Die Welt

„WER NICHT IN DIE WELT ZU PASSEN SCHEINT, IST IMMER NAH DRAN SICH SELBST ZU FINDEN"

Weiße Rosen waren ihre Lieblingsblumen.
Manch ein Mensch maßte sich an, nicht nur lebende Individuen, sondern auch Farben in Schubladen zu stecken. Doch während die meisten Trauer und das Ende allen Lebens in diesen wunderschönen Blumen sahen, sah Csilla in ihnen das Licht und den Neuanfang.
Eine weiße Rose war es gewesen, die ihr den Schritt ins Glück und nicht den in den Tod gedeutet hatte.

Ein gesummtes Lied auf den Lippen drapierte sie den Strauß in seiner gesprungenen Vase neu, entzündete dann die Räucherstäbchen und setzte sich an den kleinen runden Tisch, der die Mitte des Zeltes markierte. Der Stapel Tarotkarten leuchtete ihr förmlich entgegen, so stark war der Kontrast zwischen den schwarz eingefärbten Rückseiten und der silbernen Decke, die Cosimas Arbeitsplatz zierte.

Ihren Blick hielt sie auf den sich im Wind leicht bewegenden Eingang gerichtet, während ihre rot lackierten Nägel ein beständig tippendes Geräusch auf dem Mahagoniholz erzeugten.
Sie wartete geduldig und in stiller Vorfreude auf die blonde Schönheit, die ihr, wie zu jedem Aufenthaltsbeginn an einem neuen Rastplatz, die Zukunft weissagen würde. Ihr ganz persönliches kleines Ritual der Freundschaft, das sich in den letzten Jahren entwickelt und gefestigt hatte.

Heute Morgen waren sie in London angekommen, hatten ihre Lager aufgeschlagen und die großen Plakate in der Stadt aufgehängt. Etwas, das mit Sicherheit nicht nötig gewesen wäre, hatte es sich doch bereits herumgesprochen, dass der Karneval mitsamt der berüchtigten Freak-Show an diesen Freitag Einzug in Englands Hauptstadt halten würde. Das zumindest hatten die vielen Schaulustigen vermuten lassen, die sich bereits auf dem Marktplatz eingefunden hatten, noch ehe der erste ihrer Wägen über dessen Kopfsteinpflaster gerollt war.

Wie sie vor Angst davongerannt waren, als Tayo, ein Riese von einem Mann, sie fortgescheucht hatte, um ihnen einen unbezahlten Blick auf die menschlichen Attraktionen zu verwehren. Auch wenn sie die Beine in die Hand genommen und aus Furcht vor dem ungewöhnlich großen Trapez-Künstler geflohen waren, würden sie heute Abend zurückkehren. So war es stets. Die Neugierde obsiegte über die Bangnis. Zu groß war der Wunsch danach, die Zwillinge mit dem schneeweißen Haar, das Mädchen mit der Kuhhaut, den dunkelhäutigen, Messer werfenden Akrobaten, die Feuerschluckerin und die Frau mit dem gespaltenen Blick zu sehen.

„Summst du schon wieder dieses Lied?" Eine Stimme, süß wie Honig und ebenso klebrig. So viele hatten sich schon in ihrem Klang verfangen, dass Csilla irgendwann aufgehört hatte zu zählen.

Cosima betrat das Zelt. Das goldene Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern, bedeckte einen Teil des hauchdünnen Stoffes und verwehrte somit auch den Blick auf ihre wohlgeformten Brüste, die sich sonst ohne Zweifel durch den Hauch von Nichts abgezeichnet hätten. Genauso wie ihr Bauchnabel, der sich trotz der Kleidung erkennen ließ. Ihre verschiedenfarbigen Augen, teils bernsteinfarben, teils blau wie das Meer, legten sich auf Csilla, während sie sich auf das andere Ende des Tisches zubewegte. Ihre Hüften führten dabei einen Tanz auf, der schon einige Männer ihres Verstandes beraubt und sie dazu veranlasst hatte, mehr Geld zu zahlen, in der Hoffnung einen Blick unter den golden glitzernden Stoff zu erhaschen. Vergeblich.
Die Kartenlegerin liebte es  mit ihren Kunden zu spielen und sie um ihre Pennys und Scheine zu erleichtern. Ihre persönliche Rache an der Männlichkeit, so pflegte sie es zu nennen, was Csilla jedes Mal ein ehrliches Schmunzeln entlockte.
Auch sie hatte lange einen Hass auf das andere Geschlecht verspürt. Anders als Cosima war es ihr allerdings irgendwann gelungen, ihn gleich einer Schlange ihre lästige, zu eng gewordene Haut, abzustreifen. Cosima steckte noch immer in ihr fest. Zwar beteuerte sie stets, sie fühlte sich wohl darin, doch Csilla konnte das nur schwer glauben.

