was mich zur Zeit glücklich macht.
Sicher ist da Mel, die mir so oft es geht schreibt, aber um mich ihr wirklich nah zu fühlen, ist sie viel zu weit weg. Und meine Eltern? Na, die machen mich sicher nicht glücklich. Bei ihnen ist eher das Gegenteil der Fall. Wenn ich nur daran denke, was in Maras Bauch heranwächst, möchte ich am liebsten laut schreiend davon laufen. Und was ist mit meinen anderen Freunden? Rike, Gisi, Ossi, Kathy, Luke und Mike?
Ich vermisse sie wirklich sehr, doch außer Luke und Rike hat sich keiner bei mir gemeldet und Luke wollte auch nur über Mike reden. Schon traurig, wie unwichtig ich ihnen bin, jetzt wo ich sie nicht mehr so oft treffe.
Und was ist mit meinen neuen Freunden? Felix zum Beispiel? Bei dem Gedanken an ihn, muss ich Lächeln, ja er ist wirklich ein toller Kumpel.
Wann immer er Zeit hat ist er bei mir und bringt mich zum Lachen und vor allem lenkt er mich von meinen Dummen Gedanken ab.
Sogar Alex, June und Joris verbringen gerne Zeit mit mir, auch wenn mir nicht viel davon zur Verfügung steht. Bei den ganzen Kursen, Hausaufgaben und den zusätzlichen Unterrichtsstunden die ich habe, bleibt für meine Freunde wenig Zeit.
Ich mag sie trotzdem gern, akzeptieren sie mich doch so wie ich bin und versuchen mich nicht von meinen Klavierstunden abzuhalten, oder sind sauer, weil ich so wenig Zeit habe, die ich mit ihnen verbringen könnte.
In der letzten Woche habe ich sogar noch weniger Zeit gehabt, da ich so viel für den heutigen Abend geübt habe, aber wenn ich den Scheiß heute hinter mir habe und ich wieder in der Schule bin möchte ich mehr mit ihnen zusammen unternehmen.
Zumindest werde ich es versuchen.
"Wir sind da." unterbricht Ian meinen Gedankenstrom.
"Was!? Schon?" verdammt, wie schnell eine Stunde um ist, vor allem, wenn man das was einen erwartet am liebsten niemals erreichen würde.
"Ja. Und ist das da vorne nicht dein Lehrer?" er deutet auf eine kleine Gruppe von Menschen, die vor einem großen, imposanten Gebäude stehen.
"Woher kennst du denn Herrn Möller?" verwundert schaue ich ihn an.
"Ach, der ist mir in der Schule mal über den Weg gelaufen, als ich auch dich gewartet habe." gleichgültig zuckt er mit den Achseln.
"Komm, wir sollten ihn nicht länger warten lassen. Wir sind ein wenig spät dran."
Und tatsächlich, als ich auf die Uhr schaue, stelle ich erstaunt fest, dass es tatsächlich schon fast halb sechs ist.
Ian hält am Straßenrand und steigt aus. Er läuft eilig um die Motorhaube herum, dann öffnet er mir die Tür.
"Danke!"
Er reicht mir die Hand und hilft mir beim aussteigen.
"Ich komm gleich zu dir, ich muss nur den Wagen noch woanders parken, den kann ich hier nicht stehen lassen." erklärt er mir entschuldigend und hält mir meine kleine Handtasche hin, die ich mir von Page geliehen habe, damit ich wenigstens mein Handy und einen Lippenstift einstecken konnte.
"Was willst du denn die ganze Zeit über machen?" will ich betreten wissen als ich sie ihm abnehme.
"Ich weiß noch nicht, aber ich hatte gedacht, vielleicht könnte ich mir ja eine Karte kaufen und..." unschlüssig zuckt er mit den Achseln.
"Was!" rufe ich entsetzt aus "Nein bitte nicht! Du kannst nicht... darfst nicht dabei sein!"
"Ist ja schon gut, Mia. Ich bin mir ohnehin nicht sicher, ob ich das überhaupt will. Aber eigentlich möchte ich dich auch nicht allein lassen." sagt er beschwichtigend und nimmt mich in den Arm.
"Ich bin ja nicht allein." versichere ich ihm. "Herr Möller ist ja da und seine anderen Schüler auch." resigniert schaue ich zu der kleinen Gruppe hinüber, die vor dem Opernhaus steht.
