Allein zu Hause

Aber eigentlich wurde gar nichts besser. Eher schlechter.

Auch wenn ich mich oft mit Mel traf, wir Eis essen und ins Kino gingen, durchs Shoppingcenter tingelten und sie auf jede erdenkliche Art versuchte mich aufzumuntern, trieb mich Mikes schweigen in den Wahnsinn.

Inzwischen hatte ich ihm unzählige Nachrichten geschrieben und ich weiß nicht, wie oft versucht ihn anzurufen. Aber nichts! Niente! Narda! Nicht eine Reaktion kam von ihm.

Und irgendwie wusste ich nicht, was ich machen sollte.

Mir blieben nur noch ein paar Tage, dann musste ich ins Internat zurück.

Soviel zu dem Thema "Dinge klären"

In den ein eineinhalb Wochen Ferien, die ich bereits hinter mir habe, konnte ich gar nichts klären.

Nur das Verhältnis zu meinen Eltern besserte sich immer mehr.

Pascal wurde mit jedem Tag, den ich zu Hause war freundlicher und er war auch nicht mehr so gereizt, wenn ich mit Mel weg ging.

Scheinbar fing er langsam wieder an mir zu vertrauen. Ich gab ihm aber auch keinen Grund es nicht zu tun.

Ich war immer pünktlich zu Hause, stellte nichts Dummes an spielte oft Klavier und kam auch nie betrunken nach Hause, wenn ich mal wegging. Und da Mel oft bei mir war, konnte er sich auch davon überzeugen, dass sie ein wirklich toller Mensch war.

Ehrlich, zuverlässig und nett und überhaupt nicht kriminell, denn dafür hielt er meine Freunde ja bekanntlich.

Ich würde zwar nicht so weit gehen zu sagen, das er sie gern hatte, aber immerhin akzeptierte er, das ich es tat und das war schon ein großer Schritt.

Aber um so weiter die Ferien fortschritten, desto trauriger wurde ich. Langsam zog ich mich in mein Schneckenhaus zurück, aus dem mich Mike vor zwei Jahren und Ian vor zwei Monaten gelockt hatte, doch ohne sie, war ich verloren.

Da konnte nicht einmal Mel etwas dran ändern.

Ich vermisste meine "Jungs" einfach viel zu sehr.

Mikes Lachen. Seine unbeschwerte Art, seine Unbekümmertheit. Seinen Charme und seine breiten Schultern, in denen ich mich immer so wohl gefühlt hatte.

Doch mit jedem Tag, der verging vermisste ich auch Ian immer mehr. Vor allem da ich von Mike kein Lebenszeichen erhielt.

Nachts träumte ich von ihm und wünschte mir er wäre hier. Könnte mich in den Arm nehmen und mir versichern, das alles gut werden würde. Seine Ruhige Art, wie er meine Entscheidungen akzeptiert, sein Vertrauen in mich und das ich das richtige tue, auch wenn es bedeuten würde von mir getrennt zu sein, erwecken in mir den Wunsch genau das nicht zu sein. Getrennt von Ian.

Ich wünschte fast er wäre hier.

Heute ist Mittwoch. Nur noch vier Tage, die ich überstehen muss. Vier Tage, bis ich ins Internat zurück muss.

Vier Tage, bis ich all dem hier, was mich an Mike erinnert endlich entfliehen kann!

Antriebslos liege ich in meinem Bett und starre an die Decke.

Mel hat keine Zeit, Mara und Pascal sind zur Arbeit. Nur ich liege hier und tue gar nichts.

Ich male nicht, ich spiele nicht Klavier, ich laufe auch nicht, ich lese nicht einmal und höre auch nicht Musik.

Ich tu gar nichts.

Nur an die Decke starren, wenn man das denn etwas "Tun" nennen kann.

Eigentlich habe ich Durst und auf die Toilette muss ich auch schon seit einer gefühlten Ewigkeit, aber mir fehlt die Kraft mich aufzurichten.

Doch langsam wird der Druck übermächtig. Ich presse die Beine zusammen, um noch nicht gehen zu müssen, aber ich halte es nicht länger aus und so stehe ich auf und Schlurfe hinüber ins Bad.

Ein Blick in den Spiegel zeigt mir, was ich schon befürchtet habe.

Ich sehe so richtig scheiße aus.

Angewidert strecke ich mir die Zunge raus, dann erledige ich, was ich zu erledigen habe und weil ich schon mal hier bin, bringe ich auch meine Haare in Ordnung und wische mir die verschmierte Mascara aus dem Gesicht.

