Kapitel 6: Die ersten, kleinen Lügen
„Kimmy?", flüstere ich knapp zehn Minuten später.
„Jenny?", kommt es aus dem Handy, „Sag mir ja nicht, dass du schon wieder zu Hause bist!", sagt sie in bedrohlichem Ton und ich könnte schwören zu hören, dass sie mit den Zähnen knirscht, wie immer, wenn ihr etwas nicht passt.
„Kannst du noch rüber kommen? Bitte.", bettle ich.
„Bin unterwegs.", antwortet sie knapp und ich atme erleichtert aus.
„Danke! Ich hab dir echt ne Menge zu erzählen."
„Kein Problem, aber mach dich gefasst, dass ein missgelaunt brummender Pumpkin mitkommt." - „Hör auf mich so zu nennen!", höre ich Matts beleidigte Stimme und ich lache.
An dem Tag, als Matt ein paar Häuser neben Kimberly eingezogen ist, war ich gerade bei ihr zuhause. Also haben wir beschlossen zusammen mit ihrer Mom nach neben an zu gehen um den neuen Nachbarn zu begrüßen und sie in der Nachbarschaft willkommen zu heißen.
Kimberly's Mutter, eine unglaublich liebe, aber auch eine sehr chaotische Frau mit Stimmungsschwankungen, wie eine schwangere Frau, die gleichzeitig ihre Tage hat, hatte ein paar Blaubeer-Muffins aus einer Fertig-Backmischung gebacken. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen, wie sehr Kimberly und ich Angst hatten, dass jemand dadurch ernsthaft krank werden könnte, da die Muffins auf unerklärlicher Weise gleichzeitig verbrannt und nicht ganz gar schmeckten.
Also sind wir mit dem Korb Muffins nach drüben gegangen und wurden sofort von Matt's Eltern zum Mittagessen eingeladen. Dabei hat uns Matt's Mutter ein Baby Bild von Matt gezeigt als er vielleicht ein oder zwei Jahre alt war, wie er grinsend in einem riesigen Kürbis sitzt, in dem zwei Löcher unten geschnitten wurden, wo er seine kurzen Beinchen herausstecken kann. Und da das englische Wort für Kürbis, Pumpkin ist, heißt Matt seit diesem Tag an bei uns Pumpkin.
„Klar bis gleich!", kichere ich und lege auf.
Ich lege mein Handy auf mein Bett und beginne dann mich auszuziehen, um mein klatsch nasses Kleid und die durchweichte Unterwäsche gegen trockene Kleidung zu tauschen.
Als ich mich schließlich in einer grauen Jogginghose und einem schwarzen ausgebeultem T-Shirt wieder aufs Bett fallen lasse, habe ich zum ersten Mal an diesem Abend das unglaublich wohlige Gefühl von Ruhe. Keine betrunkenen Leute sind um mich herum, keine laute Musik droht mir das Trommelfell zu zerreißen, keine dunkelhaarigen Jungen - Nein, es ist einfach ruhig und still.
Heute Abend ist so vieles passiert, aber letzten Endes ist doch noch alles gut gegangen oder?
Ich habe das Gefühl etwas Schweres läge in meinem Magen, vielleicht ein ungutes Gefühl? Mein Kopf brummt und meine Emotionen sind so derartig durcheinander, dass ich jetzt nicht einmal mehr weiß, ob mir gerade zum Lachen oder zum Weinen zu Mute ist.
Ich hab es nicht gern, wenn Leute denken, sie sehen unter meine Maske und mein wahres Ich, vergiss das nie.
Ja, das hatte er gesagt. Aber was soll das heißen? Heißt es, dass ich falsch liege und er doch kein selbstverliebter Idiot ist? Oder heißt es, dass er möchte, dass jeder denkt, er wäre genau das? Nein, ausgeschlossen. Meint er, dass dieser Nate, den ich bis jetzt kennengelernt habe, gar nicht sein wahres Ich ist oder - Aber diese Frage wird mir abgenommen, da es bereits an der Tür läutet und ich aufstehen muss, um Kimberly und Matt hereinzulassen.
„Hey!", sagt Kimmy mitfühlend und umarmt mich heftig.
„Hey danke, dass ihr gekommen seid. Ich hab euch echt eine Menge zu erzählen.", erwidere ich und umarme Matt flüchtig, der tatsächlich äußerst missgelaunt und grantig wirkt.
„Kein Problem, wir haben dir noch was mitgebracht!", flötet Kimberly und schlackert mit einer großen Tüte Gummibärchen herum, auf der in großen Lettern 1 Kilo steht.
„Danke! Ihr seit die Besten!", seufze ich beglückt und beäuge die Gummibärchen mit einem sehnsüchtigen Blick.
