Eine Frau aus Funken und Glut

„I BATHE IN THE FIRE YOU ARE AFRAID TO TOUCH"

Hitze jagte über ihre Haut, Flammen malten züngelnde Schatten auf ihr Gesicht. Laut dröhnte die Musik in ihren Ohren, die ihren Auftritt untermalte. Augen groß wie Untertassen folgten ihren anmutigen Bewegungen. Hundert Paar davon, vielleicht auch mehr. Sie gehörten gleichermaßen zu Kindern, Jugendlichen, aber auch zu Erwachsenen.

Der Klang der kleinen Glöckchen, die sie um ihre Fußgelenke gebunden hatte, so wie sie die Wandernomaden häufig trugen, fügte sich perfekt in die Melodie aus Trommelschlägen ein. Auch der Rhythmus ihres Herzens schien sich nach ihr auszurichten.

Csilla liebte, was sie tat. Sobald sie die Fackeln in ihren Händen hielt, verlor alles andere um sie herum an Bedeutung. Dann gab es nur noch sie und ihre kleine Feuershow. Nur sie und die Musik. Sie und die leuchtenden, orangeroten Farben. Sie wirbelte die Stöcke, deren Enden in Pech getränkt worden waren, durch die Lüfte, als handelte es sich bei ihnen um harmloses Kinderspielzeug. Und bei Gott, wie lebendig sie sich dabei fühlte.

Immer schneller wurden die Trommelschläge im Hintergrund, so auch das unterstützende Klatschen der begeisterten Zuschauermenge.
Gemeinsam trugen sie Csilla in Richtung großes Finale. Ein letztes Mal jonglierte sie die sechs Fackeln durch die Luft, vier davon warf sie Tayo zu, der am Rand der kleinen Manege stand, die anderen beiden fing sie gekonnt mit der Linken auf. In der gleichen Bewegung sank sie auf das rechte Knie, griff mit der freien Hand nach der Flasche Pyrofluid und gab sich einen Schluck der bitteren Flüssigkeit in den Mund.
Gebannt lag ein jeder Blick auf ihr, als sie die Lippen leicht spreizte und den Brandbeschleuniger mit Druck wieder ausspie. Direkt in die Flammen der beiden Fackeln, die sie möglichst weit über ihren Kopf hielt.
Hoch stieg das Feuer auf, breitete sich in sämtliche Richtungen aus und erwärmte das Innere des Zeltes zusätzlich zu dem schwitzenden, staunenden Publikum.

Aber es war noch nicht vorbei. Noch nicht ganz.

Die Menschen hielten hörbar den Atem an, sobald Csilla die brennenden Enden der Fackeln in ihren Mund führte. Ihre rot angemalten Lippen schlossen sich um die lodernden Kegel, sie spürte die sengende Hitze nur kurz an ihrem Gaumen kitzeln, dann waren die Flammen auch schon erstickt.

Die Musik verstummte, dafür aber brachen um sie herum Wellen des tosenden Applauses aus. Mit einem breiten Grinsen verbeugte sie tief sich in jede Richtung.
Das Zeichen für einen weiteren Artisten, der es liebte im Rampenlicht zu stehen. Franklin eilte an ihre Seite. Der Geruch seines zitronig herben Aftershaves schlich sich ihr in de Nase. Sanft umfasste er ihr Handgelenk und riss es an ihrem Arm in die Höhe. Das feuerte die Zuschauer nur noch zusätzlich an, ihre Begeisterung noch lauter zum Ausdruck zu bringen. Pfiffe und Jubelrufe flogen ihr und dem Leiter der Freakshow entgegen.

Franklin suhlte sich in der Aufmerksamkeit, genoss die Zuneigung, die im Grunde Csilla und nicht ihm gebührte mit jeder Faser seines drahtig, athletischen Körpers. Doch sie ließ ihm diese Illusion nur zu gerne, denn er war es gewesen, der sie aus den Gossen geholt und die Frau aus ihr gemacht hatte, die sie heute war. Von ihrem früheren Ich, Ava Wilson, war nichts mehr übrig. Freudestrahlend und dankbar zugleich blickte sie ihn von der Seite an. 