"Also gut. Wie du meinst." gibt Ian nach. "Ich bring dann jetzt mal das Auto weg. Bis gleich." Er beugt sich zu mir hinunter und gibt mir einen leichten Kuss auf den Mund, dann fährt er den Wagen weg.
Ich schaue ihm noch kurz hinterher, bis ich den drängenden Ruf von Herrn Möller vernehme.
"Worauf warten sie denn noch Frau Mendéres?" holt er mich ins hier und jetzt zurück.
"Ich komme ja schon." eilig gehe ich zu ihm hinüber.
Neben ihm stehen fünf Jugendliche. Oder besser gesagt vier und ein kleines Mädchen. Es ist vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt und steht etwas abseits von den Anderen. Unsicher knetet sie ihre Hände und schaut auf den Boden.
"Hi." grüße ich sie und stelle mich zu ihr.
"Hallo." schüchtern blickt sie mich an.
"Gut. Da wir jetzt vollzählig sind, können wir ja rein gehen." verkündet Herr Möller resolut. "Wir sollten nicht zu spät kommen."
"Aber mein Freund..." beginne ich, doch als ich den finsteren Blick von Herrn Möller auf mir spüre verstumme ich.
"Der wird eh nicht mit rein kommen können, es sei denn er hat eine Karte." erklärt er bestimmt.
"Oh. Ja, also, er wollte sowieso nicht mit reinkommen, aber..." versichere ich ihm unsicher.
"Na, dann ist ja alles geklärt." Unser Lehrer macht auf dem Absatz kehrt und geht auf das Gebäude zu, das im hellen Licht der späten Nachmittagssonne glitzert.
Unsicher folge ich ihm und den angehenden Konzertpianisten, zu denen ich wohl jetzt auch gehöre. Doch als ich mich umblicke, sehe ich das kleine Mädchen noch immer an der Stelle stehen, wo auch ich eben noch stand.
"Kommst du nicht mit?" will ich wissen und bleibe stehen.
Ängstlich schaut sie mich an, dann schüttelt sie den Kopf. "Ich will nicht." sagt sie leise.
"Das kann ich gut verstehen!" versichere ich ihr "Ich will auch nicht."
Verwundert schaut sie mich an. "Warum bist du denn hier?"
"Ich wurde gezwungen und du?"
"Ich auch." sagt sie und ein kleines Lächeln huscht über ihr Gesicht.
"Und was machen wir jetzt?" frage ich verschmitzt lächelnd.
"Was hältst du von weglaufen?" schüchtern schaut sie an mir vorbei zu unserem Lehrer, der schon fast an der Tür angekommen ist, die ins Gebäude führt.
"Meinst du er lässt uns?" Ich folge ihrem Blick und runzele die Stirn, als ich den breiten Rücken von Herrn Möller mustere.
"Ich fürchte nicht."
"Ja, das befürchte ich auch. Wollen wir zusammen?" einladend halte ich ihr die Hand hin.
Sie mustert sie kurz, dann greift sie zu.
"Ich bin Kim." stellt sie sich vor.
"Mia." aufmunternd lächele ich sie an, dann folgen wir den fünf die Treppe hinauf in das Opernhaus.
"Trödeln sie nicht so herum!" ruft Herr Möller uns zu, als er sieht, das wir gerade erst die Treppe herauf kommen.
"Wir kommen ja schon." beschwichtigend lächele ich ihm zu, aber eigentlich würde ich ihm viel lieber die Meinung sagen.
Wir sind immerhin nicht freiwillig hier, da könnte er auch ruhig mal ein kleines bisschen freundlicher sein. Und etwas Verständnis zeigen, dafür, dass jemand nicht so versessen darauf ist, seine Musik einem Publikum zu präsentieren.
Doch da würde ich bei Herrn Möller wohl auf Granit beißen, so gleichgültig steht er meinen Bedenken gegenüber.
Bevor ich das Haus durch die weit geöffnete Tür betrete, atme ich noch einmal tief durch, dann werfe ich Kim einen aufmunternden Blick zu. Ich drücke noch einmal ihre Hand, dann ziehe ich sie hinter mir in das Gebäude.
Ich kann nur hoffen, das mich dieses Monster, dass das Opernhaus für mich darstellt, Lebend wieder ausspuckt und mich nicht mit Haut und Haaren verspeist, bevor der Abend beendet ist.