Aber ich schminke mich nicht neu. Wozu auch, wenn ich den restlichen Tag im Bett verbringen werde.

Es ist kurz nach Mittag, als ich in mein Zimmer zurückkehre. Und da ich noch immer meinen Schlafanzug trage schaue ich mir die Klamotten, die im ganzen Zimmer verstreut auf dem Boden liegen an, um etwas bequemeres oder wenigstens etwas Alltagstauglicheres zu finden.

Aber auch nach einer halben Stunde wird mir klar, das alles was hier liegt dreckig oder nicht dem entspricht, was ich suche.

Und weil ich mir eigentlich vorgenommen habe nicht mehr so unordentlich zu sein, nehme ich die Sachen und bringe sie in die Wäsche.

Ach, was solls! Wenn ich sie schon bis zur Waschmaschine habe tragen können, dann kann ich sie auch gleich waschen.

Schnell schmeiße ich die Maschine an. Mara wird sich freuen. Wenigstens was.

Zurück in meinem Zimmer, stehe ich ratlos da. Ob ich den Rest auch aufräumen soll? Warum nicht? Wenn mein Zimmer ordentlich ist, vielleicht fühle ich mich dann auch etwas besser.

So wie ich es immer schön fand wenn Mara für mich aufgeräumt hat, wenn ich nach hause kam.

Und wenn ich mich schon nicht darüber freuen kann, wenn ich selbst für mich aufräume, so wird sie sich vielleicht darüber freuen, wenn sie von der Arbeit kommt.

Nachdem ich mit meinem Zimmer fertig bin, mache ich in der Küche weiter. Das ich mir etwas anderes Anziehen wollte habe ich ganz vergessen und so schleppe ich mich im Schlafanzug durchs Haus.

Räume die Spülmaschine aus und wieder ein. Lege die Bücher im Wohnzimmer auf ihren Platz ins Regal zurück, stapel die Zeitschriften wische Staub und sauge den Boden. Zu guter Letzt schiebe ich noch die Wäsche in den Trockner. Doch dann ist alles erledigt.

Mara ist viel zu ordentlich, als das viel liegen bleiben würde.

Erneut stehe ich unschlüssig in meinem Zimmer. Und jetzt?

Mein Blick schweift zwischen dem Kleiderschrenk und dem Bett hin und her.

Eigentlich kann ich auch wieder schlafen gehen. Aber auf dem Weg zum Bett ändere ich meine Meinung.

Ich öffne den Schrank und wühle darin herum, bis ich eine meiner alten, schwarzen schlabbrigen Pullover gefunden habe und eine schwarze schlabbrige Jeans. Doch ich kann meine Jacke einfach nicht finden.

Ich meine nicht die von Lotta, meiner Mutter, denn die hängt unten an der Garderobe, sondern meine Alte, die ich früher immer getragen habe.

Immer tiefer wühle ich mich in meinen Schrank, bis meine Finger auf etwas stoßen, an das ich schon gar nicht mehr gedacht habe.

Ians Jacke!

Kraftlos sinke ich zu Boden und presse das Stück Leder an meine Brust.

Was soll ich nur tun? Eine hilflose Träne rinnt an meiner Wange hinab und ich wische sie mit Ians Jacke beiseite. Ich vergrabe mein Gesicht in ihr, um wenigstens seinen Geruch einatmen zu können, aber die Jacke riecht nicht mehr nach ihm. Zu lange schon liegt sie in diesem Schrank. Trotzdem ziehe ich sie an und kuschele mich hinein.

Sie ist viel zu groß, natürlich, aber nichts desto trotz gibt sie mir halt. Tröstet sie mich.

Fast kann ich seine Arme spüren, wie sie mich halten, wie seine Hände mir tröstend über den Rücken und das Haar streichen und fast kann ich seine Stimme hören, die sanft und weich in mein Ohr flüstert.

"Ich will nur, dass du glücklich bist."

Glücklich? Bin ich glücklich? Nein, vom glücklich sein, bin ich weit entfernt. Eigentlich bin ich ziemlich Unglücklich.

Verzweifelt, wäre vielleicht auch eine gute Beschreibung für meine derzeitige Situation.

Aber ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll. Was habe ich denn früher gemacht, wenn ich traurig und verzweifelt war?

In neuster Zeit, bin ich immer gelaufen und habe Klavier gespielt, aber zum Laufen habe ich heute keine Kraft. Und was ist mit Klavierspielen?

Ja, warum nicht!