Es dauerte, bis der Applaus abgeebbt war. Franklin kostete jede Sekunde davon aus, sog die Hochstimmung, die in der Manege herrschte, in sich auf, als wäre diese der Sauerstoff, den seine Lungen zum Atmen brauchten. Sobald die erwartungsvolle Stille auf die nächste menschliche Attraktion die Euphorie abgelöst hatte, ließ er Csilla los. Seine Stimme, rauchig und zur gleichen Zeit einlullend wie der Geruch warmer Erde nach einem Sommerregen, hallte durch das aufgeheizte Zeltinnere. „Meine Damen und Herren, verabschieden Sie gemeinsam mit mir die Frau aus Funken und Glut!"

Erneut ein Applaus. Dieses Mal hielt er allerdings nicht für lange. Ihr Zeichen. Csilla verbeugte sich ein letztes Mal, dann huschte sie auf flinken Sohlen über den mit Sand aufgeschütteten Boden in Richtung des hinteren Bereichs. Hinter der Trennwand aus rot-weißem Stoff wartete bereits der nächste Artist auf seinen Einsatz.

Franklins Tonfall senkte sich zu einem verheißungsvollen Flüstern herab, dennoch verstand man ein jedes einzelne Wort. „Begrüßt nun mit mir den Schatten der Lüfte, den Herr der Messer ..."

Tayo machte sich nichts aus den indirekten rassistischen Bemerkungen, denn seine Hautfarbe war das, was ihn ausmachte. Zumindest in den Augen der Zuschauer. An seine Seite gestellte sich eine weitere Person. Fiorella schenkte Csilla ein zaghaftes, schüchternes Lächeln, ehe sie die zarten, gefleckten Finger an Tayos Oberarm legte. Wie schön sie war und das trotz, vielleicht sogar wegen ihres Gendefekts, der sich Weißfleckenkrankheit nannte.
Erst mit zwölf hatte ihre Haut begonnen sich an manchen Stellen hell zu färben. Bis dahin hatte sie ein normales Leben geführt, Freunde besessen und eine Familie, die ihr kleines Mädchen über alle Maße liebten. Angeblich zumindest. Denn wie konnte man einem ein ehrlicher Freund oder eine aufopferungsvolle Familie sein, wenn man ihn verstieß, sobald er anders aussah?

„ ... und seine singende Begleitung, Lady Cow!" Tosender Beifall folgte Franklins Ankündigung, den er dazu nutzte, um Platz zu machen für seine nächsten Freaks.

Wortlos führte Tayo Fiorella nach draußen und gab ihr dabei den nötigen Halt. Auch Csilla war es in ihrer Anfangszeit unangenehm gewesen, in die Scheinwerfer zu treten und dadurch zum Mittelpunkt zu werden. Denn das Zentrum zu sein, hatte für die Menschen der Zirkuswelt nie etwas Gutes bedeutet. Für Cosima hatte es endlose Freier nach sich gezogen, für Tayo die rassistischen Anfeindungen, für Fiorella die Ausgrenzung und die Hänselei und für Csilla häusliche Gewalt. Fröstelnd rieb sie sich bei der Erinnerung an ihr altes, trostloses Leben einen Moment lang die Arme.
Aber nur, bis Fiorellas göttinnengleicher Gesang einsetzte.

Wie beinahe immer verweilte Csilla während dieses Auftritts hinter den Trennwänden aus Stoff, zog sie ein klitzekleines Stück beiseite, um sehen zu können. Fiorella saß in der Mitte der Manege auf einem bunt angemalten Hocker, eine kleine Harfe in der Hand und erzählte mit ihrer Stimme in einem Lied von einer Liebesgeschichte, während sich Tayo über ihrem Kopf durch die Lüfte schwang.
Ein Anblick, der Csillas Herz immer wieder zum höher Schlagen brachte. Denn genauso sollte Liebe aussehen und nicht so, wie sie sich ihr vor einigen Jahren offenbart hatte.

