All die schönen Dinge

(Anmerkung: Diese Kurzgeschichte habe ich für die Sommerchallenge 2024 von zehnbrieffreunde geschrieben und mich für den oben eingefügten Prompt 2 entschieden.
Edit: Ich habe es doch tatsächlich geschafft, irgendwie den dritten Platz zu ergattern, es freut mich total, dass die Geschichte so gut angekommen ist!)

***

Fühlt es sich so an, erwachsen zu werden?
Ändert sich das Leben einfach von einem Moment auf den anderen?
Ändert sich gar nichts?
Passiert es einfach und man ist der Zuschauer in seinem eigenen Film?
Gibt es irgendeine Anleitung zum Glücklich werden?

Der Sommer als ich 18 wurde"

Hört sich magisch an, oder? Titel des nächsten American High-School Films, voller Klischees, Problemen, die keine sind und dem strahlenden Hollywood Happy End.

Oder wie wäre es damit: Ein dramatisches Lied über die erste Liebe, die man nicht vergisst, klangvolle Geigenmusik und zu viel Retro Filter für den Nostalgie Effekt.

Mit sehr viel Fantasie könnte es sogar ein Gedicht werden, wunderschön - oder kitschig, das ist Ansichtssache – über das Erwachsenwerden und das Besondere am Sommer.

Um diese Träume mal ganz kurz zu zerstören: Herzlichen Willkommen in der Realität. Im echten Leben, sieht das nämlich ganz anders aus.

Hier liege ich also, vor kurzem erwachsen geworden, an einem Strand irgendwo in Griechenland und grüble buchstäblich über den Sinn des Lebens nach.

Wieso klingt das nur so negativ?
Wieder einmal sind Literatur und Medien schuld, denn wenn dort jemand über den Sinn des Lebens nachdenkt, dann findet er normalerweise keinen und naja... das wars dann.

Können wir dem nicht einen positiveren Beigeschmack geben? Sowas wie, den Sinn des Lebens finden?

Seufzend vergrabe ich meine Finger im warmen, weichen Sand, lausche dem Rauschen des Meeres und dem Lachen der Menschen um mich herum, als sich plötzlich jemand neben mich fallen lässt.
Ein wenig erschrocken nehme ich die Sonnenbrille ab und setze mich auf.
Neben mir hat sich eine junge Frau niedergelassen, dunkle Locken, Grübchen, blitzende, dunkle Augen, ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht.

Ich erkenne sie, sie arbeitet als Kellnerin im Hotel und ist immer ausgesprochen nett. Sie kommt ursprünglich aus Athen, spricht kein Wort Deutsch, dafür aber einigermaßen gut Englisch und redet wie ein Wasserfall.

Ich merke, wie sich meine Laune direkt bessert, neben so einem Sonnenschein kann man einfach nicht ernst und grüblerisch sein.

Als sie mich fragt, was um Himmels willen los sein kann, dass ich an einem Tag wie heute so ein Gesicht ziehe, kann ich ihr keine Antwort geben, ich weiß es ja selber nicht. Als würde das alles erklären, meine ich bloß, ich sei vor kurzem 18 geworden. Anscheinend erklärt das für sie wirklich alles, denn sie lächelt mich vorsichtig an und nickt wissend.

Eine Weile sagt keiner von uns beiden ein Wort und wir versinken in einvernehmliches Schweigen.
Irgendwann stupst sie mich an und meint auf Englisch zu mir: „Ich bin eine gute Zuhörerin, weißt du."

Ich weiß nicht, was mich letzten Endes dazu bewegt hat, ihr mein Herz auszuschütten. Ich kenne sie nicht und vermutlich sehen wir uns auch nicht wieder, aber vielleicht war genau das der Grund dafür.

Sie kann nicht über mich urteilen, weil sie sonst nichts über mich weiß, sie könnte es niemandem weitersagen, den ich kenne, denn wir sind Fremde füreinander. Vielleicht liegt es auch an ihrer offenen und ehrlichen Art, die sie zu der Sorte Mensch macht, die man zwar nicht oft findet, der man aber sofort vertraut und damit selten enttäuscht wird.

Sie hört mir stillschweigend zu, unterbricht mich kein einziges Mal und sagt, als ich geendet habe, eine Weile lang gar nichts.

„Müsste ich nicht überglücklich sein? Wann hat das Zauberwort „Erwachsen" seinen Reiz verloren?", frage ich ratlos.

Sie lacht, dann meint sie: „Lass mich raten: Du hast gedacht, dass ab da ein neues Leben beginnt? Das die ganze Welt auf einmal völlig anders ausschaut?"
Ich lege den Kopf schief und denke nach, bevor ich zustimmend nicke.
„Ja, aber willst du überhaupt, dass sich die Dinge so drastisch ändern?"
„Genau das versuche ich herauszufinden, seit ich hier liege.", ich schaue auf meine Armbanduhr, „Also seit etwas mehr als vier Stunden."

„Ob du es glaubst oder nicht, ich war genau so wie du. Ich dachte auch, jetzt muss doch was passieren, jetzt muss sich doch was ändern und als alles beim Alten geblieben ist, war ich ratlos. Ich kenne das Gefühl, nicht mehr weiter zu wissen. Ich kenne es immer noch." Ich blicke sie ein wenig erstaunt an, sie wirkt als wäre sie bereits funkensprühend und energiegeladen auf die Welt gekommen, und sie fährt fort.

„Jetzt bin ich 22, habe diese Denkweise zum Glück größtenteils hinter mir gelassen und mein sorgfältig ausgearbeiteter Plan, der mein gesamtes, restliches Leben bestimmen sollte, ist mittlerweile hoffentlich zu einem schönen, bunten Partyhütchen recycelt worden. Bloß weil du nicht jeden Schritt geplant hast, heißt das doch nicht, dass du die Kontrolle verloren hast."

