Kapitel 62: Alles ist gut

„Alex!", rufe ich und stürme ihm hinterher.

„Jetzt warte doch!", schreie ich erneut, als ich kurz vor der weit aufgestossenen Haustüre schlitternd abbremse.

Zu meiner Überraschung hält Alex, der bereits auf halben Weg zu seinem Auto ist, Inne, dreht sich um und sieht mich mit schmerzhaft zusammengezogenen Augenbrauen an.

Trotz der Entfernung sehe ich die Tränen in seinen Augen glitzern und von der Welle des Mitleids und der plötzlichen Zuneigung zu Alex überkommen, sprinte ich die lange polierte Treppe bis zu Alex hinunter und bevor ich es mir anders überlegen kann, umarme ich ihn fest.

Überrascht erwidert er nicht sofort die Umarmung, drückt mich dann jedoch nur noch fester an sich, als wäre ich ein Rettungsring, an den er sich klammert, um nicht in den Tiefen seiner Trauer zu ertrinken.

„Tut mir Leid, I-Ich ...", stottert er entsetzt und lässt von mir ab, als wäre er plötzlich wieder zu Besinnung gekommen.

Bevor er jedoch wieder davonrennen kann, packe ich ihn mit einem unerwartet festen Griff am Arm und sehe ihm offen ins Gesicht.

„Ich weiß es.", flüstere ich und höre dabei deutlich, wie er scharf die Luft einzieht.

Seine Augen weihten sich erschrocken und Stille tritt ein.

Nach einer Weile des Anstarrens sagt schließlich Alex ruhig:

„Wie wäre es mit einem Spaziergang? Ich habe gerade eher weniger Lust Essen zu gehen und Kimberly und Nate werden sich wohl nicht über einem Teller Spagetti Carbonara die Augen ausstechen."

Ich grinse und auch Alex lasse ich ein schwaches Lächeln von den Lippen abringen.

„Das klingt perfekt und du hast Recht, die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich gering.", antworte ich zwinkernd.

-

„Hallo Schönh-"

„Jen!", kreischt Kimberly dazwischen, schubst Nate grob aus dem Weg und umarmet mich so stürmisch, das es so scheint, als hätten wie uns seit Monaten nicht mehr gesehen.

„Kimmy, was zum-", setzte ich lachen an, aber Kimberly unterbricht mich.

„Test bestanden.", flüstert sie so leise in die Umarmung hinein, dass es keiner außer mir versteht und nur diese zwei kleinen Wörtchen steigt ein unbeschreibliches Gefühl in meine Brust, dass es mir scheint, als könnte ich buchstäblich ein paar Zentimeter über dem durch verschüttete Softdrinks klebenden Boden schweben.

Strahlend löse ich mich von ihr und sehe dann zu Nate, der eindringlich mit Alex redet und wild gestikulierend auf die verschiedenen Film-Banner über der Kasse deutet, wo die recht gelangweilte Kartenverkäuferin mit verschränkten Armen sitzt und die beiden Jungen aus ihren kleinen Knopfaugen heraus bei ihrem hitzigen Streit beobachtet.

Ich sehe Kimberly an und im selben Moment brechen wir beide in in lautes Gelächter aus.

-

„Willst du mir jetzt sagen, warum du mich mit deiner verrückten Freundin beim Essen allein gelassen hast?", raunt Nate, nachdem er sicher gegangen ist, dass Kimberly und Alex, die ein paar Plätze neben uns sitzen, in ein Gespräch vertieft sind, und sieht mich stirnrunzelnd über die fröhlich vor sich hin dudelnde Melodie der Werbung einer neuen Eissorte hinweg an.

Ich schlucke die Portion Popkorn herunter und wende meinen sehnsüchtigen Blick schließlich eher widerwillig von der Leinwand ab.

„Erstens, ist sie nicht verrückt.", ich besehe ihn mit einem strengen Blick, „Du solltest mal ihre Mutter kennenlernen.", füge ich ernst hinzu und Nate lacht laut auf.

„Zweitest", fahre ich fort und sehe dabei kurz zu Alex hinüber, „Wir waren lange spazieren gehen und sind danach noch kurz zu mir nach Hause gegangen. Ich habe ihm erzählt, dass ich von seinem Vater und dieser ganzen Sache weiß - keine Sorge er ist nicht sauer auf dich, wenn du das denkst - und wir haben einfach geredet. Ich glaube es tat uns wirklich gut."

Nate lächelt, legt dann einen Arm um meine Schulter und zieht mich näher an sich heran, sodass mir sein unglaublich anziehender Geruch sofort in die Nase steigt, und ich mich entspannt gegen seine Brust lehnen kann.

„Das freut mich, Jennifer.", sagt er und drückt mir liebevoll einen Kuss auf meinen Haaransatz, während die Schar Schmetterlinge in meinem Bauch aufgeregt mit ihren Flügeln zu schlagen beginnen.

