00 | Lampenfieber
Meine Lieben, hier ist es, das erste inoffizielle Türchen des Adventskalenders. Ich habe es ein bisschen weiter hinausgezögert, aber jetzt ist es soweit. Ich hoffe, es gefällt euch. Habt einen schönen ersten Advent 💗
Cassie strich sich unruhig durchs Haar, während sie rastlos in der Garderobe auf- und ablief. Das Gefühl der Anspannung war in der vergangenen Stunde ins Unermessliche gestiegen. Monatelang hatte sie gemeinsam mit Malia auf diesen Moment hingearbeitet, sich darauf gefreut, ihm regelrecht entgegengefiebert, aber jetzt, wo er endlich gekommen war, glaubte sie, gleich durchzudrehen. Obwohl sie bereits auf einen langen Werdegang im Showgeschäft zurückblicken konnte, drohte sie in diesem Augenblick, die Kontrolle zu verlieren. Dabei hatte sie ihre Nervosität sonst viel besser im Griff.
Sie wusste, dass es den anderen Tänzern ähnlich ging. Sie alle fieberten der allerersten Show entgegen, waren aufgeregt, weil die Ungewissheit an ihnen nagte. Niemand wusste, wie das Publikum die Show aufnehmen würde. So sehr Cassie sich auch bemühte, positiv zu denken und davon auszugehen, dass der Abend ein Erfolg werden würde - die Zweifel bahnten sich immer wieder den Weg an die Oberfläche. Für sie war es nicht nur eine Show, sondern die Erfüllung eines Traumes, für den sie hart gearbeitet hatte; sie und ihr gesamtes Team. Jeder einzelne von ihnen hatte seinen Teil dazu beigetragen, sich für die Sache aufgeopfert.
Als es ihr nicht gelang, das Chaos in ihrem Kopf zu ordnen, schloss sie die Augen und atmete tief durch. Anschließend ließ sie sich auf einen der Stühle vor dem großen Schminkspiegel fallen, der gegenüber der gemütlichen Couch an der Wand stand. Bis vor ein paar Minuten hatte John noch dort gesessen und sich über eine Portion gebratene Nudeln hergemacht, doch dann hatte er einen Anruf bekommen und sich nach draußen verzogen.
Abermals zupfte Cassie an ihren Locken herum und schenkte sich selbst ein zuversichtliches Lächeln, dann schürzte sie ihre Lippen und überprüfte ein weiteres Mal an diesem Abend kritisch ihr Erscheinungsbild. Das Make-Up, das Malia ihr vorhin verpasst hatte, gefiel ihr unglaublich gut. Ihre großen, blauen Augen kamen durch den dunklen Lidschatten besonders gut zur Geltung und ihre rosigen Wangen verliehen ihrem Gesicht in den grauen Herbsttagen eine sommerliche Frische.
Flüchtig warf sie einen Blick auf ihr Smartphone. Gerade mal zwanzig Minuten blieben ihr noch, dann würde es endlich losgehen. Wo blieb Malia bloß?
Nachdem sie zusammen einen Blick durch den Spalt hinter dem heruntergelassenen Vorhang riskiert und die vielen Menschen gesehen hatten, war ihre Freundin nach draußen verschwunden, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Cassie hoffte, dass sie bald zurückkam, denn sie hielt die Stille um sich herum kaum aus.
Das flaue Gefühl in ihrem Magen wurde so stark, dass sie schließlich doch nach der Pappschachtel griff, die John ihr vorhin von einem chinesischen Imbiss mitgebracht hatte. Vor lauter Aufregung hatte sie den ganzen Tag kaum etwas gegessen. Es war also nicht verwunderlich, dass sie sich nicht wohlfühlte.
Hastig klappte sie die Schachtel auf, doch als ihr der Duft von gebratenem Reis und Huhn entgegenströmte und sie nach der Gabel auf der Ablage griff, bekam sie plötzlich keinen Bissen herunter. Also stellte sie den Snack wieder zur Seite und fuhr sich mit beiden Händen schwer seufzend durch die Haare. Ihr Fuß wippte auf und ab, während sie sich einen Moment unschlüssig im Spiegel betrachtete und über sich selbst den Kopf schüttelte. Ihr Mund wurde trocken, in dem kleinen Raum war es auf einmal so stickig, dass sie es nicht länger aushielt. Sie brauchte dringend etwas frische Luft, um wieder durchzuatmen und den Kopf freizubekommen. Während sie nochmal auf die Uhr schaute, stand sie so hektisch auf, dass sie beinah die Pappschachtel vom Schminktisch stieß. „Hey... Komm runter, Locke."
Überrascht fuhr sie zu John herum. Sie war so auf sich selbst konzentriert gewesen, dass sie seine Rückkehr nicht bemerkt hatte. Er stand einfach nur da, in der einen Hand sein Smartphone, die andere in der Tasche seiner bunten Kapuzenjacke vergraben, und musterte sie. Seine blauen Augen ruhten auf ihr, doch es gelang ihr nicht, sich auf die sonst so beruhigende Wirkung einzulassen.