„Träumst du schon wieder von Romanzen, die sich ja doch nie bewähren?"
Csilla rollte bei dem Klang dieser zarten Stimme mit den Augen, die so viel Hass in sich barg. Hass auf die Welt, Hass auf alles Gute. Dabei meinte es Mikesh nicht wirklich böse. Er war nur einfach schon zu oft enttäuscht worden, sodass er hinter jedem Heiligenschein den Teufel vermutete. Wie viele von ihnen zu Beginn ihres neuen Lebensabschnitts bei den Freaks. Mikesh hatte dieses Misstrauen gegenüber allem und jedem allerdings niemals ablegen können. Tayo, Fiorella und sogar seine Zwillingsschwester Vanja bezeichneten ihn deshalb nur zu gerne als hoffnungslosen Fall. Csilla hingegen hatte ihn noch nicht aufgegeben. Auch wenn er sie häufig mit seinem Pessimismus nervte, sah sie in ihm keinen Zyniker, sondern das verletzte Kind, das er in Wahrheit war.

Ihr Kopf zuckte zu ihm herum, musterte ihn wie er dort stand in seiner weißen Uniform, die seine bleiche Haut und die eisblauen Augen nur noch geisterhafter wirken ließ. Seine Lippen, denen ebenfalls an Farbe fehlte, waren zu einer schmalen Linie verzogen, die ebenso unverrückbar wirkte wie seine straff nach hinten gebundenen, schneefarbenen Haare. „Was ist?", fragte er, sobald er sich Csillas gereiztem Blick bewusst wurde.

Seine kaum erkennbaren Augenbrauen hoben sich in die Höhe. „Du weißt doch, wie ich dazu stehe. Liebe, wie wir sie vielleicht von unseren Großeltern kennen, ist ein soziales Konstrukt. In anderen Kulturperioden war die monogame, langjährige Beziehung nicht vorgesehen und wenn es nicht gesellschaftlich verpönt wäre, sich zu scheiden, würden das wohl viel mehr Menschen machen", meinte er in kühlem Tonfall. „Und was das Verlieben anbelangt, ist zumindest das eine biologische Wahrheit. Eine chemische Reaktion, die von der Zusammensetzung der Hormone einer Zwangsstörung gleicht. Das ebbt allerdings nach ein paar Monaten ab, sofern kein Nachwuchs in Sicht ist. Du wirst es bei Fio und Tayo aus nächster Nähe mitbekommen, wenn es soweit ist."

In solchen Momenten wünschte sich Csilla noch immer sprechen zu können. Der verbliebene Stummel in ihrem Mund, der einst ihre Zunge gewesen war, zuckte wild bei dem Bedürfnis Mikesh Worte entgegen zu spucken. Sie starrte ihn einige Sekunden regungslos an, anschließend seufzte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war bereits so lange Teil dieser seltsamen Familie, dass die meisten es schafften ihre Blicke zu deuten.
So auch Mikesh. „Ich bin nicht hoffnungslos verloren", gab er bissig von sich. „Um das zu wissen, brauche ich niemanden, der es mir beweist, Csilla. Ich kann nichts dafür, dass ihr die Wahrheit nicht sehen wollt und euch lieber in der Vorstellung suhlt, so etwas wie die wahre Liebe und das Gute in einem jeden Einzelnen gäbe es wirklich. Ich freue mich auf den Tag, an dem du deine hübschen, grünen Augen aufschlägst und erkennst, dass ich recht habe. Dass die Menschen von Grund auf schlecht sind und dass jedwede Form von Liebe nur ein Konstrukt des Patriarchats ist."

Fiorellas Gesang verklang allmählich in der Manege. Ein paar letzte Anschläge auf ihrer Harfe folgten, dann kehrte Stille ein, bevor erneuter Applaus aufbrandete. Franklin tauchte wie aus dem Nichts auf, so wie er es häufig tat. Wenn Tayo der Schatten der Lüfte war, war er der Schatten zwischen den Stoffwänden. Einige Sekunden ließ er seinen Blick zwischen Csilla und Mikesh hin und her pendeln, bevor er auf letzterem zum Ruhen kam. „Anstelle über diese furchtbar schlimme und ungerechte Welt zu debattieren, solltest du lieber zusehen, dass du die Pferde aufsattelst. Denn du und deine Schwester sind nach Tayos kleinem Messertanz an der Reihe, nur um dich nochmals darauf hinzuweisen." In seiner rauchigen Stimme schwang ein feiner Hauch von Theatralik mit.