Noch immer in Ians Jacke gehüllt gehe ich nach unten ins Wohnzimmer, wo ich mich ans Klavier setzte und zu spielen beginne, aber schon nach einer halben Stunde gebe ich genervt auf. Nein! Das hilft mir auch nicht weiter. Löst nicht meine Probleme und jetzt?

Unschlüssig stehe ich vor dem Fenster und schaue hinaus.

Der Himmel hängt voller Wolken aber es regnet nicht. Und ein Blick aufs Thermometer zeigt mir auch, das es mit knappen elf Grad nicht besonders kalt ist. Ob ich raus gehen soll? Früher bin ich immer in den Park gegangen, habe mich dort am See auf die Bank gesetzt und habe Musik gehört.

Ob ich das tun soll? Einfach ein bisschen in der Gegend rumgammeln?

Eigentlich habe ich mich noch gar nicht richtig entschieden, als ich schon meine Schuhe anziehe und für Mara eine Nachricht hinterlasse.

Bin spazieren.

Dann gehe ich nach draußen. Meine Füße tragen mich wie von selbst den vertrauten Weg. Die Straße entlang, bis zur Kreuzung, dann über die Fahrbahn auf die andere Seite. Der Verkehrslärm ist nicht allzu laut, trotzdem raubt er mir den letzten Nerv und so stöpsele ich meine Kopfhörer ein.

Laute Musik erfüllt meinen Kopf und bringt für eine Zeitlang sogar meine Gedanken zum verstummen.

Im Park angekommen setzte ich mich auf die mir so vertraute Bank.

Auf die selbe Bank, auf der mich Mike vor so langer Zeit zum ersten mal angesprochen hat.

Auf die selbe Bank, auf der er mir das Kleid geschenkt hat.

Auf die selbe Bank, wo wir immer zusammen gesessen haben, wenn wir allein sein wollten.

Doch heute bin nur ich auf dieser Bank.

Hin und wieder geht jemand vorbei. Mal ist es eine Mutter mit einem Kinderwagen, dann ein Mann mit seiner Tochter auf den Schultern. Aber hauptsächlich sind es Leute mit Hunden.

Kleine Hunde, große Hunde. Hunde mit langem Fell und Hunde mit kurzem Fell, mit langen oder platten Nasen. Steh Ohren und Schlappohren. Diesen Menschen bleibt ja auch nicht viel übrig als raus zu gehen, wegen der Hunde. Sie müssen vor die Tür, ganz gleich wie das Wetter ist. Und das sieht wirklich nicht besonders einladend aus.

Lange sitze ich auf "meiner" Bank und wünsche mir, das genau wie damals, sich jemand neben mich setzt und das dieser jemand Mike ist.

Aber auch nach über zwei Stunden sitze ich noch immer allein auf dieser Bank und langsam wird mir kalt.

Fröstelnd ziehe ich Ians Jacke enger um mich und stehe auf. Gehe langsam den Weg am See entlang zum Ende des Parks.

Ich komme an Bäumen vorbei, an Büschen und Sträuchern, Hecken, Laternen und Bänken.

Die meisten sind leer, nur ganz selten hat sich ein einsamer Spaziergänger auf eine von ihnen verirrt. Und auf einer liegt ein Penner und schläft seinen Rausch aus.

Mitleidig gehe ich an ihm vorbei. Was hat den armen Kerl nur hier her verschlagen. Ob er kein zu Hause hat? Oder ob er dort nur nicht hin will?

Ich habe mich schon immer gefragt, was diese Menschen dazu treibt immer betrunken zu sein. Sich das Hirn wegzuschießen, nur damit sie nicht mehr spüren, was sie bedrückt.

Ob manche Menschen auch ganz ohne Grund trinken? Einfach nur so? Aus lange Weile? Oder gibt es immer einen Grund?

Vermutlich würden die Betroffenen sagen, dass sie einen Grund haben, auch wenn es keinen geben würde, nur damit sie eine Ausrede haben. Oder sie würden einfach abstreiten, das sie Alkoholiker sind und trinken.

Ohne es bemerkt zu haben bin ich stehen geblieben und starre den Mann auf der Bank nachdenklich an. Und wie ich hier so stehe und ihn beobachte, kommt er mir irgendwie bekannt vor.

Die blonden Haare, unter der Jacke, die er bis zu den Ohren hochgezogen hat, kommen mir sehr bekannt vor, auch wenn sie strähnig und ungepflegt sind. Viel zu lang außerdem. Und auch die Form seiner Schultern ist mir irgendwie vertraut.

Unsicher nähere ich mich ihm. Mein Herzschlag beschleunigt sich, so aufgeregt bin ich.

