Kapitel 47: Wenn die Uhr Mitternacht schlägt
Obwohl Fiona's Worte mir Mut machten, kann man zwei Tage später nicht auch nur den Anflug des Drangs nach einer plötzlichen Aussprache bei Nate entdecken. Er ist wie eh und je: Unergründlich, maskenhaft und fast noch kontrollierender als sonst. Nur einen Unterschied gibt es zu seinem üblichen Ich: Er redet nicht mit mir und behandelt mich wie Luft.
"Aber was hast du denn gedacht, Jen?", fragt Kimberly aufgebracht und schlackert missbilligend mit ihren Fingern.
"Ich weiß nicht.", seufze ich und stütze meinen Kopf auf den Handflächen auf, was jedoch dadurch nur noch unbequemer wird, da ich somit den Hals recken muss, um auf den Bildschirm des Computers zu sehen.
"Ich dachte einfach ... keine Ahnung.", murmle ich und wippe nervös auf dem Schreibtischstuhl auf und ab.
"Süße, sei mir nicht böse, dass ich das sage, aber ... wir haben ... nun ja ...", sie zögert und beißt sich auf die Unterlippe.
"Wir haben dich gewarnt.", meldet sich Matt nun zu Wort und sein leicht verschwommenes und ruckelndes Gesicht erscheint auf dem Bildschirm.
Ich runzle die Stirn.
"Wann habt ihr mir je gesagt, dass Nate mich mit nach Dallas zu seiner Schwester nehmen wird, mir aber den eigentlichen Grund dafür verschweigt, den ich dann sofort herausbekomme, wir uns deswegen fürchterlich streiten und er mich dann zwei Tage später immer noch ignoriert?", gluckse ich und bemerke, wie Kimberly mit den Augen rollt.
"Wir haben dir gesagt, dass der Kerl nur Ärger machen wird, was ja auch stimmt."
Ich brumme nur missgelaunt als Antwort, da ich nur ungern zugeben möchte, dass Kimberly völlig Recht hat und starre mit finsterem Blick gegen die Raufasertapete, die mir nun viel interessanter als gewöhnlich erscheint.
"Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt, Jen-Jen.", sagt Matt und diesmal bin ich diejenige, die mit den Augen rollt.
"Naja Themawechsel.", sagt Kimberly mit einem begeisterten Blick und etwas zu hoher Stimme, "Lexi hat gestern einen riesigen Aufstand in der Mensa gemacht, weil ich ihr gesagt habe, dass du mit Nate für diese und nächste Woche weg bist wegen einem Praktikum.", ihr Grinsen wird hinterlistiger, "Sie ist schreiend und tobend schnurstracks zum Direktor gerannt."
Matt lacht leise.
"Sie hatte anscheinend einen ganz schönen Wutausbruch in seinem Büro.", fährt Kimberly langsam fort, "Auf jeden Fall darf sie für den nächsten Monat Kaugummireste von den Tischen abkratzen."
"Perfekt.", presse ich unter meinem Lachanfall heraus.
"Ja mum warte wir sind gleich da.", ruft Matt über die Schulter jemandem zu, den ich nicht sehen kann und richtet sich dann wieder der Kamera zu.
"Lass uns morgen wieder skypen ja, Jen?", sagt Matt knapp und ich nicke.
"Schick mir eine SMS, wenn es angekommen ist!", quiekt Kimberly vergnügt und im nächsten Moment wird der Bildschirm schwarz.
Ich starre einige verwirrte Sekunden lang auf den Bildschirm und stehe dann auf. Ich bücke mich und krieche unter den Schreibtisch, um die große, altmodische Box mit dem Auschaltknopf zu erreichen.
"Scheint als hättest du zwei wirklich nette Freunde, Jenny.", sagt plötzlich eine Stimme hinter mir und ich wirble herum, vergesse dabei jedoch völlig die Holzplatte, die nur einige Zentimeter über meinem Kopf schwebt.
Ein lautes Krachen ertönt, als ich mit meiner Schädeldecke schmerzhaft stark gegen das Holz schmettere.