Später, wenn Nate und ich alleine sind, werde ich ihm von meiner Mutter erzählen, aber für den Augenblick, habe ich einfach das Gefühl, alles würde wieder gut werden.

Und ich habe mich nicht getäuscht - denn als Kimberly, Alex, Nate und ich nach Ende des Films schließlich vor dem Kino stehen, spüre ich mein Handy in meiner hinteren Hosentasche vibrieren und ziehe es heraus. Ich gebe meinen Code ein und lese dann die Nachricht.

Matt: Kimberly hat mich überredet. Ich werde ihn nicht verpfeifen.

Ich sehe zu Kimberly.

„Ich weiß nicht. Ich finde der Film hatte positive Elemente, aber bitte! Elefanten, die plötzlich - Alles okay, Jen?", fragt sie mit besorgtem Blick und ich wische mir rasch die Augen an meinem Handrücken.

„Ich - Ich fand es nur so traurig am Schluss, dass die Eltern ihr Kind nicht mehr wiedergefunden haben.", schniefe ich und sehe zu der Runde auf, die mich alle mit großen Augen beobachten, „Und ich bin einfach glücklich.", füge ich strahlend hinzu, wobei mir eine weitere Träne die Wange hinunter kullert.

„Ich denke der Einfluss meiner Mum bekommt ihr nicht gut.", überlegt Kimberly mit gerunzelter Stirn und ich lache leise, während mich Nate behutsam an sich zieht, „Ja, eindeutig. Für die nächste Zeit kein Eintritt in die Irrenanstalt der Villa Fall, verstanden Fräulein?"

Alle lachen, auch ich lache, denn zum ersten Mal seit einer langen Zeit bemerke ich, wie frei ich mich plötzlich fühle, als wäre eine unglaublich schwere Last von meinen Schultern genommen worden.

Ich bin wunschlos glücklich.

Alles ist gut.

-

„Danke, dass du so schnell gekommen bist, Ash.", ertönt die weiche Stimme einer Frau und augenblicklich taucht das flammende Rot ihrer Haare die verschwommene Szenerie in ein warmes Licht.

Das lodernde Feuer im steinernen Kamin erhellt das Zimmer und wirft sein Licht auf einen kleinen Schreibtisch, der mit Blättern und Akten übersät ist. Auf einem weiteren, viel kleineren Tischchen stehen einige Bilderrahmen, von denen die meisten ein strahlendes Pärchen, eine schlanke rothaarige Frau und ein großer, eher schlaksiger schwarzhaariger Mann, mit einem kleinen, ebenso schwarzhaarigen Mädchen zeigen. Alle außer einem, das nicht auf dem Tisch, sondern auf dem Kaminsims steht. Das goldeingerahmte Bild zeigt ein ungefähr fünf oder sechs jähriges Mädchen, das eine große pinke mit Plüsch und Glitzer bedeckte Schultüte in der Hand hält und stolz in die Kamera winkt. Sie hat rötlich braunes Haar und weiche, braune Augen, die jedoch ein wenig dunkler sind, als die ihrer Mutter. Das Mädchen könnte in diesem Augenblick nicht glücklicher gewesen sein.

„Was ist passiert?", fragt die Frau namens Ash mit den blonden, lockigen Haaren und in ihrer Stimme schwingt deutlich Besorgnis mit.

Ohne zu antworten umarmt die rothaarige Frau ihre Freundin, die sie immer noch aus ihren stechend grauen Augen heraus besorgt mustert und die beiden setzten sich daraufhin an den kleinen, mit Dokumenten übersäten Tisch.

„I-ich ...", schluchzt die Rothaarige und ihre dunkelbraunen Augen schwimmen in Tränen, „Ich darf dir eigentlich das alles gar nicht erzählen ... aber ich muss wissen, dass jemand da ist, w-wenn ... u-um sich um Jane zu kümmern."

Sie bricht in Tränen aus und das Rot ihrer Haare scheint ein wenig ihre leuchtende Farbe zu verlieren.

„Lil, sag mir jetzt auf der Stelle was los ist!", wiederholt die Frau namens Ashley erneut, diesmal vehementer, legt ihre Hand auf die ihrer Freundin und drückt sie kurz.

„I-Ich will nicht, dass ... Jane ...", sagt sie mit abgehackter Stimme und hebt ihr schönes, aber tränenüberströmtes Gesicht, „... was ist, wenn - E-Emma"

„Shh.", tröstet sie ihre Freundin und nimmt sie in den Arm, „Sag mir erst mal, was passiert ist - Janie wird es gut gehen, das verspreche ich dir, Lilian."

Lilian atmet einmal tief und rasselnd durch und flüstert dann mit so zerbrechlicher Stimme, das man meinen könnte, sie würde jeden Moment das Bewusstsein verlieren:

„Alles, was du wissen musst ist, dass wir ihm dicht auf den Fersen sind und ich denke ... ich denke, er weiß es. Er-", beginnt sie, wird aber von der anderen Frau in scharfem Ton unterbrochen.