Mikesh rollte mit den Augen, sobald Franklins Arm sich um seine Schultern legte und ihn nah an sich zog. Im selben Moment setzte Fiorellas Gesang wieder ein, dieses Mal weniger sanft und untermalt mit Trommelschlägen, die an Kriegsmusik erinnerten.
Nur kurz sah Csilla in Richtung der offenen Manege, beobachtete das Licht der bunten Lampen, wie es sich in Tayos Messerklingen reflektierte, bevor er seine kleinen Spielzeuge, wie er sie stets nannte, auf eine sich drehende Zielscheibe schleuderte. Jetzt war sie noch leer, in ein paar Minuten würde Tayo Fiorella daran befestigten, um seine Zielgenauigkeit zu demonstrieren. Auch wenn sie dem Akrobaten alle vertrauten, war sie die einzige, die mutig genug war, dies auch unter Beweis zu stellen.

„Im Ernst, mein Junge", fuhr Franklin fort und lenkte Csillas Aufmerksamkeit wieder auf ihn und Mikesh zurück. „Sind die Freaks nicht Beleg genug, dass doch noch gute Dinge geschehen?"

Der Weißhaarige schüttelte den Arm ab. Dabei zierte ein sich ekelnder Ausdruck seine Züge, als handelte es sich dabei um Cosimas Räucherstäbchen, deren Geruch er so sehr verabscheute und deshalb auch niemals ihr kleines Zelt betrat. „Dinge verändern sich. Ich bin davon überzeugt, dass auch unter uns Freaks niemals alles so scheiße perfekt bleiben wird, wie es gerade scheint. Es gibt immer irgendwo einen Haken, ich ..."

„ ... du hast ihn nur noch nicht gefunden", fuhr Franklin ihm dazwischen und bedachte ihn mit einem warmen, fast schon väterlichen Blick. „Weil es ihn nicht gibt, Mikesh. Wir sind eine große Familie. Zwischen uns gibt es keinen Hass, keinen Spott, keine Gewalt. Vanja hat es erkannt." Er sah zu Csilla hinüber. „Csilla hat es erkannt. Tayo, Fiorella und Cosima haben es erkannt. Vielleicht solltest du nicht auf den Tag warten, an dem Csilla ihre hübschen, grünen Augen aufschlägt und dir zugesteht, recht gehabt zu haben, sondern auf den Tag, an dem du aufwachst und Licht und Freude in dein dunkles Herz strömen lässt. Auf dass es irgendwann nicht länger schwarz und verkümmert schlägt, sondern voller Farbe und Leben erstrahlt."

Ein Lächeln legte sich auf Franklins schmale Lippen, als Mikesh ihm anstatt einer Antwort bloße Ignoranz schenkte. Wortlos wandte sich der Pferde-Dompteur ab und ließ Franklin alleine mit Csilla zurück.
„Das ist ein Schritt in die richtige Richtung", meinte der Zirkusleiter, sobald er ganz ihrer Hörweite entschwunden war. „Er hat nicht widersprochen. Es mag noch Monate dauern, vielleicht sogar noch Jahre, aber irgendwann wird es auch in seinem Verstand ankommen, dass die Welt nicht durchwegs so furchtbar schlecht ist, wie ihr alle es erfahren musstet. Wo Schatten ist, da ist auch Licht. Wo Regen wütet, da folgt auch wieder die Sonne."

Und wo alles schwarz und weiß erscheint, da ist doch auch Farbe, dachte Csilla still bei sich und erwiderte Franklins Lächeln. Sie musterte seine weichen Züge, die im Kontrast zum Klang seiner rauen Stimme standen, die Lachfältchen um seine warmen, braunen Augen, die Lippen, über die niemals schlechte Worte kamen. Er war wahrlich die gute Seele der Freaks.

„Weiter im Programm. Lösen wir unsere Lady Cow und den Schatten der Lüfte ab und machen dem tobenden Wintersturm-Duo Platz", befand er, sobald Tayos und Fiorellas Auftritt geendet hatte.

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