„Was, wenn irgendetwas schiefgeht?"
Unzählige Horrorszenarien spielten sich in Bruchteilen von Sekunden in ihrem Kopf ab. Besorgt zog sie die Unterlippe zwischen die Zähne und bemühte sich, die Befürchtungen abzuschütteln.
„Solang Rachid nicht in der Nähe ist, um dir wieder mal was zu versauen, kannst du dich denke ich lockermachen", grinste er schief, machte ein paar Schritte auf sie zu und ließ beiläufig das Smartphone in der Tasche seiner Jeans verschwinden. Sie seufzte schwer und ließ frustriert die Schultern sinken. „Falscher Moment?", schob John entschuldigend hinterher, als er erkannte, dass es ihm nicht gelungen war, die Stimmung aufzulockern. Sie sagte nichts, nickte lediglich benommen. Ihr Freund streckte unterdessen seine Hand nach ihrer aus und zog sie zu sich heran. Dabei umspielte ein sanftes Lächeln seine Mundwinkel.
„Keine negativen Vibes. Schon vergessen?", erinnerte er sie an ihre eigenen Worte, die sie sich seit Tagen immer wieder selbst ins Gedächtnis rief. Sie atmete tief durch und schaute auf ihre zitternden Finger.
„Das sagst du so leicht. Ist schließlich nicht deine Premiere", nörgelte sie.
„Stimmt. Ich spiele ja auch nur tausend Konzerte im Jahr", kommentierte er trocken. Endlich gelang es ihm, ihr ein Lächeln zu entlocken.
„Was, wenn sie die Show nicht mögen?", fragte sie zweifelnd. John runzelte die Stirn.
„Erstens wird das nicht passieren und zweitens-"
„Woher willst du das wissen?", unterbrach sie ihn, knibbelte an ihren perfekt manikürten Nägeln herum und sah unsicher zu ihm auf.
„Weil ich die Generalprobe gesehen habe und weiß, dass ihr was Krasses auf die Beine gestellt habt", antwortete er. Ihr Bauch kribbelte verräterisch, als sie den Stolz hörte, der in seiner Stimme mitschwang.
„Ich bin deine Freundin. Du musst das sagen", gab sie dennoch überzeugt zurück.
„Bist du behindert oder so?" Seine Augenbrauen zogen sich düster zusammen, während er seine Hände an ihre Schultern legte und sie sanft schüttelte. „Ich sage das nicht, weil wir zusammensind, sondern, weil ich an dich und an das Projekt glaube", stellte er richtig.
„Und weil wir ein paar tausend Euro reingesteckt haben."
Sie drehten Marten den Kopf zu, der gerade im Türrahmen aufgetaucht war. Für den Bruchteil einer Sekunde bereute Cassie, ihm uneingeschränktes Zutrittsrecht gegeben zu haben. So sehr sie ihn auch als Freund schätzte - gerade war sie nicht in Stimmung für seinen manchmal recht fragwürdigen Humor.
„Du kannst dich in dein beschissenes Knie ficken, du Arschloch", pöbelte sie, als er, die Hände in den Taschen seines hellen Hoodies vergraben, die Tür hinter sich schloss. Johns Cousin ließ sich davon jedoch nicht abschrecken.
„Scheiß dich nicht ein, Hasenfuß. Das wird schon alles. Hier, hab ich dir mitgebracht, weil ich weiß, wie gern du die magst", sagte er stattdessen versöhnlich, zog ein Trinkpäckchen hervor und hielt es ihr lächelnd entgegen. Ein sanftes Schmunzeln schlich sich auf Cassies Lippen.
„Danke... Hat Chayenne dir das mitgegeben?", fragte sie skeptisch, während sie es ihm aus der Hand nahm.
„Erwähn den Namen nicht, solang Nika hier rumläuft, okay?", bat er sie. „Ich habe sie gerade davon überzeugt, mich nicht mehr zu hassen, weil sie mich ab und zu angetextet hat."
„Was wollte sie denn von dir?", fragte Cassie neugierig, dankbar für den kleinen Strohhalm, an den sie sich klammern konnte, um sich von ihrer inneren Unruhe abzulenken.
„Ach, keine Ahnung. Sucht Freunde oder sowas", winkte Marten lapidar ab.
„Besser dich als ihn", kommentierte Cassie mit einem Nicken in Johns Richtung und fummelte den kleinen Plastikhalm aus der Verpackung, um ihn in das dafür vorgesehene Trinkloch zu piksen.
„Lass das bloß Nika nicht hören", schmunzelte Marten. „Die findet das gar nicht lustig."
„Ist es auch nicht", bestätigte Cassie ernst. „Aber ich muss schließlich auch sehen, wo ich bleibe..."