Was, wenn ich mich irre? Was, wenn der Mann auf der Bank nicht der ist, für den ich ihn halte?

Wenn es ein fremder ist und nicht Mike.

Vielleicht sollte ich dann erleichtert sein. Ja das sollte ich wirklich, denn ich möchte nicht, das Mike volltrunken auf irgendeiner Parkbank schläft, ganz gleich aus welchen Gründen. Und das der Mann getrunken hat, das weiß ich inzwischen mit Bestimmtheit, denn inzwischen bin ich ihm so nah, das ich es riechen kann.

Unsicher stehe ich vor der Bank. Meine Hand schwebt unsicher über der Schulter des Mannes und alles in mir sträubt sich dagegen ihn zu berühren, doch wenn ich es nicht tue, werde ich nie erfahren, ob es Mike ist.

Also nehme ich all meinen Mut zusammen und schüttele ihn leicht.

"Hey!" sage ich leise. "Wach auf!"

Der Mann dreht sich auf den Rücken und wäre fast von der Bank gefallen, doch im letzen Moment rutscht er wieder etwas weiter auf die Bank, so das er oben bleibt.

Doch mir bleibt die Luft weg,

Es ist tatsächlich Mike! Aber ich erkenne ihn kaum wieder! Sein Gesicht ist eingefallen. Um seinen Mund sprießt ein ungepflegter Bart und seine Wangen sind schmutzig. Wie eigentlich alles an ihm.

Seine Kleidung, seine Haare, sein Gesicht, seine Hände. Einfach alles.

Trotzdem nehme ich seine Hände in meine. Sie sind eiskalt.

"Mike! Wach auf." sage ich verzweifelt. Ich hab solche Angst um ihn. Er ist mein Freund, ich liebe ihn und ich möchte nicht, das es ihm schlecht geht. Warum ist er hier? Warum liegt er auf dieser Bank, in diesem Park und ist nicht zu Hause in seiner Wohnung?

"Mike!" sage ich noch mal, weil er nicht reagiert. "Ich bins Mia! Bitte wach auf!"

"Mia?" nuschelt er schlapp "Kenn keine."

"Hey!" fahre ich ihn an. "So redest du nicht mit mir!"

Was fällt ihm eigentlich ein! Seit über einer Woche meldet er sich nicht bei mir und jetzt muss ich ihn auch noch volltrunken hier auf dieser Parkbank finden! Wenn ich nicht so erleichtert wäre, ihn überhaupt gefunden zu haben, dann würde ich ihm jetzt eine runter hauen. Aber vielleicht ist es ja genau das, was er braucht!

Immerhin war es das, was ihn am meisten an mir beeindruckt hat, als wir uns kennen lernten, zumindest hat er mir das gesagt.

Und so tue ich, wonach mir am meisten zu Mute ist.

"Verdammt! Du Idiot! Steh jetzt auf und sieh mich an!" brülle ich und lasse meine Faust kräftig auf seine Brust fahren.

"Was fällt dir eigentlich ein? Hier rumzuliegen, am helllichten Tag und dann auch noch besoffen!? LOS! Hoch jetzt!"

Und endlich! Endlich kommt Leben in ihn.

"Lass das!" brummt er ärgerlich und schlägt die Augen auf. "Was fällt dir ein..." beginnt er noch, dann verstummt er schlagartig. Seine Augen werden groß und ein kleines Lächeln erscheint in seinem Gesicht.

Mein Lächeln, das Lächeln, das ich so liebe, das nur für mich ist.

Ungläubig streckt er die Hand nach mir aus und zieht sie ruckartig wieder zurück, als er mein Gesicht berührt.

"Du bist wirklich hier?!" stellt er verdutzt, mit schwerer Zunge fest.

"Ja, ich bin wirklich hier." bestätige ich ihm.

"Ich dachte ich träume. So oft habe ich von dir geträumt, aber nie warst du da. Und jetzt..."

"Jetzt bin ich hier." versichere ich ihm und nehme seine Hand in meine. "Siehst du."

"Ja." wieder lächelt er mich an, dann zieht er mich plötzlich in seine Arme. "Ja!" sagt er erleichtert. "Ja, du bist da! Bei mir! Meine Mia!"

Ich bin so gerührt, wie sehr er sich darüber freut, mich zu sehen. Ich hatte solche Angst, aber jetzt ist er hier, bei mir und er ist froh mich zu sehen.

"Was machst du hier Mike?" will ich mit brüchiger Stimme wissen. "Warum liegst du im Park auf der Bank und bist nicht zu Hause und warum gehst du nicht ans Telefon?"