„Wie kann ein einziger Mensch in den paar Minuten so viel Lebensweisheiten von sich geben?", frage ich halb bewundernd, halb perplex.

Sie lacht, bevor sie aufsteht und meint, sie müsse wieder zurück ins Hotel.

Ich bleibe noch eine ganze Weile liegen und lasse mir ihre Worte durch den Kopf gehen, bis ich merke, dass es mir tatsächlich besser geht.

Als ob wir uns verabredet hätten, treffen wir uns am nächsten Tag an derselben Stelle.
Und am übernächsten Tag.
Und am Tag darauf.

Wir reden viel, versuchen gemeinsam Antworten auf Fragen zu finden, die uns beschäftigen, versuchen, in allem das Positive, das Schöne zu sehen.

Sie hat ein Spiel daraus gemacht, mit mir gemeinsam alles aufzuzählen, das schön ist.
Wir legen uns in den Sand, beide mit Sonnenbrille und Sonnenhut bewaffnet und hören erst wieder auf, wenn ihre Schicht anfängt.
Am Anfang ist es mir schwergefallen, müsste man nicht erst einmal definieren was „Schönheit" ist? Was es bedeutet? Was es für jeden individuell bedeutet?
Ohne meine Einwände zu beachten, hat sie mir eine Hand voll Sand unter die Nase gehalten. „Das hier ist schön." Langsam lässt den Sand durch ihre Finger rieseln, bis nichts mehr übrig ist. „Was wäre ein Urlaub hier, ohne die Strände?"

Ich muss ihr zustimmen, überlege eine Weile und mache dann weiter. „Das Meer. Es wirkt so unendlich, so atemberaubend. Es ist eine eigene Faszination für sich."
Sichtlich erfreut, dass ich den Sinn hinter diesem Spiel begriffen habe, macht sie mit dem Himmel weiter.
„Die Muscheln"
„Die vielen Fische"
„Die Sandburg da vorne, jemand hat sich sehr viel Mühe gegeben."
„Das alte Ehepaar dort drüben, ich frage mich, wie sie sich kennengelernt haben. Wie sie es geschafft haben, so lange miteinander glücklich zu bleiben."
„Das Kind mit dem Eis. Manchmal ist es so einfach jemanden glücklich zu machen."
„Siehst du den kleinen Krebs? Er hat keine Ahnung was für Probleme es überall auf der Welt gibt, er lebt einfach ohne Nachzudenken, er lebt instinktiv."

Am Ende der Woche frage ich mich, wie viel Schönes ich übersehen hätte, wenn ich die Kellnerin nicht getroffen hätte.
Sie hat mir ihren Namen nicht genannt, ich ihr meinen auch nicht, wir haben in stillem Einverständnis beschlossen, nicht weiter in das Privatleben des Anderen einzutauchen.

Es mag seltsam klingen, aber genau dadurch konnten wir uns alles sagen, über alles reden, eine Freundschaft auf Zeit sozusagen.
Obwohl ich mir sicher bin, dass es so am Besten ist, bin ich an meinem letzten Tag ein wenig melancholisch.
Als ich mich -natürlich am Strand- von ihr verabschiede, umarmt sie mich fest und überreicht mir lächelnd einen vollgeschriebenen Zettel.

Ich erkenne sofort, um was es sich handelt: Sie hat alles aufgeschrieben, was wir bei unserem Spiel zusammengetragen haben, eine Liste all der schönen Dinge, die wir gesehen oder erlebt haben.
Daran, dass verschiedene Stifte verwendet wurden, erkenne ich, dass sie wohl schon am ersten Tag damit angefangen haben muss.

„Damit du nichts davon vergisst.", erklärt sie. „Ich wünsche dir alles Gute!"
In diesem Moment bin ich kurz davor sie zu bitten, in Kontakt zu bleiben.

Doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht macht deutlich, dass sie hofft, ich würde genau das nicht tun. Ich kann sie sogar verstehen, nach Allem was sie mir erzählt hat, ist es nur zu verständlich. Sie kann mir wohl nur so lange vertrauen, wie sie weiß, dass ihre Erzählungen bei mir sicher sind -sprich, zusammen mit mir tausende Kilometer entfernt. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass mich das nicht verletzt, aber ich werde die letzte Person sein, die es ihr noch schwerer macht.

Also umarme ich sie ein letztes Mal, bedanke mich und verstaue die Liste sorgsam in meinem Rucksack, bevor ich mich umdrehe und auf das wartende Taxi zu laufe. Ich öffne die Türe, drehe mich noch einmal um, doch sie ist, ohne zurück zu blicken, in Richtung Meer gelaufen.

***

Das ist jetzt mittlerweile Jahre her, aber ich denke manchmal immer noch an Sie. Die Liste hängt seit meiner Rückkehr über meinem Schreibtisch, als Erinnerung daran, was das Leben alles bereithalten kann, als Motivation und manchmal auch einfach als Anlass für Träumereien.

Ich hätte nie gedacht, wie viel Einfluss diese zwei Wochen in Griechenland auf mein Leben danach haben könnten, aber sie hat es irgendwie geschafft meine Sichtweise auf das Leben innerhalb dieser Tage völlig zu verändern, etwas, dass ich die 18 Jahre zuvor versucht und nicht geschafft habe.

Ich frage mich, ob sie weiß, wie sehr sie mir geholfen hat.
Ich frage mich, wie es ihr inzwischen geht.
Ich frage mich, ob ihr auch helfen konnte.

Ich weiß es nicht und ich werde es auch nie erfahren, aber ich hoffe es.


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