Marten schüttelte amüsiert den Kopf.
„Wo ist sie überhaupt?", hakte sie nach, während sie sich umschaute und einen Schluck von dem Kirschnektar trank.
„Sitzt schon draußen auf dem Platz, den du uns reserviert hast; zusammen mit deiner Mum, Willow und Carlos", antwortete Marten.
„Deshalb hast du so ne große Klappe", stichelte Cassie. „Weil sie außer Hörweite ist und dir für deine coolen Sprüche nicht die Hölle heißmachen kann."
„Genau", zog Marten ihre Vermutung ins Lächerliche. Doch gerade, als Cassie etwas sagen wollte, drohte die Aufregung, sie zu übermannen. Hektisch drückte sie Marten das Trinkpäckchen an die Brust.
„Hier, halt das mal. Ich glaub, ich muss mich übergeben", sagte sie, während sie gegen den Brechreiz ankämpfte. Noch während John belustigt kicherte, weil Marten demonstrativ einen großen Schritt zurücktrat, schoss ein Schwall Flüssigkeit aus dem Strohhalm geradewegs auf dessen hellen Pullover.
„Dein Ernst, Cas?", platzte es verärgert aus Marten heraus, als sich der rote Fruchtsaft auf dem Stoff verteilte. Doch Cassie war bereits an ihm vorbei in die angrenzenden Toilettenräume gestürzt. Gerade noch rechtzeitig riss sie die Kabinentür auf, bevor sie sich über der Schüssel übergab.
Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen. Es gelang ihr kaum, sie wegzublinzeln. Mit zitternden Fingern umklammerte sie die Kloschüssel, während ihr schummrig wurde. Es war ihr unangenehm, dass sie sich nicht im Griff hatte.
„Locke..."
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Johns besorgte Stimme wie durch Watte zu ihr durchdrang.
„Hmm", machte sie, darum bemüht, sich wieder zu beruhigen.
„Lass mich mal rein."
Erst jetzt realisierte sie, dass sie die Tür hinter sich zugeworfen hatte.
„Ich hab nicht abgeschlossen", nuschelte sie, noch immer um Fassung ringend. Vorsichtig stieß er die Tür auf und quetschte sich mühsam durch den schmalen Spalt. Sie schmunzelte amüsiert, als der Hüne bei seinem Vorhaben beinah steckenblieb. Als er tatsächlich nicht weiterkam, rutschte sie ein Stück zur Seite, damit er die Tür vollständig öffnen konnte.
„Geht's wieder?", wollte er wissen, schlang behütend seine Arme um sie und zog sie vorsichtig auf die Beine. Sie atmete innerlich erleichtert auf. Es war ein gutes Gefühl, zu wissen, dass er für sie da war.
„Tut mir leid, ich konnte das nicht kontrollieren", nuschelte sie beschämt, bevor sie sich am Waschbecken den Mund auswusch.
„Jetzt weißt du, wie es mir geht, wenn ich wieder mal im Club eskaliert bin", machte er einen Versuch, die Stimmung aufzulockern. Es gelang ihm tatsächlich, ihr ein Lächeln zu entlocken. Als sie sich wieder frisch gemacht hatte, drehte sie sich wieder zu ihm um und strich sich die Locken nach hinten.
„Gott sein Dank hat außer Marten niemand etwas mitbekommen...", murmelte sie kopfschüttelnd.
„War witzig, das mit dem Trinkpäckchen", grinste er amüsiert.
„Tut mir leid mit seinem Pullover", räumte sie frustriert ein. „Die Reinigung übernehme ich selbstverständlich."
John winkte ab.
„Der ist sicher froh, dass die Schuhe sauber geblieben sind...", kommentierte er trocken. Bei der Erinnerung daran, wie Marten versucht hatte, seine Füße in Sicherheit zu bringen, musste sie kichern. „Hast du gesehen, wie hysterisch er nach hinten gesprungen ist?"
„Dabei hat er heute nicht mal limitierte Yeezys an", lachte John.
„Ich bin froh, dass du hier bist."
„Meinst du, wenn meine Freundin sich ihren Traum erfüllt, lasse ich mir das entgehen?", fragte er und schaute stirnrunzelnd auf sie herab.
„Du bist süß...", lächelte sie. Er erwiderte es.
„Du auch. Nur hübscher", gab er zurück, bevor er ihr einen Kuss auf die Lippen drückte. „Und jetzt komm. Wir sollten sichergehen, dass Malia sich nicht vor lauter Aufregung vom Dach gestürzt hat. Außerdem will deine Mum dir noch viel Glück wünschen, bevor es losgeht."
Und, wie hat es euch gefallen? Ich bin echt so gespannt auf eure Reaktionen 😄 ich werde jetzt backen gehen und später noch mal reinschauen. Habt einen schönen Adventssonntag ♥️
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