"Autsch.", fluche ich und presse die Augen vor Schmerz fest zusammen.
"Tut mir Leid, ich wollte ich nicht erschrecken! Alles in Ordnung, meine Liebe?", ruft George erschrocken und hilft mir auf die Beine.
"Alles gut.", keuche ich mit fest zusammengepressten Zähnen und reibe mir den Kopf.
"Sicher, Liebes? Wir haben noch jede Menge Steak in der Tiefkühltruhe.", sagt er besorgt und sieht mich wie ein fürsorglicher Vater an, dessen dreijähriges Kind eben vom Fahrrad gestürzt ist.
Ich starre ihn entgeistert an.
"Steak?", überlege ich und runzle die Stirn ob dieser Ungewöhnlichkeit.
"Ja mir geht es gut, aber ich habe vorhin schon gegessen.", antworte ich bemüht normal und nicht so, als würde ich mich um seine psychische Verfassung sorgen.
"Doch nicht zum essen!", prustet George lachend, "Zum Kühlen."
"Oh.", murmle ich und lächle beschämt, "Nein danke."
Der restliche Tag vergeht zäher als die letzten, da Fiona nur gearbeitet hat und ich somit keine Beschäftigung außer das kurze Skypen mit Kimmy und Matt hatte. Nate bleibt den ganzen Tag über in seinem Zimmer und kam nicht einmal zum Essen heraus, obwohl das ganze Haus in einem wohligen Duft aus frischem Gemüse und Steaksoße getaucht war, das einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lief.
Ohne meinen Notizen, Büchern und Lernmaterialien fühle ich mich merkwürdig nackt, nicht ich selbst, wie ich den ganzen Tag mit den Hunden spiele, Fernsehe und wortwörtlich auf der faulen Haut liege. Ich bin es gewohnt, einen durchstrukturierten Tagesplan zu haben, sodass ich höchstens zwei bis drei Stunden Freizeit zwischen dem Lernen habe. Aber jetzt habe ich kein Lernen. Natürlich, ich könnte auch ohne Bücher und nur durch das Internet lernen, aber das wäre sinnlos, nicht wahr? Was wenn Wikipedia einen fatalen Fehler hat und ich etwas lerne, das falsch ist? Oder die Lehrer erst mit einem anderen Thema weitermachen? Nein. Das Risiko möchte ich schier nicht eingehen.
Oft denke ich daran, aufzugeben. Nate aufzugeben. Das alles, Texas aufzugeben und einfach einen Flieger nach Hause zu nehmen.
"Sobald der Sturm vorbei ist, wirst du dich nicht mehr daran erinnern können, wie du es geschafft hast, zu überleben. Du wirst nicht die gleiche Person sein, wenn du wieder zurück kommst. Du bist dir nicht einmal ganz sicher, ob der Sturm überhaupt vorbei ist, aber eins kannst du dir immer sicher sein: Du wirst auch den noch so heftigsten Sturm überleben, weil es immer Leute gibt, wie Mommy und Daddy, die dich vor allem Unwetter da draußen beschützen werden.", sind die Worte, die mir jedes Mal in den Sinn kommen, wenn ich daran denke, aufzugeben.
Die ruhige Stimme des Mannes klingt sanft, wie eine leichte Brise über dem ruhigen Meer, seine Worte klingen so vertraut, als kenne sie jede einzelne Faser meines Körpers in und auswendig und doch unendlich fern, wie aus einem längst vergessenen Traum.
*
Tick. Tack. Tick. Tack.
Leise, fast metronomisch erklingt das ruhige Ticken der Wanduhr in dem kleinen, düster wirkenden Zimmer, aber die Frau, die an einer der Kommoden kniet, hört es nicht. Ihr langes, feuerrotes Haar scheint den Raum, in dem nur eine einzige, dunkle Lampe auf dem blätterübersäten Schreibtisch steht, in dämmriges Licht zu tauchen.
Sie streicht sich beiläufig eine Haarsträhne aus den Augen, während sie fieberhaft die kleine Truhe zu ihren Füßen durchwühlt.