"Ich weiß nicht wo mein Telefon ist. Und in meiner Wohnung war ich schon länger nicht mehr." sagt er gleichgültig.

"Was?!" frage ich verwundert. "Warum gehst du denn nicht nach Hause?"

"Ich hab den Schlüssel verloren. Glaub ich."

"Aber ich hab doch noch einen von dir, du hättest doch nur was sagen müssen."

"Wie denn, hab doch kein Telefon." er lächelt entschuldigend, was ihm von mir einen Stoß mit der Faust einbringt. "Du weißt wo ich wohne! Also komm mir nicht so!" schimpfe ich.

"Aber du warst doch nicht da!" gibt er zu bedenken. "Also wie sollte ich denn..."

"Aber meine Eltern waren da und auch ich bin seit eineinhalb Wochen wieder da. Und wenn du nicht klingeln wolltest, dann hättest du doch auch einen Brief in den Kasten stecken können. Aber einfach auf der Bank schlafen! Und hast du noch nie von einem Schlüsseldienst gehört!" ich bin ganzschön geladen, aber eigentlich bin ich nicht böse, nur unheimlich erleichtert.

Während ich vor mich hin Schimpfe grinst Mike mich nur bewundernd an. "Wie ich dich vermisst habe." unterbricht er irgendwann meinen Monolog und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.

"Ich hab dich auch vermisst." sage ich ehrlich und schmiege mich in seine Arme. Ja, ich habe ihn wirklich vermisst. "Komm!" sage ich und mache mich von ihm los, nur um ihn bei der Hand zu nehmen. "Wir holen jetzt deinen Schlüssel und dann gehen wir zu dir nach Hause. Du brauchst dringend eine Dusche und was vernünftiges in den Magen. Du siehst echt scheiße aus." lächele ich verschmitzt.

"Danke, da hast du sicher Recht. Gut das wenigstens einer von uns gut aussieht."

Langsam verlassen wir den Park, wobei Mike ziemlich unsicher auf den Beinen ist. Und so lege ich mir seinen Arm um die Schultern und stütze ihn.

Als wir zu Hause ankommen steht gottseidank nur Maras Auto in der Einfahrt.

"Mum? Ich bin wieder da!" Rufe ich durch den Flur. Dann " Warte kurz hier ja?" bitte ich Mike. Er lehnt sich von innen an die Tür und schließt die Augen. Er sieht echt fertig aus. Seine Lippen sind blau, seine Gesicht blass. Die Augen glanzlos und trübe. Von dem Menschen, den ich damals kennen gelernt habe ist nicht mehr viel übrig. Aber ich hoffe, das eine anständige Mahlzeit, ein warmes Bett und eine Dusche seine Lebensgeister wieder etwas wecken werden.

"Mum?" rufe ich noch mal, doch statt einer Antwort kommt Mara höchstpersönlich aus der Küche in den Flur.

Shit! Ich hatte gehofft, das sie Mike nicht zu Gesicht bekommt.

Aber so ist es nun halt, kann ich auch nichts dran ändern.

"Wie war dein...?" setzt sie lächelnd an, doch als sie Mike sieht schnappt sie mein Hand und zerrt mich aus seiner Reichweite, ihre Augen sind vor Schreck geweitet.

"WER IST DASS!?" fragt sie entsetzt.

"Das ist Mike, Mum. Du kennst ihn doch." sage ich beruhigend.

"Ja... Aber... wieso... was..." stammelt sie.

"Beruhige dich, alles ist gut. Ich wollte nur seinen Schlüssel holen, er hat seinen verloren und kann nicht nach Hause." erkläre ich ihr. "Wir sind gleich wieder weg."

"Wir?" will sie wissen. "Was heißt hier wir?! Du gehst nicht mit ihm mit!" sagt sie entsetzt.

Beruhigend lege ich meine Hand auf ihren Arm.

"Mara, bitte. Er braucht mich jetzt." sage ich um Verständnis heischend.

"Mir ist völlig egal, was er braucht, du gehst nicht mit ihm mit!" sagt sie bestimmt und zieht mich noch weiter von ihm weg.

"Mum bitte!" bettele ich. Ich möchte meine Trumpfkarte eigentlich nicht ausspielen, aber wenn ich sie so nicht überzeugt bekomme, dann muss ich sie daran erinnern, das er für mich da war, als sie es nicht war. Vor zwei Jahren...

"Du vertraust mir doch, oder?" frage ich unsicher. Sie wendet ihren Blick von Mike ab und sieht mich an, dann nickt sie zögernd.