Die Wände im inneren sind weiß und wunderschön mit Goldenen Farben verziert. Überall hängen Kronleuchter und an der Decke ist der Raum mit üppigen Stuckornamenten verziert.
Noch eben kam ich mir in meinem Kleid ziemlich fehl am Platz vor, aber hier drinnen, hätte ich mich in meinen normalen Klamotten mindestens genauso falsch gefühlt wie draußen in dem Kleid.
Fasziniert folgen wir Herrn Möller durch den großen Saal, bis zu einer Tür, mit der Aufschrift "Backstage" vor der ein Mann, in einem schwarzen Anzug steht, der verdächtig nach einem Türsteher aussieht.
"Guten Abend." grüßt Herr Möller ihn und hält ihm einen Zettel hin, woraufhin der Mann, sein Bewachungsobjekt öffnet und uns hindurch lässt.
Aufmerksam mustert er uns, ansonsten verzieht er keine Mine, wofür ich ihm am liebsten die Zunge rausgestreckt hätte, aber dann lasse ich es doch lieber. Immerhin will ich hier keinen Ärger bekommen.
Hinter der Tür ist ein Gang, dem wir folgen. Er kommt mir unheimlich lang vor, aber schneller als mir lieb ist, sind wir schon an unserem Ziel angelangt.
Wir befinden uns in einem Raum, wo einige Stühle an den Wänden stehen, und vor uns kann ich einen schmalen, mit einem Vorhang versehenen Durchgang erkennen, über dem ein Schild mit der Aufschrift "Bühneneingang 1" hängt.
Ach herrje!
Jetzt sind wir also am Ort des Geschehens. Kim lässt meine Hand los und setzt sich auf einen der Stühle, auf die Herr Möller deutet, doch ich muss erst einen Blick hinter den Vorhang werfen, hinter dem sich meine persönliche Hölle befindet.
Und was ich sehe, ist noch schlimmer als ich befürchtet habe.
Hinter der Bühne, auf der lediglich ein großer Flügel steht oder sollte ich sagen davor? Naja, auf jeden Fall dort, wo die Zuschauer sitzen werden, befinden sich Reihe um Reihe an Sitzen. Eine Hinter der Anderen und das auf mehreren Ebenen.
Keine Ahnung, wie viele Leute hier drin Platz finden, aber es müssen mindersten eintausend sein!
Und was das schlimmste ist, die ersten sind schon da. Noch während ich hier stehe und in den Zuschauerraum schaue füllen sich allmählich die Reihen. Mann um Mann, Frau um Frau, ein Mensch nach dem Anderen strömt in den Saal und sucht sich seinen Platz.
Und umso mehr Menschen den Zuschauerraum betreten, desto lauter wird es und um so schneller schlägt mein Herz.
Ich kann da nicht raus! Schießt es mir durch den Kopf.
Das wusste ich eigentlich auch schon, bevor ich hier her gekommen bin! Ich hätte gar nicht hier her kommen sollen!
Von Panik erfasst, weiche ich vor dem Eingang zurück. Immer weiter, bis ich den Gang erreiche, der zum Ausgang führt, doch bevor ich mich umdrehen und flüchten kann, hält mich Herr Möller auf.
"Frau Mendéres! Kommen sie her!" fordert er mich streng auf.
Er steht vor einer Reihe von Stühlen, auf der inzwischen nicht nur Kim, sondern auch die Anderen platzgenommen haben und schaut mich auffordernd an.
Mein Blick huscht noch einmal zum rettenden Ausgang, doch als ich zu Herrn Möller blicke, hinter dem Kim mit flehendem Blick zu mir herüberschaut und auf den noch freien Stuhl neben sich deutet, kann ich nicht anders, als zu ihr zu gehen.
Mit weichen Knien lasse ich mich auf den Stuhl fallen und nehme ihre Hand. Sie drückt meine leicht, ganz als wolle sie nun mir Mut zusprechen, doch vielleicht sucht sie auch nur Trost, wer weiß, doch ich erwidere ihren Händedruck und lächele ihr aufmunternd zu, dabei fühle ich mich nicht wirklich zuversichtlich.
"Hören sie zu." beginnt Herr Möller. "Sie sind der Erste Herr Schmidt, dann kommt Frau Premus. Anschließend bist du dran Kim und im Anschluss daran sie Frau Mendéres. Herr Albig, sie sind der Vorletzte und ganz zum Schluss sind dann sie dran Frau Klogge." verkündet mein Lehrer und deutet nacheinander auf uns, die wir hier alle mehr oder weniger nervös vor ihm sitzen, doch keiner scheint sich solche Sorgen zu machen, wie Kim und ich.