„Was?"

Lilian schluckt und sieht ihrer Freundin dann direkt in die Augen.

„Je mehr wir versuchen ihn in die Hände zu bekommen, desto näher scheint er auch uns zu kommen. Seit-", sie bricht kurz ab, wirft dem Bild auf dem Kaminsims einen kurzen Blick zu und fährt dann fort, „Seit Emma fort ist, haben wir jetzt schon den Fall und versuchen seine wahre Identität herauszubekommen. Er ist hinter uns her.", sie räuspert sich und sagt dann mit noch heftiger zitternder Stimme:

„I-ich will, dass du Jane morgen früh mitnimmst. Ich muss wissen, dass sie sicher ist - ich muss wissen, dass es ihr gut geht. Sie und Damian sind alles, was ich habe, alles, was mir noch bleibt - ich kann nicht beide verlieren. Jane ist ein ungewöhnliches Mädchen und ich weiß, dass sie eine unglaubliche Zukunft vor sich hat, auch wenn ihre Eltern nicht darin sind - ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um sie zu beschützen. Ich will, dass es ihr gut geht."

„Lilian ...", schluchzt die Frau und Tränen strömen aus Augen hervor und rollen ihr übers Gesicht.

„Ist das ein Ja? Ashley!", drängt die Frau mit dem flammend rotem Haar und obwohl ihre Stimme fest ist und sich ihre haselnussbraunen Augen in die Grauen ihrer Freundin gebohren zu scheinen, ist ihr Gesicht vor Tränen nass.

„J-ja.", antwortet Ashley zitternd und sofort scheint die Anspannung aus Lilian's Gesicht zu weichen.

„Gut.", flüstert sie und streicht sich das rote Haar aus den Augen, "Ich möchte, dass du das hier behältst."

Sie reicht ihr einen braunen, länglichen Umschlag, auf dem in unordentlicher Schrift und in schwarzer Tinte etwas geschrieben steht, es jedoch zu verschwommen ist, um es zu entziffern.

"Was ist das?", fragt die Andere erstaunt, während sie ein Taschentuch aus ihrer Handtasche kramt.

"Die Akte, die ich und Damian über ihn angelegt haben. Es steht nicht alles drin, das wäre zu gefährlich, wenn etwas mit ihr passiert, aber das Wichtigste. Ich möchte, dass du sie morgen früh bevor du Jane holst bei einer Kollegin vorbeibringst; die Adresse steht auf der Rückseite."

"Warum machst du es nicht selbst, Lil?"

"I-ich ... wir haben heute noch etwas zu erledigen b-bevor ..."

Plötzlich gibt die Tür ein lautes Knarzen von sich und die Köpfe der beiden Frauen wirbeln herum.

„Janie, was machst du denn hier?", fragt die Frau mit den langen roten Haaren liebevoll und geht auf das kleine schwarzhaarige Mädchen zu.

„Waum weeinst du?", will die Kleine ruhig wissen und sieht sie mit gerunzelter Stirn an, dann jedoch fällt ihr Blick auf die blonde Frau und ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.

„Tante Ash!", kreischt das Kind vergnügt und klettert flink auf den Schoß der Frau.

„Na, wer ist denn da?", fragt Ashley mit gespielter Verwunderung und lässt sich von dem Mädchen einen Kuss auf die Wange geben, „Hast du mich auch brav vermisst, Janie?", fragt sie in dem Versuch ihre übliche Stimme, mit der sie immer mit dem kleinen Mädchen spricht, zu treffen, jedoch ist ihre Stimme höher und bebt leicht.

„Ja!", ruft das Kind und setzt plötzlich eine ernste Miene auf, „Wauum bis du traurig?"

„Manchmal sind Erwachsene, wie Ash und ich, nunmal traurig, Sweetheart. Verstehst du?", mischt sich die Mutter ein und lächelt ihre Tochter warmherzig an.

Das kleine Mädchen schüttelt verwirrt den Kopf und dreht sich um, als ein großer Mann mit zerzaustem, pechschwarzen Haar hereinkommt.

"Ach, da ist ja meine kleine Prinzessin.", ertönt die tiefe, freundliche Stimme ihres Vaters dicht an ihrem Ohr.

Das Licht wird langsam gedämpft und die Szenerie verschwimmt immer mehr. Das weiche und unbeschwerte Lachen des Vaters verwandelt sich Stück für Stück in ein kaltes und höhnisches Lachen eines anderen Mannes.

Schließlich ist alles ist schwarz.

"Du hast Glück.", zischt der Mann mit eiskalter Stimme, sodass einem das Blut in den Adern gefriert, und für eine Millisekunde flackert ein grelles, weißes Licht auf, sodass sein Gesicht erhellt wird.

Strähniges, braun blondes Haar und ozeanblaue Augen.

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