"Dann weißt du auch, dass ich nichts tun würde, was mich oder euch in Gefahr bringt, ja?" wieder ein nicken.

"Gut." erleichtert seufze ich auf, das ist immer hin schon ein Anfang.

"Wenn ich dir also sage, das mir bei Mike nichts geschehen wird, dann glaubst du mir doch oder?" zweifelnd blickt sie mich an.

"Du weißt doch, das er nicht immer so..." kurz mustere ich meinen Freund. Nehme sein ungepflegtes Äußeres und sein verwahrlostes Erscheinungsbild wahr, dann schüttel ich über mich selbst den Kopf. Wenn ich eine Tochter hätte und sie würde mit solch einem Menschen in mein Haus spazieren, dann würde ich sie auch nicht gehen lassen, aber ich muss Mara davon überzeugen, dass es das richtige ist.

"das er normaler weise nicht so aussieht."

"Ich weiß nicht, wie er sonst aussieht Marie, ich kenne ihn nicht. Nicht wirklich, jedenfalls. Ich habe ihn nur kurz gesehen, als er dich im Sommer mit dem Motorrad abgeholt hat." gibt sie zu bedenken.

Und eigentlich hat sie recht. Ich habe mich immer davon geschlichen und nie Bescheid gesagt, aber gerade das sollte mir jetzt zum Vorteil gereichen.

"Ja, du hast recht, Mum. Es tut mir leid, das ich euch nie richtig mit einander bekannt gemacht habe, aber ich glaube jetzt ist nicht der richtige Moment dafür." Noch einmal werfe ich Mike einen Blick zu und mir wird ganz warm ums Herz. Ganz gleich wie er aussieht, wie sehr er nach Alkohol stinkt und wie Schmutzig und verfilzt seine Haare sind. Ich sehe noch immer den jungen Mann, der er war, als er mich vor mir selbst gerettet hat.

"Er braucht jetzt meine Hilfe. Und ich möchte mich nicht wegschleichen um ihm zu helfen, deshalb bitte ich dich mich gehen zu lassen. Ich werde dir sagen wo wir hingehen und wann ich wiederkomme und wenn du möchtest rufe ich dich zwischendurch an, aber ich werde ihn nicht allein gehen lassen." sage ich bestimmt.

Mara sieht mich mit großen Augen an. Irgendwie scheint sie beeindruckt zu sein, nur wovon weiß ich nicht, dann lässt sie meine Hand los und seufzt resigniert auf.

"Also gut." gibt sie schließlich nach. "Aber ich fahre euch hin. Du fährst nicht mit ihm, wenn er so betrunken ist."

"Danke Mum!" erleichtert schließe ich sie in die Arme. "Du bist die beste!"

Schnell flitze ich hoch in mein Zimmer um den Schlüssel aus meinem Schreibtisch zu holen, dann schiebe ich Mike durch die Tür zu Maras Auto.

Die Fahrt dauert nur zwanzig Minuten und ich bin wirklich froh, darüber, das Mara uns gefahren hat, denn mit dem Bus währen wir über eine Stunde unterwegs gewesen.

"Da wohnt er." ich deute auf ein hübsches Mehrfamilienhaus vor dem es einen kleinen Spielplatz gibt. Einige Kinder spielen im Sandkasten und eine etwas älteres Mädchen schubst einen kleinen Jungen auf der Schaukel an.

"Dann lasse ich euch hier raus." sagt Mara und hält am Straßenrand.

"Wann soll ich dich wieder abholen?" will sie wissen, bevor ich die Tür schließe.

"Ich weiß noch nicht, vielleicht erst morgen. Ich ruf dich an, okay. Heute Abend." füge ich schnell hinzu, als ich ihren nicht sehr begeisterten Gesichtsausdruck sehe.

"Also gut, wir Telefonieren." sagt sie niedergeschlagen, dann fährt sie los.

Ich helfe Mike den Weg entlang bis zur Eingangstür, dann die Treppe rauf in den zweiten Stock.

Ich öffne die Tür und schiebe ihn hinein.

Aber der Geruch, der mich empfängt, raubt mir fast den Atem.

"Wer ist denn hier gestorben!" sage ich angewidert und reiße die Fenster auf.

Es stinkt gerade zu widerwärtig und überall liegt Müll herum.

"Tut mir leid." sagt Mike und hebt unsicher einige Sachen vom Boden auf, doch dann steht er hilflos da und weiß nicht wohin. Kopfschüttelnd nehme ich ihm die Sachen ab und schiebe ihn ins Bad.