Die Angesprochenen nicken jeweils kurz, als ihr Name fällt, doch scheinen sie dies nicht zum ersten Mal zu machen, denn sie wirken recht gefasst, ganz im Gegensatz zu mir.
Noch immer würde ich am liebsten so schnell wie möglich von hier verschwinden, doch ich möchte Kim auch nicht im Stich lassen und so muss ich wohl oder übel hier bleiben.
Immerhin bin ich nicht die Erste, das ist doch schon mal was. Wobei ich so noch mehr Zeit habe mir meinen nahenden, Gesellschaftlichen Tod in allen Einzelheiten vorzustellen.
Und auch wenn ich eigentlich eine nicht allzu ausgeprägte Phantasie habe, kann ich es nicht verhindern, das mir die schrecklichsten Bilder durch den Kopf schießen.
Als der Junge, den Herr Möller, Herr Schmidt genannt hat aufsteht und unruhig hinter dem Vorhang Aufstellung nimmt, sehe ich mich an seiner Stelle stehen. Wie ich versuche durch den Vorhang zu treten und mich in dem weichen Stoff verheddere. Es dauert nicht lange und der Folterknecht (Herr Möller) gibt ihm ein Zeichen und er verschwindet hinaus auf die Bühne. Applaus brandet auf, der meine Eingeweide verknotet.
Verdammt! Jetzt sind nur noch zwei Leute vor mir. Ich spüre, wie Kim neben mir zu Zittern beginnt und sich krampfhaft an meine Hand klammert.
Beruhigend beginne ich sie mit dem Daumen zu streicheln.
Aber gleichzeitig brauche ich auch Trost, den mir das Mädchen aber nicht geben kann und so hole ich mein Handy hervor und schicke Ian eine Nachricht.
"Ich wünschte, du wärst hier."
Schreibe ich ihm.
"Tut mir Leid, das ich nicht mehr da war, nachdem du den Wagen weggebracht hast, aber Herr Möller ließ mich nicht warten."
Fast augenblicklich kommt seine Antwort.
"Im Herzen bin ich bei dir, Engelchen. Du schaffst das!"
Ja, da hat er recht, im Herzen ist er bei mir. Er wird immer bei mir sein. In meinem Herzen wird er sein, solange ich Lebe und wenn ich das hier überlebe, schwöre ich, dass ich mich nie wieder zu so etwas bereit erklären werde, das ist doch Wahnsinn! Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich dem zugestimmt habe!
Aber Moment! Ich habe mich ja schon zu einem weiteren Konzert bereit erklärt.
Schmerzhaft kneife ich die Augen zusammen, als mir die weihnachtliche Wohltätigkeitsveranstaltung der Schule wieder in den Sinn kommt.
Worauf habe ich mich da nur eingelassen. Ich kann nur hoffen, dass Frau Wolf sich nicht mehr daran erinnert und das Herr Möller nicht noch weitere böse Überraschungen parat hat, bevor das Jahr zu Ende ist.
Als die erste Darbietung vorüber ist und der junge Mann zu uns zurückkommt, steht ein Mädchen am Ende der Stuhlreihe auf und stellt sich vor den Vorhang, doch als sie auf die Bühne hinaustritt, beginnt Kim neben mir zu weinen.
"Hey!" flüstere ich ihr zu. "Was ist denn?" tröstend nehme ich sie in den Arm.
"Ich kann das nicht!" schluchzt sie verzweifelt. "Ich kann da nicht raus gehen."
Ich weiß nur zu gut, wie sie sich fühlt, aber ich fürchte, sie wird sich ebenso wenig wie ich, vor der Sache drücken können.
"Wollen wir zusammen rausgehen?" frage ich leise und werfe einen kurzen Blick zu Herrn Möller, der mit dem Rücken zu uns, in der Nähe des Bühneneingangs steht. Er würde dem Sicher nicht zustimmen, aber ich finde die Idee eigentlich gar nicht so schlecht, denn dann müsste auch ich nicht allein auf die Bühne gehen.
"Würdest du wirklich mitkommen?" fragt Kim hoffnungsvoll.