Das Licht dreier Kerzen erhellte die Gesichtszüge der Kartenlegerin, die nur einer Narbe wegen an Weichheit einbüßten. Sie zog sich über ihre rosigen Lippen, endete an der unteren Seite knapp unter dem Kinn und an der oberen kurz vor dem linken Nasenflügel. Ein kleiner Makel, der ihrer Schönheit keinen Abbruch tat. Im Gegenteil. Er machte sie zu seiner lebenserfahrenen Frau und weniger zu einer Märchenprinzessin.

Csilla ließ ihr Summen verstummen und legte mit einem Lächeln ihre Handflächen auf der silbernen Tischdecke ab, woraufhin Cosima langgezogen seufzte. „Wirst du der Weissagungen denn niemals überdrüssig? Die Karten zeigen ja doch fast immer nur das gleiche, wenn auch mit unterschiedlichen Bildern."

Doch Csilla dachte gar nicht erst daran, ihre Finger wieder zurückzuziehen. Sie beharrte auf ihr Ritual. Alles, was eine Art von Beständigkeit und Gewohnheit brachte, tat ihr in der Seele gut. Zu lange war ihr Leben von Chaos und Ungewissheit beherrscht worden.

„Also schön", flüsterte Cosima, die sich wie jeder andere ihrer kleinen, seltsamen Familie nie gegen den Starrsinn ihrer Freundin durchzusetzen vermochte. Ihre schlanken Finger griffen nach dem schwarz bemalten Tarotdeck. Nach sorgfältigem Mischen breitete sie alle 78 Karten aufgefächert vor sich aus und ließ ihre Hände einige Male darüber kreisen, bevor sie mit der Linken vier davon zog und sie verdeckt aufeinander ablegte. Die restlichen schob sie wieder zusammen und legte sie beiseite.

Obwohl Cosima mit ihrer Aussage nicht im Unrecht lag, dass die Weissagungen stets ähnlich ausfielen, richtete Csilla sich ein Stück gerader auf und betrachtete voller Neugierde die auserwählten Karten.

Schließlich gab Cosima die erste von ihnen zu erkennen. „Beginnen wir mit der momentanen Situation ..." Eine güldene Sonne zeichnete sich auf dem schwarzen Hintergrund ab und brachte Csilla zum Lächeln. In den letzten  Jahren hatte sie die Bedeutung eine jeden einzelnen Symbols gelernt. Trotzdem unterbrach sie Cosima nicht in ihrer Arbeit. „Diese Karte ist der Jackpot im Tarot. Die Sonne verheißt pure, echte Lebensfreude, Zuversicht und Glück."

Ja, diese Tatsache hätte wohl niemand bestritten, der Csilla kannte. Sie war der Optimismus in Person, sah ständig nur das Gute in allem und jedem. Aber das war nicht immer so gewesen, was ihr die nächste Karte einmal wieder ins Gedächtnis rief.
Der Gehörnte blickte ihr entgegen und jagte ihr einen kalten Schauer über ihren Rücken und Bilder von unliebsamen Erinnerungen durch den Geist. Ein Glück, dass die zweite Deutung stets auf etwas hinwies, das man nicht länger zu befürchten hatte.