„Ja toll.", murrt Matt genervt, aber Kimmy schubst ihn nur mit einem Klaps auf seinen Allerwertesten ins Haus und schließt hinter ihm die Tür.
„Miss Jennifer? Wer.", Marisol taucht gerade mit einem bodenlangen Nachthemd und einem Haarnetz auf dem Kopf am Treppenansatz auf und schaut auf uns herunter.
„Oh Miss Kimberly und Mr Matt, schön Sie zu sehen!"
„Tut mir Leid, Marisol, dass wir Sie aufgeweckt haben, aber Sie können wirklich ruhig wieder ins Bett gehen!", meint Kimmy höflich und lächelt die Haushälterin freundlich an.
Ich kann mir ganz genau vorstellen, was meine liebe Mutter jetzt sagen würde, wenn sie Kimberly, Matt und mich in diesem Moment sehen würde, wie wir munter plaudernd ein ganzes Kilo Gummibärchen vernichten.
„Jennifer! Oh nein! Weißt du denn nicht wie viele Kalorien das hat? Ach je und ganz zu schweigen von dem tonnenweise Zucker, den du in dich reinstopfst! Ach je und das noch am Abend! Das ist es, was die zusätzlichen Kilos bei dir verursachen! Oh je, oh je, wie sollst du so denn bitte jemals einen Ehemann finden mit deiner Figur?"
Ja ... genau das würde meine Mutter jetzt sagen und irgendwie hat sie auch ein kleines bisschen Recht. Ich bin nicht dünn oder sehr schlank wie Kimberly mit ihrer Größe 34 oder höchstens 36. Und ich bin auch keine 50 Kilo schwer und im Cheerleader Team. Und genauso wenig bin ich beliebt oder würde jemals zur Homecoming Queen gewählt werden.
Meine Mutter hingegen verkörpert all das: In meinem Alter war sie gertenschlank, nicht dass sich jetzt daran etwas geändert hätte, und unglaublich sportlich durch das viele Cheerleader Training. Oh ja, sie war Cheerleaderin, aber nicht irgendeine, sie war Kapitänin des damaligen Harvard-Westlake Teams und hat unzählige Pokale und Wettbewerbe dadurch gewonnen. Außerdem war sie unglaublich beliebt, wurde tatsächlich fast jedes Jahr zur Homecoming Queen gekrönt und hatte als Freund einen Football-Spieler.
Er wurde dann auch Ehemann Nummer 1, von dem sie sich dann ziemlich schnell wieder getrennt hat, weil er ihr nicht vermögend genug war und hat dann Mann Nummer 2, dem sie jetzt zwei Yachten und ein Strandhaus in den Hamptons verdankt, in ihrem 2. Semester an der Harvard Universität kennengelernt. Mit ihm blieb sie sogar relativ lange zusammen, beinahe zwei Jahre. Nun ja und dann kam Ehemann Nummer 3, nope immer noch nicht mein Vater, den sie aus dem Yacht-Club kannte. Natürlich hat es mit den beiden auch nicht wirklich hingehauen, schließlich war er nur Teilinhaber einer Firma und nicht der CEO, also dachte sie wohl der beste Freund von ihm, der tatsächlich CEO einer sehr erfolgreichen Immobilien-Firma ist, wäre wohl der perfekte Ehemann Nummer 4. Mein Vater.
„Okay, es war riesig, beeindruckende Architektur bla bla bla, komm auf den Punkt, Jen!", drängt Kimberly und wirft mit ein paar Gummibärchen nach mir.
„Hey, ist ja gut! Kein Grund mich mit Gummibärchen zu bewerfen! Noch dazu mit Gelben!", gebe ich naserümpfend zurück.
„Also wir sind dann in so einen anderen Raum gegangen, wo die eben Wahrheit oder Pflicht gespielt haben und", Kimmy und Matt tauschen unheilvolle Blicke aus, "Naja wir haben da dann mitgespielt.", ende ich und Kimberly seufzt.
„Und was ist dann passiert?", fragt sie und sieht mich dabei mit äußerst leidendem Gesichtsausdruck an.
„Das Spiel war echt komplett anders als wir es spielen und naja ziemlich widerlich.", gebe ich kleinlaut zu und schiebe mir zwei rote Gummibärchen in den Mund.
„Wie oft bist du dran gekommen?", will sie wissen und es hört sich an, als würde sie, während sie spricht, die Luft anhalten.
„Einmal."
Kimberly atmet erleichternd aus und schließt kurz die Augen. Matt liegt immer noch neben ihr stumm auf dem Rücken und stopft sich weiter munter Süßigkeiten in den Mund.
„Was hast du genommen?"
„Pflicht"
Sie öffnet wieder ihre Augen und starrt mich entgeistert an.