Plötzlich gefriert sie in ihrer Bewegung. Sie hält den Atem an, jedoch ohne sich auch nur einen einzigen Millimeter zu bewegen.
Tick. Tack. Tick. Tack.
Die Uhr tickt leise im hinteren Eck des schäbigen Zimmers, aber wieder nimmt es die Frau nicht wahr.
Eine Träne fällt auf den Zettel, den sie mit ihrer zitternden Hand umklammert und bildet einen nassen Tropfen auf dem Papier.
"Mommy? Mommy weinen?", erpiepst die hohe Stimme eines Mädchens hinter ihr und sie dreht sich um, während sie mit einer Hand ihre Tränen wegwischt.
"Mommy weint nicht, Jane. Es ist alles gut.", sagt die Frau und lächelt ihr Kind mit solch Wärme und Liebe an, dass das dunkle Zimmer auf einmal viel heller und einladender erscheint.
Sie legt rasch den Zettel hinter sich auf einen der wackligen Stapel auf dem Schreibtisch und hebt dann ihre Tochter hoch.
"Es ist spät, Janie. Du wirst morgen tot-müde sein und das willst du doch nicht an deinem ersten Tag in der Tageskrippe oder?" (A/N: Das Kind ist hier etwa 1-2 Jahre alt, d.h. es darf noch nicht in den Kindergarten, die Eltern arbeiten, also geht das Kind dann in eine Art "Krippe")
"Hmm.", erwidert das Mädchen unter einem gewaltigen Gähnen und die Mutter lächelt.
Sie gibt ihrer Tochter einen zarten Kuss auf das pechschwarze Haar und verlässt dann den Raum mit dem fast schlafenden Mädchen an ihrer Brust.
Kurz bevor das Kind von wohligem Schlaf umhüllt wird, wirft sie einen letzten Blick auf das Zimmer hinter ihrer Mutter und ist dann eingeschlafen.
Tick. Tack. Tick. Tack.
Eine kühle Brise zieht durch das dunkle Haus und in das düstere Zimmer, sodass es die leise tickende Wanduhr für einen winzigen Moment zu unterbrechen scheint. Die Stapel Papiere und Akten erzittern leicht unter der kurzen Berührung des Windstoßes und ein Zettel, nein eine kleine Karte wird von einem der Papiertürme durch den Wind gerissen und wie eine Feder, segelt sie langsam immer tiefer durch die kühle Luft, bis sie schließlich sanft den Boden berührt.
Tick. Tack. Tick. Tack.
Tick.
Tack.
Tick.
"RUMPS!"
Ich schlage mit rasendem Herzen die Augen auf und starre einige Sekunden lang verängstigt gegen die Decke, unbändig mich zu bewegen.
Gerade, als ich mich dazu überreden will, dass ich das laute Geräusch nur geträumt habe, ertönt es wieder, diesmal lauter.
Ich schlüpfe rasch aus dem Bett und schalte die kleine Lampe auf meinem Nachttisch an. Ich beachte die alarmierende Uhrzeit auf meinem Wecker nicht, sondern tapse so leise wie möglich durch das Zimmer bis zur Tür. Ich öffne sie beinahe lautlos und schleiche auf den Flur.
"RUMPS!"
Ich halte die Luft an und drehe mich entsetzt in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Nate's Zimmer.
Ich beiße mir auf die Lippe.
"Hol Fiona und George! Es könnte ein Einbrecher sein! Hol sie, das ist zu gefährlich, Jen!", brüllen tausend Stimmen in mein Ohr und ich schließe kurz die Augen.
Es könnte zu spät sein, wenn ich erst Fiona und George hole.
Dieser Gedanke ist es, der mich nicht anders und doch so unglaublich dumm handeln lässt.
Auf Zehenspitzen stehle ich mich bis zu Nate's Tür und drücke dann vorsichtig die Klinke herunter.