„Ungesunde Abhängigkeiten und Verführungen. Du hast dich gefangen gefühlt. Der Teufel steht für starke Eifersucht oder ein besitzergreifendes Verhalten", sinnierte Cosima weiter vor sich hin. Dabei klang ihre Stimme leicht verzerrt, was den Anschein erweckte, sie befinde sich in einer Art Trance. Nicht zum ersten Mal fragte Csilla sich, ob tatsächlich mehr hinter ihrem gespaltenen Blick, wie die Leute ihn nannten, steckte, als nur Heuchelei und Lüge. Im Grunde war sie sich eigentlich sicher, dass Cosima wirklich in die Zukunft sehen konnte. Wie sonst hätten die Weissagungen sonst immer so gezielt ausfallen können? 

Csilla rieb sich die Arme, als fröstelte sie es, obwohl es nicht kalt war. Sie hatten Ende Sommer, genauer gesagt das letzte Wochenende im August. Zwar kündigte vermehrter Regen bereits die bunteste aller Jahreszeiten an, doch wenn nicht gerade ein Sturm über ihre Zelte hinwegfegte, war der Wind am Abend stets noch lauwarm. So auch heute.

Cosima zog die dritte Karte. Eine Frau mit Krone auf dem Haupt und Stab in der Hand kam zum Vorschein. Sie repräsentierte das, was es nun zu beachten galt. Der wichtigste Teil einer jeden Weissagung, da er das Hier und Jetzt und das richtige Handeln verkörperte.

„Die Herrscherin." Ein feines Lächeln zupfte an Cosimas Mundwinkeln. „Sie steht für Sinnlichkeit und Selbstbewusstsein. Die reine, weibliche Stärke." Kurz löste sie ihren Blick von dem Symbol und richtete ihn auf Csilla. „Sie ermutigt dich dazu, dir noch mehr zuzutrauen und noch weiter über dich hinauszuwachsen. Auch wenn ich gar nicht weiß, wie das überhaupt noch gehen soll. Du bist bereits jetzt mitunter eine der beeindruckendsten Frauen, die mir je begegnet ist. Neben mir selbst, versteht sich."

Ob dieses Lobs konnte Csilla nicht anders, als über beide Ohren zu strahlen. Solche Worte aus dem Mund von Cosima zu hören, einer Frau, die so Schreckliches hatte erleben müssen und heute dennoch hier saß, anstatt wie viele andere, die ein ähnliches Schicksal durchlitten hatten, als Wasserleiche in der Themse umherzutreiben. In jungen Jahren, da war sie fast noch ein Kind gewesen, hatten ihre Eltern sie an ein Bordell verkauft. Zur Prostitution gezwungen fristete sie jahrelang ihr Dasein, trug seelische und körperliche Narben aus dieser Zeit davon. Zu fliehen hatte sie nie versucht. Zu groß war die Angst davor gewesen, was passiert wäre, hätte man sie gefunden. So bezeichnete sie es stets als Segen und nicht als Fluch, als ein ranghohes Tier auf mysteriöse Weise erkrankte, nachdem er sie geschändet hatte und seinen urplötzlich verschlechterten Gesundheitszustand ihr und ihrem gespaltenen Blick zuschrieb. Sie hätte ihn verflucht, hatte er behauptet.

Daraufhin hielten sich sämtliche Freier von ihr fern. Keiner fragte mehr nach dem ungewöhnlich hübschen Ding mit den verschiedenfarbigen Augen. Anstatt dem Bordellbesitzer die Taschen weiterhin mit Geld zu stopfen, zog sie es ihm nur noch aus der Tasche. Immerhin musste er für die Verpflegung „seiner" Mädchen aufkommen, auch wenn diese oft nur aus faden Suppen und altem, trockenen Bot und Leitungswasser bestand. Schließlich wurde er ihrer überdrüssig und setzte sie einfach auf die Straße. Das Beste, was ihr hätte passieren können.
Anfangs war es schwer gewesen, sich auf den Straßen Londons herumzuschlagen, hatte sie Csilla erzählt, aber das hatte sie ein Glück auch gar nicht lange tun müssen. Die Zeitungen hatten von ihr und dem angeblichen Fluch berichtet. So war Frank auf sie aufmerksam geworden und hatte ihr Arbeit bei den Freaks angeboten. Cosima hatte sofort eingewilligt.