„Oh ...", beginnt sie, aber langsam reißt mir der Geduldsfaden.
„Denkst du wirklich Wahrheit ist besser, Kimmy?", blaffe ich sie an, "Dann hätten sie mich weiß Gott was gefragt und dann wüsste am Montag spätestens die ganze Schule, dass ich noch Jungfrau bin. Nein noch schlimmer, dass ich sogar noch nie einen Jungen geküsst habe."
„Was wäre denn schon so schlimm daran?", meldet sich Matt plötzlich zu Wort und Kimberly und ich starren ihn ungläubig an.
„Was schlimm daran wäre?", flüstert Kimberly und sieht mich alarmiert an.
„Matty, ich weiß du bist anders als die anderen in der Schule, aber die meisten sehen Jungfräulichkeit mehr wie eine Krankheit. Wenn das jemand von denen erfährt ...", beginne ich aber halte Inne, "Egal ... naja ich musste eben einen Würfel würfeln und dann dementsprechend viele Kleidungsstücke ausziehen."
Kimmy schlägt sich schockiert die Hand vor den Mund.
„Es laufen hier keine Kameras, Jen-Jen. Komm zum Punkt.", meint Matt etwas grob und schiebt sich weiter Gummibärchen in den Mund. Ich funkle ihn böse an, er grinst.
„Ich habe eine Zwei gewürfelt und habe dann Schuhe und mein Kleid ausgezogen.", ich breche ab und bedecke mein Gesicht mit den Händen, da mir die Peinlichkeit und Bloßstellung immer noch tief im Nacken sitzt.
„Oh Gott.", flüstert Kimberly mitleidig und drückt meine Hand mitfühlend.
„Hattest du wenigstens gute Unterwäsche an?", fragt Matt stirnrunzelnd und erntet sogleich empörte und wütende Blicke von Kimmy und mir.
„Ist ja gut, okay? Ich bin schon still.", grummelt er und hebt ergeben die Hände.
„Danke.", zischt Kimberly und sieht mich dann wieder an, "Okay was ist dann passiert?"
„Eigentlich nicht allzu viel ...",
In Wirklichkeit brenne ich darauf, meiner besten Freundin zu erzählen, wie Nate Scarlett küssen musste, wie schlimm es war, so lange seinem intensiven, unglaublichen Geruch ausgeliefert zu sein, wie ich mir in diesen drei Minuten unablässig gewünscht hatte, die Flasche hätte auf mich anstatt auf den Zentimeter weiter rechts neben mir gezeigt. Aber ich lasse es bleiben, da ich mir keine ewigen Moralpredigten von meinen besten Freunden anhören will, wie schlecht Nate doch für mich ist und dass ich so etwas nicht denken soll.
Aber denke ich denn wirklich so? Ich weiß, dass er ein arroganter, selbstverliebter Junge ist ... wenn er nur nicht diese Augen hätte, die sogar im Dunklen leuchten, die so smaragdgrün sind und ich jedes Mal das Gefühl habe, in dessen Tiefe wie in einem Strudel hineingezogen zu werden.
Ich räuspere mich und fahre dann fort:
„Naja, also Alex und ich haben dann noch ein oder zwei Runden weiter gespielt und sind dann auch irgendwann wieder raus. Ich weiß nicht wie viel später, auf jeden Fall war ich gerade mit einem Mädchen, das neben mir saß, während dem Spiel, auf der Tanzfläche und da kommt Alex zu uns, frag mich nicht wie er uns in dem Getümmel gefunden hat, und sagt, ob es okay wäre, wenn er gehen würde."
„Nein.", ruft Kimy ungläubig, aber ich nicke nur, „Was für ein behinderter A-"
-„Ich habe euch ja gesagt, dass dieser-", setzt Matt an, aber Kimberly's Geschimpfe, "Wir wollen deine tragische Football-Geschichte nicht hören.", lässt ihn verstummen.
„Nein, so weit würde ich nicht gehen. Ich meine er hatte sicher seine Gründe ... er sah wirklich nicht gut aus, total bleich und kränklich ... wer weiß, vielleicht hat er etwas falsches gegessen.", verteidige ich ihn, obwohl ich mir nichtmal ganz sicher bin, warum ich ihn in Schutz nehme.
„Der Typ ist Arsch, Jen-Jen. Versteh's einfach.", sagt Matt mit fester Stimme, "Ein Junge sollte auf das Mädchen aufpasse. Er holt sie von zu Hause ab und bringt sie dann auch wieder sicher zurück. Alles andere ..." Er sieht Kimberly von der Seite aus an und für ein paar sehr stille Sekunden starren sie sich einfach nur gegenseitig an.
Ich räuspere mich, um den beiden zu signalisieren, dass sie nicht alleine im Raum sitzeb und die beiden scheinen wie aus ihrer Trance aufzuschrecken.