In diesem Moment hätte ich alles erwartet. Eine Kapuzengestalt, die auf einen leblosen Nate eindrischt, ist noch eines der harmloseren Bilder, die sich in meinem Kopf abspielen. Jedoch hätte ich niemals mit dem gerechnet, was sich direkt vor meinen Augen ergibt.
Das Zimmer ist in gleißendes Mondlicht getaucht, sodass man den Jungen, der mit dem Rücken gegen die Wand kniet, gut erkennen kann. Sein dunkles Haar ist in alle Richtungen verstrubbelt und sein nackter Oberkörper zittert, während das Geräusch seiner am Boden scheuernden Knie durch das Auf- und Abwippen durch den Raum hallt.
"Bitte.", entfährt Nate ein leiser Schluchzer und dieser Klang ist es, das mir das Herz in einem mal bricht.
Er klingt wehrlos, verängstigt und ... verletzlich.
"Nate.", hauche ich und trete einen Schritt auf ihn zu, aber er bewegt sich nicht vom Fleck, "Es ist spät, du solltest-"
"Ich wollte das nicht. Bitte. Es tut mir Leid!", flüstert er und ich höre ihn wieder schluchzen.
"Nate.", seufze ich und knie mich hinter ihn, aber wieder scheint er mich nicht zu bemerken.
Ich bewege mich ein wenig, sodass ich einen Blick auf sein Gesicht habe.
Ich schlucke schwer.
Er schläft.
Seine Augen sind geschlossen, jedoch kullern Tränen in Strömen über sein Gesicht und prallen schließlich auf seinem Oberkörper auf.
"ES TUT MIR LEID!", brüllt er so plötzlich, dass ich vor Schreck aufspringe.
"Ich wollte das nicht. Bitte.", krächzt er erneut und weint dabei so erbittert, dass auch mir die Tränen in die Augen steigen.
"Bitte.", weint er und schlägt ohne Vorwarnung seinen Kopf mit aller Gewalt gegen die Wand.
"Nate, es ist alles gut. Ich hab dich. Du bist bei mir.", flüstere ich und knie mich wieder zu ihm.
Mit meinen Armen umschlinge ich seine Taille und lege meinen Kopf auf seiner Schulter ab.
"Shh. Ich bin hier.", murmle ich und spüre wie sich Nate's Muskeln langsam wieder entspannen.
Er weint leise, während sein Atem jedoch immer ruhiger und langsamer geht.
"Es ist alles meine Schuld. Bitte. Du musst mir verzeihen.", schluchzt er erneut und ich schlucke heftig.
"Ich verzeihe dir. Komm, stehen wir auf.", flüstere ich und danke insgeheim Kimberly, dass auch sie hin und wieder schlafwandelt und ich somit weiß, wie man mit so jemandem in dieser Situation umgehen muss.
Nate gehorcht mir und steht mit ein wenig Hilfe auf.
"Ich führ dich jetzt zu deinem Bett.", hauche ich und ich sehe wie Nate stumm nickt, während ihm immer noch endlose Tränen über das Gesicht rollen.
Ich führe ihn am Arm wieder zu seinem Bett und drücke ihn sanft ihn die weichen Kissen zurück. Ich decke ihn zu und will mich gerade umdrehen, um selbst wieder ins Bett zu gehen, als mich eine Hand am Arm gepackt, am Gehen hindert.
Ich sehe erstaunt zu Nate herunter, dessen Augen immer noch geschlossen sind.
"Bitte.", flüstert er und eine Träne kullert dabei auf seine vollen Lippen, "Bleib, Jennifer."
"Ich werde nicht gehen. Niemals.", hauche ich.
_______♡________
So meine Lieben, das war's wieder!♥︎
Ich hoffe wirklich, es hat euch gefallen und ich würde mich echt super freuen, wenn ihr mir ein Vote dalässt und mich in den Kommentaren unten wissen lasst, was ihr von dem Kapitel haltet!♥︎♥︎
Was geht euch durch den Kopf wenn ihr das Kapitel lest?
Habt noch einen wunderschönen Tag/Nacht (*zuzwinker*)♡
Bis Bald, Eliana
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top