"Geh duschen." sage ich bestimmt. "Und zwar lange und heiß! Damit du wieder warm wirst. Ich räume auf."

Während Mike sich beginnt vor meinen Augen aus seinen Sachen zu schälen, sehe ich ihn noch eine Weile verträumt an, doch als er sich das T-Shirt auszieht und sein Tattoo zum Vorschein kommt schließe ich die Tür hinter ihm und beginne aufzuräumen.

Über all liegt Müll herum. Leere Dosen, Pizzaschachteln mit Essensresten, leere und halb volle Bierdosen. Der Tisch ist klebrig und überall verteilt, stehen dreckverkrustete Teller, Töpfe, Tassen und Besteck.

Seufzend mache ich mich ans Aufräumen. Ich hole mir einen blauen Müllsack und stopfe alles hinein, was nicht hier her gehört. Das dreckige Geschirr stelle ich in die Spüle zum einweichen und die Schmutzigen Sachen schmeiße ich auf einen Haufen neben die Badezimmertür.

Als ich die Kissen vom Sofa richte, fällt mir etwas vor die Füße.

Es ist sein Handy und als ich noch weiter in den Untiefen der Polster wühle, kommt auch sein Haustürschlüssel zum Vorschein.

Scheinbar hat er die Sachen im Vollrausch einfach hier liegen lassen.

Verzweifelt schüttel ich den Kopf. Was hat ihn nur so weit getrieben, sich so gehen zu lassen?

Als die Wohnung, soweit wieder hergerichtet ist, wasche ich das Geschirr ab und schaue in den Kühlschrank, in dem leider gähnende Leere herrscht.

Das wird wohl nichts mit dem Essen kochen. Ob ich was bestellen soll? Wir werden sehen.

Fürs erst schaue ich mal, wie weit der Mensch, der mir so viel bedeutet, im Badezimmer vorangekommen ist.

"Mike?" ich klopfe an die Tür und öffne sie einen Spalt breit. "Kann ich reinkommen?"

"Ja." sagt er, doch als ich die Tür weiter öffne, sehe ich seinen Nackten Hintern vor mir, der zugegebener Maßen ziemlich knackig ist, trotzdem schließe ich die Tür schnell wieder.

"Würde es dir etwas ausmachen dir was anzuziehen?" frage ich verlegen.

"Ich hab nichts." sagt er ein klein wenig verzweifelt.

"Dann wickel dir ein Handtuch um." schlage ich vor. "Oder hast du keins?"

"Doch, hier ist eins, aber sauber ist es nicht."

"Warte ich schau mal im Schlafzimmerschrank." eilig gehe ich hinüber in sein Zimmer, in dem Ich vorhin ein paar Handtücher gesehen habe.

"Hier." ich reiche ihm ein Handtuch durch den Türspalt.

"Okay, kannst reinkommen." sagt er, nur wenige Augenblicke später.

Kurz atme ich durch, und wappne mich vor dem Anblick, den ich gleich sehen werde, denn auch wenn sein Allerwertester nun bedeckt ist, der Rest ist es nicht.

Langsam öffne ich die Tür und Stück für Stück kommt sein Makelloser Körper in Sicht.

Seine langen, muskulösen Beine, seine schmalen, vom Handtuch verdeckten Hüften, der Muskulöse Rücken, seine Breiten Schulten mit dem Tattoo, das über sie verläuft, dann die nassen und viel zu langen, blonden Haare.

Langsam dreht er sich zu mir um. Noch immer ist sein Gesicht von einem Bart umwuchert, aber immerhin ist er nicht mehr dreckig und verklebt.

"Komm!" sage ich resigniert und verfrachte ihn in der Küche auf einen Stuhl. Aus der Schublade hole ich eine Schere und im Bad finde ich einen Kamm, dann beginne ich ihm den Bart zu stutzen und seine Haare zu schneiden.

Ganz so wie früher.

Also nicht, dass ich ihn Rasiert hätte, aber die Haare habe ich ihm schon öfter geschnitten.

Als ich mit den Haaren fertig bin hole ich aus dem Bad sein Rasierzeug, doch als ich mit ungelenken Fingern beginne ihn von den Haaren zu befreien nimmt er mir den Rasierer aus der Hand.

"Ich mach schon." sagt er lächelnd und steht schwankend auf um ins Bad zu gehen, wo ein Spiegel hängt.

Fünf Minuten später kommt er zu mir ins Wohnzimmer, aber sein Kinn sieht aus wie von Motten zerfressen. Er blutet an einigen Stellen und an anderen sind immer noch Barthaare.