"Ja, aber ich kann nicht einfach so mit kommen, das sieht irgendwie komisch aus. Findest du nicht?"
Zustimmend nickt sie mir zu und schaut wieder ziemlich betrübt zu Boden.
"Aber wenn wir was zusammen spielen würden, würde jeder denken, dass das so geplant war." werfe ich ein. "Kennst du etwas, das man auch zu zweit spielen kann? Also vierhändig?"
Zweifelnd schüttelt sie langsam den Kopf, doch dann hellt sich ihre Miene auf.
"Doch! Kennst du den "Tanz der Zuckerfee" von Tschaikowsky?" fragt sie begeistert, doch da ich den Zuletzt gespielt habe, als ich zehn war, muss ich sie leider enttäuschen.
"Ja, den kenn ich, aber ich habe das Stück schon seit sechs Jahren nicht mehr gespielt. Ich fürchte, ich erinnere mich nicht mehr so gut daran." sage ich bedauernd, doch dann fällt mir noch etwas ein, was zwar so gar nicht zu der Jahreszeit passt, aber woran ich mich deutlich besser erinnere und was man auch zu zweit gut spielen kann.
"Sag, mal, kennst du "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel"?" Als sie lächelnd nickt, füge ich hinzu. "Gut genug um es vorzuspielen?"
"Ja. Das spiele ich total gerne, weil ich den Film so mag." versichert sie mir.
"Dann lass uns das doch vortragen, was meinst du?"
"Ja, Okay" stimmt sie lächelnd zu, doch als Herr Müller sie auffordernd anschaut, damit sie sich bereitmacht, flüstert sie ängstlich. "Meinst du er erlaubt es?"
"Lass mich nur machen, dann hat er keine andere Wahl." verspreche ich ihr und drücke zuversichtlich ihre Hand, auch wenn ich selbst noch nicht weiß, wie ich das anstellen soll.
Als die Musik erstirbt winkt Herr Möller Kim zu sich, doch anstatt sie loszulassen gehe ich mit ihr gemeinsam zu ihm und stelle mich mit ihr hinter den Vorhang.
"Was wird denn das?" will er wissen.
"Ich setzt mich gleich wieder." versichere ich ihm ehrlich, nur das ich damit meine, wenn ich fertig bin und nicht, wenn Kim rausgeht, aber das braucht er ja nicht zu wissen.
Als das Mädchen zu uns kommt nicke ich Kim noch mal zu, dann gehen wir beherzt los und ehe uns Herr Möller aufhalten kann, sind wir auch schon draußen.
Tja, und was soll ich sagen, es ist schlimmer als erwartet.
Der Raum ist bis auf den letzten Platz gefüllt, doch da die Scheinwerfer direkt auf uns gerichtet sind, kann ich kaum etwas sehen.
Entsetzt bleibe ich kurz stehen, doch jetzt ist Kim diejenige, die mich weiter zieht.
Vor uns steht der Flügel unschuldig im Rampenlicht und wenn ich ihn so ansehe, könnte ich fast böse auf ihn sein, denn er ist schuld daran, dass ich hier bin, doch eigentlich bin ich froh, dass er da ist, denn ich weiß, was ich an ihm habe, und was er mir bedeutet.
Und was auch immer all diese Leute hier hergebracht hat, sie teilen die Liebe zu diesem Instrument und das verbindet uns.
Langsam gehen wir zum Flügel, davor bleiben wir kurz stehen und verbeugen uns vor den Zuschauern, dann setzen wir uns auf die Klavierbank.
Als der Applaus verebbt, nicken wir uns kurz zu, dann beginnen wir zu spielen.
Zusammen ist es viel einfacher, weil keiner von uns ganz allein für die Musik verantwortlich ist, doch als wir das Stück beenden flüstere ich Kim auffordernd zu.
"Und jetzt du allein." ich rutsche etwas zur Seite damit sie genug Platz hat und drehe mich um, damit keine Unklarheit entsteht, wer hier für die Darbietung verantwortlich ist, doch was ich dann zu hören bekomme versetzt mich in Erstaunen.
Kim spielt so sicher und schön, wie ich es selten gehört habe. Sie verspielt sich nicht ein einziges Mal und auch der Takt ist aufs I -Tüpfelchen genau. Ich kann nur hoffen, dass ich meinen Teil der Vorstellung auch nur ansatzweise so Bravourös meistere, wie die kleine.