Es wundert mich ehrlich gesagt nicht. Irgendwie habe ich erwartet, dass die beiden sich irgendwann näher kommen würden - näher als nur Freunde. Ich weiß nur nicht, ob ihre Freundschaft eine Trennung verkraften könnte. Bereits in der Vergangenheit haben sich die beiden so fürchterlich gestritten , dass sie wochen-, nein sogar monatelang nicht mehr miteinander gesprochen gar sich angesehen haben.
„Ja ... ehm ... sehr lieb von dir Matty. Wie auch immer, er ist dann einfach rausgerannt, ich bin ihm hinterher, aber als ich draußen war ...", ich seufze, "war das Auto schon weg.", nuschle ich und muss mit wachsender Verlegenheit daran denken, wie ich den armen Kellner über den Haufen gerannt habe.
„Ganz ehrlich, Jen, aber wie langsam warst du bitte? Ich habe dir schon oft genug gesagt, dass wir gerne mal zusammen joggen gehen könnten.", sagt Kimberly vorsichtig und ich verziehe das Gesicht.
„Nein, danke. Ich bin in einen Kellner gerannt, das ist alles.", gebe ich säuerlich zurück.
„Starke Leistung. Echt, starke Leistung.", prustet Matt und krümmt sich vor Lachen.
„Vielen Dank.", fauche ich zurück und schenke ihm einen vorwurfsvollen Blick.
„Ja, ja und dann?", drängt Kimberly und sieht mich wie gebannt an, „Wie bist du nach Hause gekommen?"
„I-ich ... ehm ... also dieser ... Nate Dylan hat mich gefahren.", antworte ich ganz langsam und wie als würde mit einem fürchterlichem Knall der Korken aus einer Sektflasche springen, ist auf einmal alle Spannung aus der Luft gewichen und anstelle davon ein Durcheinander an Geschimpfe und Vorwürfen von Matt und Kimmy aufgetreten.
„Du warst doch diejenige, die meinte" - „Und ich hab dir doch erzählt, was mit dem Coach" - „wegen ihm musstest du doch Nachsitzen" - „und generell total selbstverliebt und" - „wie kannst du nur, ich dachte"
„Du hasst ihn.", enden beide im Chor und ich sehe beide nacheinander an.
„Also erstens: Ja ich hasse ihn.", beginne ich, „Und zweitens: Was hatte ich denn schon für eine Wahl, ha? Alex war weg und Nate hat mir angeboten mich heimzufahren. Fertig. Denkt ihr wirklich, ich hätte da wählerisch sein können? Und außerdem ... ich ... ach, ich weiß auch nicht, aber ich glaube er ist gar nicht so schlimm, wie wir denken."
„Ach Jen, das sagen sie immer.", sagt Kimberly nach kurzer Stille und sieht mich mitleidig an, „Pass nur auf, dass deine Schwärmerei für ihn auch nur das bleibt, ja? Eine Schwärmerei."
„Ich schwärme nicht für ihn!", protestiere ich und verschränke trotzig die Arme vor der Brust.
„Tu dir selbst einen Gefallen und hör auf dich selbst anzulügen, Jenny. Versteh mich nicht falsch, in jemanden verknallt zu sein ist nichts Schlimmes ... ich will nur nicht, dass du verletzt wirst, OK? Jungen wie Nate ... sie verursachen nur Ärger und am Schluss ein gebrochenes Herz. Halt dich einfach von ihm fern, ja?", erwidert sie und Matt nickt eifrig.
„Ich bin wirklich nicht in Nate verliebt! Er hat mich doch nur heimgefahren, um Gottes Willen!", wiederhole ich und werde zunehmend ungehaltener.
Was glauben die eigentlich, wer sie sind, dass sie besser über meine Gefühle Bescheid zu wissen scheinen, als ich selbst?
Kimberly stöhnt und sieht zu Matt, der nur traurig den Kopf schüttelt.
„Wenn du meinst.", seufzt sie und sieht mich an, wie jemand, der einen todkranken am Sterbebett besuchen würde.
„Ja, das meine ich.", sage ich hartnäckig und mit eiserner Miene-
„Wir haben dich gewarnt, Jen.", meint Matt vorsichtig und Kimmy nickt langsam.
Ja, das haben sie ...
________♡______
Hat es euch gefallen? Diesmal nicht ganz so spannend, aber naja kann es ja nicht immer sein ... ;)
Ich hab ab nächsten Montag wieder Schule und da geht dann so richtig die Klausurenzeit bei mir los ... Nur dass ihr wisst, dass ich dann eben natürlich nicht mehr fast jeden Tag updaten kann....
♥︎Danke für's Lesen♥︎
-x Eliana
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top