"Du siehst zum totlachen aus." sage ich kichernd und schiebe ihn zurück ins Bad.

"Also das hätte ich auch gekonnt. Lass mich noch mal versuchen. Schlimmer kann es nicht werden."

"Wie du meinst." vertrauensvoll setzt er sich auf die Kante der Badewanne und reckt seinen Hals.

"Hier musst du ansetzten." sagt er und zieht mit dem Daumen eine Linie über seinen Hals.

"Vergiss es. Ich schneid dir nicht die Kehle durch." lache ich und schlage spielerisch seine Hand beiseite. "Das kannst du schön selbst machen."

Ich hebe sein Kinn etwas an und drehe seinen Kopf zur Seite, dann fahre ich vorsichtig mit der Klinge sein Kinn und seine Wangen entlang und entferne alles, was er übersehen hat, dann streiche ich prüfend mit den Fingern über seine Wangen, den Hals und sein Kinn. Er hält ganz still und als mir bewusst wird, das ich nicht nur prüfe, ob ich alle Haare erwischt habe, sondern auch die weiche Haut unter meinen Fingern streichele, ziehe ich meine Hand zurück.

"Ich glaube, jetzt bist du wieder hergestellt." sage ich verlegen und wasche den Rasierer ab.

"Danke!" er greift nach meiner Hand und zieht mich zu sich auf den Schoß. Er legt die Arme um mich und hält mich fest.

"Ich kann immer noch nicht glauben, dass du hier bist. Bei mir. Ich war so bescheuert! Mia." sagt er eindringlich und legt seine Stirn gegen meine Schulter. "Ich weiß nicht, was damals in mich gefahren ist. Irgendwie ist bei mir ne Sicherrung durchgebrannt, als du mir erzählt hast, das du weggehst und nicht wieder kommst."

Habe ich tatsächlich gesagt das ich nicht wieder kommen? Ich versuche mich zu erinnern, ob ich ihm gesagt habe, wie lange ich weg sein werde, aber es will mir nicht einfallen.

"Ich werde auch jetzt wieder fort gehen, Mike. Meine Ferien sind fast vorbei." weise ich ihn auf meine Probleme hin. "Und ich werde nur an den Wochenenden hier her zurück kommen."

"Ist mir egal, Babe. Ich will nur dich. Und wenn du nur einmal im Jahr zu mir zurück kommst, ohne dich will ich nicht sein. Das weiß ich jetzt. Ohne dich ist mein Leben einen scheiß wert."

Mit seinen süßen blauen Teddyaugen schaut er mich eindringlich an. Oh man. In meinem Bauch spielt alles verrückt und mein Herz klopft wie wild.

Ist es nicht das, was ich immer wollte? Das Mike mich liebt? Habe ich mir das nicht immer gewünscht?

Vom ersten Moment an, als er mich auf der Parkbank angesprochen hat, war ich in seinem Netzt gefangen und all die Jahre, die wir miteinander verbracht haben, hat sich dieses Netzt um mich herum immer enger zugezogen.

Hat mir Sicherheit und Halt gegeben, bis zu dem Abend, an dem er alle Stricke, die mich gehalten haben zerschnitten hat.

Und jetzt? Kann ich ihm wieder so vertrauen, wie ich es getan habe? Oder werde ich immer daran denken müssen, was er getan hat und Angst davor haben, das er es wieder tun wird?

Mich fallen lassen? Nur weil irgendeine Kleinigkeit seine Gesinnung ändert.

Ich weiß es nicht und so stehe ich lachend auf.

"Du bist betrunken." sage ich leichthin "Und deshalb sagst du so was. Los, ab mit dir ins Bett. Schlaf deinen Rausch aus, ich besorg dir erst mal was zu Essen."

"Du kommst aber wieder, ja?" fragt er beinahe verzweifelt, als er mir ins Schlafzimmer folgt, wo ich ihn kurzerhand ins Bett verfrachte.

"Klar, hab ich doch gesagt. Und jetzt schlaf." Ich ziehe die Decke über ihn und beuge mich zu ihm runter, dann gebe ich ihm einem Kuss auf die Stirn.

"Schlaf gut." sage ich sanft.

Ich bin schon fast draußen, als mich seine Stimme aufhält.

"Mia!" flüstert er leise.

"Mhh?"

"Ich hab das nicht nur gesagt, weil ich betrunken bin." sagt er eindringlich.

"Ich weiß." versichere ich ihm. "Aber jetzt schlaf. Wir reden Später."


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top