Als sie ihr letztes Stück beendet hat tut sie es mir gleich und dreht sich auf dem Hocker um, dann flüstert sie mir zu. "Und jetzt du." sie lächelt mich an und ich muss auch lächeln, da sie mir die gleichen Worte gesagt hat, wie ich ihr, vor wenigen Minuten.
Aufatmend drehe ich mich um und versuche meine Gedanken zu sammeln, dann beginne ich mit klopfendem Herzen zu spielen. Versuche die Menschen auszublenden, die hinter dem Licht sitzen, und die ich eigentlich nicht einmal sehen kann, weil es mich so blendet.
Und das ist es eigentlich, was mir am meisten hilft. Das Licht, das die Menschen verschluckt, das sie unsichtbar macht und mich mit Kim und dem Piano in einem Raum allein lässt, in dem es nur uns beide gibt und wo ich glauben kann, das ich nur für sie spiele und nicht für annähernd Tausend Menschen, die außerhalb meines Sicht- und Gedankenfeldes liegen.
Ich blende sie aus, beziehungsweise das Licht tut es für mich und so fällt es mir beinahe zu leicht meine drei vorbereiteten Stücke zu spielen und wenn Kim mich nicht aus meiner Versunkenheit gerissen hätte, in dem sie nach dem dritten Stück aufsteht, hätte ich vermutlich einfach weiter gespielt.
Doch so stehe ich ebenfalls auf und folge ihr nach einer kleinen Verbeugung hinaus. Runter von der Bühne und raus aus dem Rampenlicht. Wo uns ein ziemlich schlecht gelaunter Herr Möller in Empfang nimmt.
"Setzten!" fordert er ungehalten, doch da Kim und ich Lebend aus der ganzen Angelegenheit, und ich meine nicht Herrn Möller, sondern das Vorspiel, herausgekommen sind, kann ich mir ein erleichtertes Grinsen nicht verkneifen.
Kim hingegen schaut ziemlich bedrückt als wir uns wieder auf unseren Stühlen niedergelassen haben.
"Kopf hoch." versuche ich sie aufzuheitern, "Er wird uns schon nicht den Kopf abreißen."
Und so ist es dann auch, als wir endlich alle fertig sind und wir noch einmal gemeinsam auf die Bühne gegangen sind um einen letzten Applaus zu ernten, ist sein Ärger längst verraucht, doch ganz ungeschoren, sollte ich dennoch nicht davon kommen.
Wir stehen vor der Oper und ich habe mich bereits von Kim verabschiedet als er mich zur Seite nimmt.
"Das vorhin war sicher nett gemeint, Frau Mendéres, aber wem auch immer sie damit helfen wollten, das nächte mal werden sie sicher nicht so ein Glück haben und jemanden finden, der sie auf die Bühne begleitet und Kim auch nicht. " tadelt er mich milde.
"Ja. Herr Möller." nehme ich seine Kritik hin, doch um ehrlich zu sein, bin ich für heute froh, dass ich den Abend relativ unbeschadet überstanden habe.
"Sie wissen wie sie nach Hause kommen?" erkundigt sich mein Lehrer bei mir.
"Ja, mein Freund wird sicher jeden Moment kommen und mich abholen. " erkläre ich zuversichtlich.
"Gut, dann sehen wir uns zur gewohnten Zeit in Schloss Hohenfels wieder. Ihnen noch einen schönen Abend." wünscht er mir.
"Vielen, Dank, das wünsche ich ihnen auch." ich nicke ihm noch einmal zu, dann ist er Weg. Auch Kim und die Jugendlichen sind in einen Kleinbus gestiegen, der sich gerade auf den nach Hause weg macht. Ich winke dem Auto nach, bis es meinen Blicken entschwunden ist.
Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, aber es ist schon ganzschön dunkel, was heißt, das es bestimmt schon nach neun sein muss.
Seltsam, das Ian noch nicht da ist. Ich hatte gehofft, das er bereits hier draußen auf mich warten würde.
Ich ziehe mein Handy aus der Handtasche und schreibe ihm eine Nachricht.
"Ich lebe noch. Holst du mich ab?"
Irritiert starre ich auf mein Telefon, aber es kommt keine Antwort. Ich setzte mich auf eine Bank und warte, doch als auch nach einer halben Stunde keine Reaktion von ihm kommt werde ich langsam unruhig.
Wo kann er nur sein?
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