„Dann lass uns mal sehen, was deine Zukunft bringt", fuhr Cosima schließlich fort und holte Csilla aus ihren Gedanken.

Gespannt auf die letzte Karte, richtete sie ihren Fokus auf die schwarze Rückseite. Für gewöhnlich zeigte sie stets den Ritter der Münzen, der auf Beständigkeit verwies. Darauf, dass alles so bleiben würde, wie es war.

Heute allerdings sah den beiden Frauen ein anderes Symbol entgegen. Cosimas sonst so glatte Stirn legte sich in Falten. „Die Welt." Ihr Tonfall war von Überraschung gezeichnet. Sie hob den Blick und traf den von Csilla, deren Herz laut in ihrer Brust hämmerte.
„Etwas fügt sich und wir erkennen endlich größere Zusammenhänge. Es kommt zusammen, was zusammen gehört. Eine positive Karte, die das Ende einer Lebensphase besiegelt und den Anfang von einem wichtigen neuen Zyklus ankündigt", leierte die Legerin die Bedeutung hinunter. 

Für einige Momente danach starrten die Frauen die offengelegten Karten an. Keine von ihnen rührte sich, bis Cosima ihre Stimme wiederfand. „Wer hätte das gedacht? Ich nicht, kleiner Feuervogel. Aber hab keine Angst, denn egal wie diese Veränderung aussehen mag, sie wird etwas Gutes nach sich ziehen." Lächelnd schob sie die Karten wieder zusammen und legte sie auf den Rest des Decks.

Doch Csilla wollte nicht, dass sich etwas änderte. Ihre Finger wanderten zu ihrer Brust, spürten den wild trommelnden Rhythmus ihres Herzens. Es sollte alles so bleiben, wie es war! Denn so war es gut!

Cosima schien ihr Unbehagen zu spüren. Zumindest umfasste sie Csillas Hand, die noch immer auf dem Tisch zwischen ihnen ruhte und schenkte ihr ein zuversichtliches Lächeln. „Komm schon, Csill, wo ist denn dein Optimismus hin verschwunden?" Der Honig in ihrer Stimme entfaltete seine Wirkung, spannte seine klebrigen Fäden in Csillas Brust und verlangsamte ihren Puls.

„So ist es gut." Cosima nickte ihr zu. „Lass es einfach auf dich zukommen. Es kann nur besser werden, stimmt's? Das predigst du zumindest einem jeden von uns, sobald er den Kopf in den Sand steckt. Die letzte große Veränderung war die beste deines Lebens. Außerdem ist jetzt, in diesem Moment, doch alles wie gehabt. Oder sieht hier irgendetwas anders aus als sonst?"

Der Rauch des Duftstäbchens waberte zwischen ihnen durch das Zelt, die Kerzenflammen flackerten in ihrer Beständigkeit weiter, das Silber der Tischdecke schimmerte wie das Licht des Mondes und Cosimas Züge waren wie immer weich, wenn sie Csilla bedachte.
Sie atmete tief durch und entzog sich dann der weichen Hand der Kartenlegerin. Anschließend nickte sie. Cosima hatte recht und verdammt, eigentlich wusste Csilla es doch selbst, dass Neuerung etwas Positives bedeuten konnten. Zudem war die Welt keine negative Karte und Csilla vertraute auf Cosimas Gabe.

Ja. Es würde alles gut werden. Ganz sicher. Das Schicksal hatte sie bereits mit so viel Pech und Elend überhäuft, dass davon gar nichts mehr übrig sein konnte.
Ein zaghaftes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

Im nächsten Moment drangen Geräusche von draußen zu ihnen ins warme, gemütliche Zeltinnere. Ein lautes Wirrwarr an fremden Stimmen. Franklin musste die Tore für diesen Abend geöffnet haben und die ersten schaulustigen Besucher drängten sich am Hauptgeschehen des Jahrmarktes vorbei, auf den kleinen abgesperrten Platz, der nur der Freak-Show gehörte.

Cosima richtete ihr hauchdünnes Gewand, dann die goldenen Locken. Ein selbstsicheres Grinsen erhellte ihre Züge. „It's Showtime, Baby."

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